Flucht vorm Pietcong
Weil viele ihrer Bilder von Facebook und Co. immer wieder gelöscht werden, sind die Wiener Museen jetzt auf der Pornoplattform OnlyFans. Das ist womöglich auch ein Kollateralschaden post-autonomer Kunstverständnisse.
Wer heute ihre Gemälde sieht, könnte meinen, sie stammten aus dem Atelier eines Mannes. Oder genauer und der jüngsten Identitätsnomenklatur zufolge: eines Cis-hetero-Mannes. Nackte, vollbusige Schönheiten in lasziven Posen und psychedelischen Farben – so stellte die belgische Pop-Künstlerin Evelyne Axell in den 1960er Jahren Frauen dar. Auf selbstbewusste, lustvolle Weise zeigte sie, dass der erotisiert-erotisierende Blick auf weibliche Körper nicht Männern vorbehalten ist. Und weil Axell vom Surrealismus beeinflusst war, umflort eine traumartige Aura ihre Pop-Pin-Ups.
Im Jahr 2016 spielten diese kunsthistorischen Details für Facebook eine, gelinde gesagt, marginale Rolle. Axells harmloses Gemälde Ice Cream (1964) – eine Frau leckt an einer Eiskugel – wurde mit der Begründung zensiert, es zeige „exzessive Mengen an Haut oder anzüglicher Inhalte“. Aktuell haben die Wiener Museen ein ähnliches, von der internationalen Presse genüsslich aufgegriffenes Problem: Facebook und TikTok löschen ihre Nacktkunstwerke. Ob die 25 000 Jahre alte Venus von Willendorf oder Nobuyoshi Arakis etwas jüngeren Bondage-Models – am algorithmenbewehrten Wächterrat des digitalen Pietcong ist kein Vorbeikommen. Nackt ist nackt, Kunst hin oder her.
You pay a price
Also taten die Wiener, was jeder vernünftige Mensch in dieser Situation tun würde: Sie wichen auf die für Amateurpornographie bekannte Plattform OnlyFans aus. Dort können die paläolithischen Hintern und zeitgenössischen Schnürschenkel unzensiert geteilt werden. Dass die sozialmediale Schmuddelecke zur Rettung freizügiger Hochkultur avanciert, weil ein paar sinokalifornische Staats- und Monopolkapitalisten eher Schamhaar als Hitlerbärtchen anrüchig finden, ist nur vordergründig ironisch. Die Wiener Posse zeugt davon, dass der Geist der Liberalität oft in anrüchigen Nischen Asyl erhält, wenn der Mainstream Ausschlussmechanismen produziert.
Im Zirkus des frühen 20. Jahrhunderts etwa avancierte die Kraftathletin Sandwina zum Star, während in der Alltagskultur Frauen noch als fragile Hausengel galten. Der Gangsta-Rapper Ice-T verband in den 1990er Jahren mit HipHop und Metal zugleich die Subkulturen von Weißen und Schwarzen, die andernorts mit essentialistischer Verve auseinanderdividiert oder in naiver Multikulti-Ästhetik wie Legosteine kombiniert wurden. In der Schweiz berief sich jüngst die feministische Grünliberale Sanija Ameti auf den Porno-Unternehmer Larry Flynt – ausgerechnet bei ihrem Einsatz gegen die Volksinitiative „Ja zum Verhüllungsverbot“, im Volksmund „Burka-Verbot“ genannt. Im Februar schrieb sie auf Twitter: „Larry Flint [sic], Herausgeber des Pornomagazins Hustler, hat für die Freiheit gekämpft: 'You pay a price for freedom, you have to tolerate things you don't necessarily like'." Zu diesen „things“ gehören für Ameti gleichermaßen Porno wie Burka.
Proust nur noch auf Pornhub?
Wenn schrille Pornographie verbreiten zu dürfen Ausdruck von Liberalität ist, was verrät dann die Zensur des Bilds einer eiskugelleckenden Frau oder die Ungeheuerlichkeit urzeitlicher Steinbrüste über die Zukunft der Freiheit im nominell liberalen Westen? Wohl wenig Gutes. Einschränkend muss hinzugefügt werden, dass öffentlich zu Schau gestellte Nacktheit nicht zwingend ein Zeichen von Liberalität ist, ob in der Kunst, in der Populärkultur oder in corpore. Galt Nacktheit in den 1960er und 1970er Jahren als Ausdruck gegenkultureller, nicht zuletzt feministischer Freiheitsliebe, so wurde sie um 1900 für völkisch-eugenische Zwecke vereinnahmt – für FKK-Apostel wie Richard Ungewitter oder Hans Surén bedeutete Hüllenlosigkeit, dass Körper flugs auf Makel gescannt werden konnten. Auslese leicht gemacht! Keine unliebsamen Überraschungen im Bett!
Wie dem auch sei: Es ist nicht gänzlich auszuschließen, dass dereinst aus Online-Bibliotheken entfernte, weil von einer Künstlichen Intelligenz als anstößig klassifizierte Werke der Literatur nurmehr via PornHub-Live-Cams verlesen werden; dass inkriminiertes, von Suchmaschinen zensiertes Vokabular als Lustruf von Darstellern auf Kopulationskanälen ausgestoßen werden wird; dass Ausstellungen spätimpressionistischer Malerei, die den Verzehr von Gurken, Maiskolben oder Thüringer Bratwürsten beinhalten, von der Tate Modern auf das Imageboard 8kun.top ausweichen müssen.
Kunstverständnis mit Kollateralschaden
Vielleicht macht sich hier ein Kollateralschaden post-autonomer Kunstverständnisse bemerkbar. Wollten Künstler und Intellektuelle der Postmoderne nicht die Grenzen zwischen „High and Low“ einreißen? Wenn Kunst aber keine epistemologische Sonderstellung mehr genießt, warum sollte Nacktheit in der Kunst anders behandelt werden als in der Porno- oder Erotikbranche? In dem Moment, da volle Gleichheit zwischen „High“ und „Low“ erreicht wäre, passte kein Blatt Kleenex mehr zwischen den antiken Marmorpimmel und den heutigen Blitzkrieg mit dem Fleischgewehr. •
Jörg Scheller ist Professor für Kunstgeschichte an der Hochschule der Künste in Zürich. Zuletzt erscheint von ihm „Identität im Zwielicht. Perspektiven für eine offene Gesellschaft“ (Claudius-Verlag, 2021) und „Bodybuilder“ (Wagenbach, 2021).