The Glory: Freuden der Vergeltung
Gerade hat die zweite Staffel der Netflix-Serie The Glory begonnen. Thema ist der Rachefeldzug einer einstmals gemobbten Schülerin. Der Zuschauer erlebt ihre grausamen Taten mit Freude und Zustimmung. Wie ist das zu erklären, wo doch die Moderne die persönliche Rache längst für unmoralisch befunden hat?
In der Netflix-Serie The Glory steht die auf Rache sinnende Protagonistin Dong-eun im Zentrum der Handlung. Gleich zu Beginn wird gezeigt, welchen Grausamkeiten sie als junge Frau an der Schule ausgesetzt war. Darunter sind Szenen, in denen ihr von einer Gruppe wohlhabender und sadistischer Mitschüler mit Bügel- und Glätteisen schwere Verbrennungen zugefügt werden. Doch weder die Lehrer noch ihre Mutter schreiten ein. Als einziger Ausweg bleibt ihr nur der Schulabbruch. An dieser Stelle kommt es zu einem Wendepunkt: Das Gefühl des Ausgeliefertseins weicht dem brennenden Wunsch, sich später einmal zu revanchieren. Über zwei Jahrzehnte hinweg schmiedet sie einen ausgeklügelten Plan, wobei sie jede ihrer Handlungen der Vergeltung unterordnet. Ihr Ziel ist es, das Leben ihrer Peiniger von innen heraus zu zerstören. Dabei scheut sie sich nicht davor, auch deren unbeteiligte Familienmitglieder und Bekannte wie Marionetten in ihr Spiel einzubeziehen. Derart vorgehend, kehr sie die Aggressionsrichtung sukzessive um, sodass die Leidbringenden zu Leidenden werden. Aus der einstigen Ohnmacht erwächst eine Obsession, und schließlich die Vorstellung einer Omnipotenz. Das Bemerkenswerte: Obwohl die Protagonistin zu einer Täterin avanciert und unschuldige Menschen in ihren Rachefeldzug involviert, erlebt man als Zuschauer kaum Ablehnung gegenüber ihren Taten. Im Gegenteil: Es kommt zu einem Moment der Identifikation, ja sogar der Freude über ihre Racheakte. Doch weshalb können wir grausame Rache, die unseren modernen Moralvorstellungen zutiefst widerspricht, derart bejahen?
Gut und schlecht
Möglicherweise wird hier ein anderes Moralverständnis in uns angesprochen, nämlich eines, welches die Welt nicht in die ethischen Gegensätze von „gut und böse“, sondern in „gut und schlecht“ einteilt. So schreibt Friedrich Nietzsche in der Genealogie der Moral über den „schlichten Menschen“, dass ihm die Mittel fehlen, sich zu rächen; entweder aufgrund äußerer Zwänge oder aufgrund seiner gesellschaftlichen Position. Das Wort schlecht bezeichne laut Nietzsche „ursprünglich den schlichten, den gemeinen Mann, noch ohne einen verdächtigenden Seitenblick, einfach im Gegensatz zum Vornehmen“. Insofern das Bedürfnis nach Rache als ein allgemeines Kriterium der menschlichen Psychologie aufgefasst wird, billigt Nietzsche dem „Herrenmenschen“ in Jenseits von Gut und Böse einen besonderen Umgang mit ihr zu. Während nämlich ein schlichter Mensch die Sehnsucht danach, ein erlittenes Unrecht zu vergelten, unterdrücken muss oder durch Ressentiment stillt, besäße der Herrenmensch die Macht, kraft seiner Überlegenheit die Vergeltung souverän und offen auszuleben. Mit Nietzsche könnte man also sagen, dass Dong-eun zunächst in der Position eines schlichten Menschen ist, da sie die Rache ob ihrer gesellschaftlichen Stellung und Hilflosigkeit unterdrücken muss. Denn weder hat sie die Mittel noch die Macht, sich in irgendeiner Weise zu revanchieren. Mit der Zeit jedoch gewinnt sie an Souveränität, die sie braucht, um sich an ihren Peinigern zu rächen. Dafür bündelt sie all ihre Kräfte und geht äußerst besonnen und taktisch vor. Auch laut Nietzsche ist man gut beraten, mit der Rache so lange zu warten, „bis man die ganze Hand voll Wahrheiten und Gerechtigkeit hat und sie gegen den Gegner ausspielen kann, mit Gelassenheit: sodass Rache üben mit Gerechtigkeit üben zusammenfällt“. Indem sie ihren Vergeltungsplan umsetzt, und so die Gewaltrichtung umkehrt, erhebt sie sich gewissermaßen vom schlichten Menschen zum Herrenmenschen.
Seelische Qualen
Selbst wenn uns Nietzsches Vorstellungen veraltet oder falsch erscheinen mögen, so können wir durch Serien wie The Glory doch erahnen, welcher psychische und physische Preis für unterlassene Rache zu zahlen ist. Denn Rache, so betont Nietzsche, ist ein physiologisches Bedürfnis: „Wer ein Unrecht erduldet und es nicht vergelten darf“, werde gleichsam krank an Körper und Seele. Dass sich eine nach außen gerichtete, aber unterlassene Aggression nach innen kehrt und krank macht, beschreibt auch Sigmund Freud in Das Unbehagen in der Kultur. In seiner Triebtheorie geht er davon aus, dass die Aggression und der Todestrieb angeborene Dispositionen seien, die neben dem Eros, der dem Lustprinzip folgt, ein unvermeidlicher Teil des Menschen sind. Wenn nun die Aggression weder durch kulturelle Praxen sublimiert noch nach außen entladen werden kann, dann richtet sie sich zwangsläufig gegen das Individuum selbst. Ähnlich ergeht es auch der Protagonistin. Die schiere Machtlosigkeit, sich gegenüber ihren Peinigern zur Wehr zu setzen, lässt sie zunächst depressiv werden und treibt sie fast in den Suizid.
Zwar findet sie schließlich einen Weg, die Aggressionsrichtung umzukehren. Doch die Serie zeigt ebenso eindrücklich, dass auch die Rache keine wirkliche Erlösung vom Leid bedeutet. Wenngleich sie berechnend und kühl vorgeht, können ihre Vergeltungsakte ihren Zorn nicht abmildern. Anstatt zu vergeben, loszulassen und neu zu beginnen, ist sie weiterhin auf unheilvolle Weise an ihre Peiniger gebunden. Tragischer- und paradoxerweise bleibt sie auch als Täterin in der Opferrolle, deren Leben gänzlich im Dienst der Vergeltung steht. •
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