Gongbang: Zusammen ist man weniger allein
Bei einem aus Südkorea stammenden Trend streamen Studierende ihre Arbeit im Homeoffice live, um zumindest virtuell ein kollektives Lerngefühl zu erzeugen. Das verdeutlicht: Junge Menschen brauchen buchstäblich einen gemeinsamen Raum.
Für westliche Ohren mag es im ersten Moment nach einer Form besonders intimer Gruppenarbeit klingen. Aber weit gefehlt: „Gongbang“ hat nichts mit dem zu tun, was Liebhaber intensiver Körperkultur als „Gangbang“ bekannt sein dürfte. Also fast nichts. Denn zumindest wird beides in Gruppen ausgeführt. Gongbang ist eine Abkürzung für den koreanischen Ausdruck „gongbu bangsong“, was sich grob mit „Lernsendung“ übersetzen ließe und spätestens seit der Pandemie ein veritabler Trend ist. Doch worum genau geht es bei Gongbang?
Es handelt sich um Videos von Studenten, die sich beim Lesen, Lernen und Schreiben filmen und dies meist auch live streamen. Mit großem Erfolg: So hat beispielsweise der YouTube-Kanal The Man sitting next to me über 50.000 Abonnenten. Der Reiz der Gongbangs liegt darin, dass sich sowohl der Streamende wie auch die Zuschauer weniger einsam fühlen, während sie in ihren eigenen vier Wänden arbeiten. Schließlich sind die Universitäten vielerorts noch immer geschlossen, was Gruppenarbeiten in Präsenz unmöglich macht. Auch wenn das Phänomen auf den ersten Blick wie ein nischiger Trend anmuten mag, macht er tatsächlich eine wesentliche Dimension jeglicher Pädagogik deutlich, die der Schweizer Philosoph Jean-Pierre de Crousaz bereits im 18. Jahrhundert auf den Punkt brachte: Schüler lernen besser, wenn sie Verhaltensweisen anderer innerhalb einer Gruppe nachahmen können und gleichzeitig ihr eigenes Verhalten von Klassenkameraden gespiegelt bekommen.
Wie ein Netzwerk aus Pilzen
Dass Universitäten aktuell weder Kurse noch Seminare in Präsenz anbieten können, ist die eine Sache. Mindestens genauso schlimm ist für viele allerdings, dass auch die Bibliotheken und Cafés geschlossen sind und viele Schüler und Studenten deshalb alleine zu Hause arbeiten müssen. Nicht selten eingepfercht in zu kleine, zu dunkle und zu laute Wohnungen, in denen sie auch den Rest ihres Tages verbringen. Na und, könnte man sagen, ist ein Studium nicht immer eine ziemlich einsame Angelegenheit? Wer ein Buch lesen muss, ein Referat vorbereiten oder eine Hausarbeit schreiben soll, dem kann niemand die Arbeit abnehmen.
Das ist zwar in Teilen richtig, dennoch spielt die Umgebung, in der diese zumeist individuellen Tätigkeiten ausgeführt werden, eine entscheidende Rolle. Sowohl für Schüler als auch für Studenten kann die Anwesenheit anderer enorm wichtig sein. Genau das zeigt sich eben nicht zuletzt auch an der Popularität der Gongbang-Videos: Menschen holen sich lieber digitale Gesellschaft als ihre Aufgaben einsam zu verrichten. Ganz abgesehen davon, wie wichtig allein das Wissen darum sein kann, dass man im Zweifel eine andere Person um Hilfe bitten könnte, braucht das Studium im buchstäblichen Sinne einen gemeinsamen Raum, in dem Menschen wie Pilze scheinbar unverbunden nebeneinanderstehen, sich in Wirklichkeit aber durch ihre Aufgaben verbunden fühlen, sich gegenseitig wahrnehmen und in ihrer Präsenz unterstützen sowie voneinander lernen können. Ein Raum, der dieser Tage schmerzlich vermisst wird.
Nachahmung als Antrieb
Die aktuelle Situation hätte auch den bereits erwähnten Philosophen Jean-Pierre de Crousaz nachdenklich gestimmt. Er veröffentlichte nämlich 1722 eine Schrift mit dem Titel Traité de l’éducation des enfans (Abhandlung über die Erziehung der Kinder), in der es heißt: „Es ist gewiss, dass die Kinder vom Schulstoff viel mehr profitieren, wenn sie mit anderen lernen“. Der Schweizer Denker fährt fort, indem er das oft negativ genutzte Wort „nacheifern“ umdeutet und es als Antrieb zum Lernen versteht: „Der Anblick Gleichaltriger erweckt und belebt die Kinder auf andere Weise als die Gegenwart von Erwachsenen. Was sie andere Kinder leicht und kühn tun sehen, das sehen sie auch für sich als möglich an und versuchen es ebenso auszuführen. Deshalb ist es wichtig, den Kindern Kameraden und Spielgefährten zu geben.“
Zweifellos hatte Crousaz eher kleinere Kinder im Sinn, doch trifft seine Beobachtung auch auf Teenager und Studenten zu. Auch, weil sich die Definition der Kindheit in den letzten 300 Jahren stark verändert hat. Die Übergangszeit zum Erwachsenalter ist heute viel länger als damals und auch die Schulausbildung umfasst einen längeren Zeitraum. So wäre es im Sinne Crousaz', mehr aber noch im Sinne der Kinder, Jugendlichen und jungen Erwachsenen wichtig, sich ihrer Einsamkeit anzunehmen und sie nicht allein den notdürftigen digitalen Alternativen zu überlassen, mit denen sie, oft mehr schlecht als recht, versuchen klarzukommen. •