Stefan Klein: „Kreativ ist niemand für sich allein“
Hartnäckig hält sich die Vorstellung großer Genies, die Weltbewegendes allein aus sich selbst schöpften. Der Wissenschaftsautor Stefan Klein allerdings erläutert im Gespräch, warum nur Kollektive wirklich Neues erzeugen können.
Herr Klein mit Ihrem neuen Buch Wie wir die Welt verändern haben Sie eine Geschichte menschlicher Kreativität vorgelegt. Dabei halten Sie wenig von der Idee des Genies, das alles Neue aus sich selbst schöpft. Wie sollten wir Kreativität stattdessen verstehen?
Als einen kollektiven und kulturellen Prozess. Kreativität ist die menschliche Fähigkeit, Ideen hervorzubringen, die neu, überraschend und in irgendeiner Weise wertvoll sind. So lautet die allgemein anerkannte Definition. Und daran merkt man schon, dass es wenig Sinn macht, Kreativität individuell zu denken. Denn erstens wird, was als neu, überraschend und wertvoll gilt, immer kulturell entschieden. Zweitens ist zwar nicht zu leugnen, dass bestimmte individuelle Fähigkeiten bei der Kreativität eine Rolle spielen. Allerdings können Menschen nichts hervorbringen, wenn sie nicht auf das physische und geistige Material zurückgreifen, das ihnen von einer Kultur zur Verfügung gestellt wird. Kreativ ist niemand für sich allein.
Wie erklären Sie es sich, dass wir an der Idee großer Genies dennoch so lange festgehalten haben und dies in Teilen ja heute noch immer tun?
Zunächst ist diese Genievorstellung schon sehr alt. Bereits Platon vertritt die Auffassung, „dass nicht menschliche Kunst, sondern göttliche Kraft zu Schöpfungen befähigt“. Ein Gedanke, der in der Romantik sehr wirkmächtig wird und noch heute Einfluss hat. Das hat zwei Gründe. Zum einen gab es einfach lange keine bessere Erklärung als die Idee des Genies. Und wenn wir Menschen eines nicht gut aushalten, dann keine Erklärung für etwas zu haben. Bevor uns auf eine Warum-Frage eine Antwort fehlt, nehmen wir lieber eine Hypothese an, die wir nicht stichhaltig begründen können. Und in der Tat ist es schwierig, die komplexen Zusammenspiele zwischen kognitiven Leistungen, menschlicher Biologie, der Kultur etc. zu untersuchen und sich darauf einen Reim zu machen. Damit haben wir erst in den letzten 20 Jahren begonnen.
Und was ist der zweite Grund?
Menschen haben eine tiefe Sehnsucht nach personalisierten Geschichten. Das zeigt sich in der Religion, wo enorm komplexe Gedankengebäude auf die Figur eines Erlösers zusammengezurrt werden. Oder in der Politik, wo ganze Parteiprogramme mit Spitzenkandidaten identifiziert oder auch diesen auf den Leib geschneidert werden. Und so wünschen wir uns eben auch Helden der Kreativität – Menschen mit tatsächlich oder auch nur scheinbar ungewöhnlichen Talenten, mit deren Geistesblitze wir uns die großen Umbrüche der Kultur zu erklären versuchen.
Albert Einstein oder Marie Curie wären also einfach weniger spannend, wenn man an die enorme Unterstützung erinnern würde, die sie durch Kollegen und Familie erhalten haben?
So scheint es einigen vorzukommen. Für mich allerdings liegt genau hierin auch das Faszinosum dieser Personen. Sie gewinnen noch an Strahlkraft, wenn man sie im Kontext ihres Umfelds betrachtet und sieht, welche verschiedenen Einflüsse sie so effizient bündeln konnten. Ein anderes Beispiel, das ich ausführlich untersucht habe, ist Leonardo da Vinci. Lange wurden seine Leistungen als eine Art Wunder betrachtet. Sigmund Freud etwa nannte Leonardo einen Menschen, der auf unerklärliche Weise seiner Zeit voraus war, „in der Finsternis zu früh erwacht war, während die anderen noch alle schliefen.“ Aber die Wirklichkeit ist viel interessanter: Die Renaissance war eine Epoche dramatischer Veränderung auf fast allen Gebieten. Der Zerfall politischer Macht und der Aufstieg neuer Herrscherhäuser vor allem in Italien, neue Handelswege durch die Entdeckung Amerikas und nach dem Fall Konstantinopels, die Reformation, die Wiederentdeckung des antiken Denkens, und der Beginn der Massenkommunikation durch die Erfindung des Buchdrucks schufen nie dagewesene Möglichkeiten für einer ganzen Generation von Künstlern und Erfindern. Leonardo war einer von ihnen.
Lässt sich denn sagen, was ein Umfeld besonders kreativ macht?
Kreativ besonders fruchtbar sind Gruppen, deren Mitglieder sich zwar sich auf einer gemeinsamen Grundlage verständigen können, einander aber nicht zu ähnlich sind, damit Reibung entsteht. Kurz gesagt: Kreative Gruppen sind sich hinreichend ähnlich und dennoch ausreichend verschieden. Den Wert der Diversität belegen auch empirische Studien. Diese Tatsache scheint mir auch ein starkes Argument für eine vielfältige, bunte und inklusive Gesellschaft zu sein. Wenn wir in der Zukunft bestehen wollen, brauchen wir eine Gesellschaft mit Menschen aus verschiedenen Hintergründen
Lassen Sie uns noch kurz bei der Gegenwart bleiben, in der wir bereits alle einen kleinen Computer in der Tasche tragen, der uns auf sehr bequeme Weise unzählige Tätigkeiten abnimmt. Machen uns die von wenigen Firmen designten Benutzeroberflächen weniger kreativ?
Sie meinen das Internet. Auf der einen Seite bietet es enorme Chancen für die Entfaltung von Kreativität, wenn Menschen aus allen Teilen der Welt sich fast mühe- und kostenlos austauschen können. Wenn Kreativität nicht in, sondern zwischen Menschen entsteht, liegt nahe, dass ein dichteres Netz menschlicher Verbindungen auch mehr Kreativität ermöglicht. Auf der anderen Seite stellt die Allgegenwart der virtuellen Welt natürlich auch eine Gefahr dar, beispielsweise, wir immer weniger gewillt sind, Fragen auf den Grund zu gehen, die sich nicht per Suchmaschine klären lassen. Die Leichtigkeit, mit der wir Information beschaffen können, verführt zur Bequemlichkeit. So sind wir im Alltag versucht, Probleme, für die es kein Tutorial gibt, für unlösbar oder der Mühe nicht wert zu halten – was selbstverständlich eine Illusion ist und von einer Abnahme kreativen Willens zeugt.
Mittlerweile ist recht gut belegt, dass wir als Menschheit historisch klüger werden. Werden wir denn auch kreativer?
Wenn wir es wollen, ja. Die Vernetzung und nicht zuletzt die immer größere Zahl immer besser gebildeter Menschen bieten die besten Voraussetzungen, die Kreativität sowohl jedes einzelnen als auch ganzer Kulturen zu steigern. Und solche Effekte zeigen sich tatsächlich, beispielsweise in der exponentiell wachsenden Menge zugelassener Patente. Oder denken Sie an die Vakzine, mit denen viele von uns derzeit geimpft werden. Entgegen der bisherigen Faustregel, dass die Entwicklung eines neuen Impfstoffs mindestens ein Jahrzehnt dauert, verfügen wir knapp eineinhalb Jahre nach Beginn der Pandemie über gleich mehrere verschiedene Vakzine. Das ist schlichtweg spektakulär. Zumal die RNA-Präparate auch noch konzeptuell neu sind.
Wie verhält es sich hingegen mit der Kreativität, wenn sie nicht aus freien Stücken geschieht, sondern gewissermaßen vorgeschrieben wird. Denken wir an Stellenausschreibungen, die heute kaum noch ohne die Anforderung „kreativ und teamworkfähig“ auskommen.
Unternehmen wissen, wie sehr sie auf neue Ideen angewiesen sind. Aber mit der Umsetzung der eingeforderten Kreativität tun vielen Firmen sich schwer, weil Kreativität stets eine destabilisierende Wirkung hat. Wer schöpferisch handelt, setzt auf eine Veränderung des Status Quo, was erst einmal Risiko bedeutet. Und dieses Risiko muss ein Unternehmen bereit sein zu tragen.
Aktuell stehen wir Ihrer Analyse nach an der Schwelle zu einer vierten Entwicklungsstufe der Kreativität. Die erste war die Erfindung physischer Werkzeuge, die zweite die Erfindung symbolischer, wie etwa der Schrift, bei der dritten handelte es sich um das Aufkommen der Massenkommunikation und nun hat es der Mensch zur Entwicklung der Künstlichen Intelligenz gebracht. Was macht diesen vierten Schritt so besonders?
Wir haben mit Computern ein Werkzeug geschaffen, um Datenmengen zu verarbeiten, die wir mit dem Gehirn allein nicht verarbeiten konnten. Künstliche Intelligenz zeichnet sich nun dadurch aus, dass sie lernfähig ist, sich also in einem bestimmten Ausmaß selbst weiterentwickelt. Wir haben eine Evolution auf der Ebene der Werkzeuge angestoßen, die von selbst abläuft, wenn man die Rechner schlau programmiert. Das unterscheidet die Künstliche Intelligenz grundlegend von einem Faustkeil, der Schrift oder dem Buchdruck. Sie wird unsere Art kreativ zu sein grundlegend verändern.
Sie sprechen von einer „Evolution der Werkzeuge“. Ist denn zu befürchten, dass die menschliche Kreativität irgendwann gänzlich von maschineller ersetzt wird?
Nein, zumindest nicht zu Lebzeiten jener Menschen, die bereits geboren sind. Der Grund hierfür ist allerdings spannenderweise nicht, dass es an Speicherplatz oder Rechenkapazität mangeln würde. Denn die Supercomputer, die im vergangenen Jahr von der Öffentlichkeit beinahe unbemerkt in Betrieb genommen wurden, können es in dieser Hinsicht schon jetzt locker mit unserem Gehirn aufnehmen. Was Maschinen und Menschen unterscheidet und noch sehr lange unterscheiden wird, ist die Einbeziehung von Kontext. Denn das menschliche Gehirn arbeitet immer in einem biologischen, sozialen, geschichtlichen Zusammenhang. Es ist Teil eines sterblichen Organismus‘ und tut in erster Linie das, was dessen Überleben und Fortpflanzung sichert. Wir sind endliche Wesen, wissen darum und setzen uns entsprechende Ziele. In einem philosophischen Bild ausgedrückt, sind wir also wesentlich mehr als nur Hirne in einem Tank, denn wir haben einen Weltbezug. Nur so kommen wir auf Ideen wie etwa Marcel Duchamp, der ein Pissoir als Kunstwerk deklarieren konnte, weil er um die Kunstgeschichte, die Konventionen und seine Stellung wusste. Eine Maschine hingegen kann solches Weltwissen – jedenfalls derzeit – unmöglich erlangen. Viel spricht dafür, dass Maschinen erst dann einen uns Menschen vergleichbaren Weltbezug erreichen können, wenn sie für ihre eigene Reproduktion und ihr Fortbestehen sorgen. Solange dies nicht der Fall ist, sehe ich nicht, wie ihnen echte schöpferische Fähigkeiten zuwachsen sollten. Erst wenn Maschinen ihr eigenes Überleben als Organismus sicherstellen, könnten sie Kreativität im menschlichen Sinne entwickeln. Wobei dann die Frage wäre, ob es sich dabei noch um Maschinen handelte. •
Stefan Klein ist Physiker, Philosoph und zählt zu den erfolgreichsten Wissenschaftsautoren Deutschlands. Seine Bücher über Themen wie die Zeit, Zufall oder Träume faszinieren ein großes Publikum. Jüngst erschien von ihm „Wie wir die Welt verändern: Eine kurze Geschichte des menschlichen Geistes“ im Fischer Verlag.
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