„Hate Watching“: Warum sind wir fasziniert von dem, was wir hassen?
Wer kennt das nicht: Eine Realityshow anschauen, obwohl man sie albern findet; einem Filmsternchen in den sozialen Netzwerken folgen, das man verachtet; eine Serie bis zum Ende gucken, obwohl sie einen vor Langeweile gähnen lässt... Warum sind wir derart fasziniert von dem, was wir verabscheuen? Weil wir im Grunde genau das begehren, was wir angeblich hassen, antwortet René Girard.
In seiner jüngsten Bedeutung bezeichnet der Begriff des „Hate Watching“ die Tendenz, sich eine Serie anzuschauen, die man für sehr schlecht hält. Der Ausdruck wurde 2012 von der amerikanischen Journalistin Emily Nussbaum geprägt, nachdem sie die Serie Smash gesehen hatte. Die Tatsache, dass sie diese als sehr mittelmäßig empfand, konnte sie nicht davon abhalten, sie regelmäßig weiterzuschauen. „Hate Watching“ – übersetzt etwa „hasserfülltes Schauen“ – bezeichnet genau diese seltsame Mischung aus Verachtung und Faszination, die einen dazu bringt, sich mit dem auseinanderzusetzen, was man hasst. Der Begriff wurde zunächst Filmen und Serien zugeschrieben, kann aber auch auf Prominente, Politiker und Hassfiguren jeder Art ausgeweitet werden. „Hate Watchers“ sollten jedoch von den so genannten „Hatern“ – in der Internetkultur mitunter als „Wutbürger“ bezeichnet – unterschieden werden, die stundenlang aggressive Kommentare posten und Raids – Mobbingkampagnen im Internet – gegen einen ausgewählten Feind in den sozialen Netzwerken durchführen. Im Vergleich dazu gehören die stummen und daher eher harmlosen „Hate Watchers“ zu einer ganz anderen faszinierenden Kategorie von „Hatern“, die wesentlich im Stillen agieren.
Argumente sammeln für den Hass
Aufmerksam die Nachrichten und Schlagzeilen über die Person zu verfolgen, die man verachtet, führt in erster Linie dazu, die eigene Verachtung zu bestärken: „Je kürzer die Distanz zwischen dem Mittler und dem Subjekt, desto geringer die Differenz, desto präziser die Erkenntnis und desto intensiver der Hass“, schreibt der Anthropologe und Philosoph René Girard (1923-2015) in seinem berühmten Essay Figuren des Begehrens. Das Selbst und der Andere in der fiktionalen Realität (im französischen Original Mensonge romantique et vérité romanesque, 1961). Indem man Informationen über jemanden sammelt, den man nicht leiden kann, sammelt man gleichsam Argumente gegen ihn. Das kann zum Beispiel bedeuten, regelmäßig heimlich den Twitter-Account einer Person auszukundschaften, die man auf keinen Fall abonnieren möchte – weil sie einem missfällt oder, weil sie einen in höchstem Maße verärgert. Doch dieser verachtende oder hasserfüllte Blick verfolgt einzig und allein das Ziel, die Person noch mehr hassen zu können. Indem der Andere derart voreingenommen betrachtet wird, entsteht der Eindruck, dass es gute Gründe gibt, ihn zu verabscheuen. Dies erklärt auch, warum jeder (fälschlicherweise) davon überzeugt ist, nur „legitime“ Feindschaften zu haben, wie Girard in einem weiteren berühmten Essay Der Sündenbock (im französischen Original Les Boucs émissaires, 1982) feststellt. „Hate Watching“ trägt letztlich dazu beiträgt, den Hass und die Abneigung zu festigen, die sich bereits fest etabliert haben.
Vom Feind besessen
Eine derart verächtliche Beziehung zum Anderen hängt eng mit einer gewissen Faszination zusammen. Einige eifrige „Hate Watchers“ kultivieren den Hass wie eine Religion. Genau wie Fans, die ihr Idol anbeten, sind diese „Anti-Fans“ von ihren Feinden besessen. Sie führen sich jegliches Bild- und Tonmaterial der verhassten Person zu Gemüte – Videos, Interviews, Auftritte in Fernsehshows. Diese Art von feindseliger (und geheimer) Dokumentation und Überwachung ist eine aktive Suchbewegung, ein Sich-Abarbeiten am Anderen, der uns so sehr verärgert. René Girard zufolge gibt es in jedem Verlangen zu hassen ein anderes, ganz grundlegendes Verlangen: eine „verborgene Bewunderung“ oder sogar eine Form von „ergebenster Verehrung“, die die „Hate Watchers“ heimlich verschlingt. Um die eigene Wut und Verachtung zu besänftigen, sollte sich jeder „Hater“ auf seine verborgenen Sehnsüchte hin befragen: „Was hat dieser Andere, das mir im Grunde genommen beneidenswert erscheint?“
Eine solche Sehnsucht, die dem „Hate Watching“ zugrunde liegt, ist für gewöhnlich tabuisiert und uneingestanden. Der Grund dafür, dass es so schwer ist, diesen Gedanken zuzulassen, ist Girard zufolge, dass wir uns danach sehnen, uns von unseren Hassobjekten zu unterscheiden. Unser Hass, so schreibt er, ist individualistisch: „Geradezu fanatisch bekräftigt er die Illusion einer absoluten Differenz zwischen jenem Ich und jenem Anderen.“ Es ist daher einfacher, den Anderen mit Hass zu betrachten, als zuzugeben, dass er etwas an sich hat, das wir in höchstem Maße beneidenswert finden. Die Person, die sich eifrig Realityshows ansieht, um sich darüber lustig zu machen, verkörpert auf perfekte Art und Weise diese ambivalente Bewegung zwischen Sehnsucht und Abscheu: In dem Versuch, sich von den Kandidaten zu unterscheiden, verfolgt er die Sendungen dennoch weiter. Seine Verachtung verbirgt – nur sehr dürftig – seine Faszination.
Heimliche Bewunderung
Die Faszination für die Person, die wir verachten, kann zu einer Sucht werden. Denn all unsere virtuellen Feinde – kennt man doch die Schauspieler oder Personen des öffentlichen Lebens, die man verachtet, (fast) nie persönlich – sind Nährboden für hanebüchene Spekulationen. Über die Verbindung mit der verhassten Person kann man schon einmal den Verstand verlieren. Girard, der Proust zitiert, stellt fest: „So sieht der Hass aus, der täglich mit dem Leben unserer Feinde den falschesten aller Romane schreibt.“ Man geht von einem wütenden Tweet oder einem schockierenden Interview aus und leitet aus diesen vagen Informationen ein ganzes vermeintliches Leben ab. Anstatt uns vorzustellen, die von uns gehasste Person genieße lediglich „ein menschliches Durchschnittsglück, in dem es wie in jedem Dasein, Widrigkeiten gibt“, unterstellen wir ihr „eine anmaßende Freude“, die uns verspottet und irritiert. Dies trägt wiederum zur Verstärkung des zwanghaften „Hate Watching“ bei. Die Anziehungskraft derjenigen, die wir hassen, kann unersättliche und unwiderstehliche Ausmaße annehmen.
Der Hass, so fasst Baudelaire zusammen, ist wie „ein Betrunkener im hinteren Teil einer Taverne, der seinen Durst ständig mit Getränken erneuert.“ Im Gegensatz zu den „glücklichen Trinkern“ erfährt der „Hater“ nie die beruhigende Genugtuung, „unter dem Tisch einschlafen zu können.“ Trotzdem erlebt er das armselige, aber dennoch mächtige Vergnügen, die Person zu hassen, die er heimlich beneidet. •
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Kann uns die Liebe retten?
Der Markt der Gefühle hat Konjunktur. Allen voran das Geschäft des Onlinedatings, welches hierzulande mit 8,4 Millionen aktiven Nutzern jährlich über 200 Millionen Euro umsetzt. Doch nicht nur dort. Schaltet man etwa das Radio ein, ist es kein Zufall, direkt auf einen Lovesong zu stoßen. Von den 2016 in Deutschland zehn meistverkauften Hits handeln sechs von der Liebe. Ähnlich verhält es sich in den sozialen Netzwerken. Obwohl diese mittlerweile als Echokammern des Hasses gelten, strotzt beispielsweise Facebook nur so von „Visual-Statement“-Seiten, deren meist liebeskitschige Spruchbildchen Hunderttausende Male geteilt werden. Allein die Seite „Liebes Sprüche“, von der es zig Ableger gibt, hat dort über 200 000 Follower. Und wem das noch nicht reicht, der kann sich eine Liebesbotschaft auch ins Zimmer stellen. „All you need is love“, den Titel des berühmten Beatles-Songs, gibt es beispielsweise auch als Poster, Wandtattoo, Küchenschild oder Kaffeetasse zu kaufen.
Das Ideal der Intensität
Man kennt es aus Filmen und Romanen: Die Frage nach dem Lohn des Lebens stellt sich typischerweise erst im Rückblick. Als Abrechnung mit sich selbst und der Welt. Wenn das Dasein noch mal vor dem inneren Auge vorbeifliegt, wird biografisch Bilanz gezogen: Hat es sich gelohnt? War es das wert? Würde man alles wieder so machen? Dabei läge es viel näher, die Frage, wofür es sich zu leben lohnt, nicht so lange aufzuschieben, bis es zu spät ist, sondern sie zum Gradmesser von Gegenwart und Zukunft zu machen. Zum einen, weil sie so gegen spätere Reuegefühle imprägniert. Wer sich darüber im Klaren ist, was das Leben wirklich lebenswert macht, wird gegenüber dem melancholischen Konjunktiv des „Hätte ich mal …“ zumindest ein wenig wetterfest. Zum anderen ist die Frage als solche viel dringlicher geworden: In dem Maße, wie traditionelle Bindungssysteme an Einfluss verloren haben, also etwa die Bedeutung von Religion, Nation und Familie geschwunden ist, hat sich der persönliche Sinndruck enorm erhöht. Wofür lohnt es sich, morgens aufzustehen, ja, die Mühen des Lebens überhaupt auf sich zu nehmen? Was genau ist es, das einem auch in schwierigen Zeiten Halt verleiht? Und am Ende wirklich zählt – gezählt haben wird?
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WIR sind nicht so! Manche sind auch intelligent genug, Abzuschalten oder Aufzuhören mit dem was einem schadet, langweilt oder verärgert.