Heidegger und Arendt: „Das Dämonische hat mich getroffen“
Im Frühjahr 1925 ereignet sich in der Universitätsstadt Marburg eine Liebesgeschichte der besonderen Art. Sie sollte die Lebenswege von Hannah Arendt und Martin Heidegger tief prägen. Ein Dialog zwischen Angst und Befreiung, der die Philosophie des 20. Jahrhunderts maßgeblich veränderte.
Kein Zweifel, der junge Professor war ein Ereignis. In einer eigens für ihn entworfenen Kombination aus engen Pumphosen und langem Überrock – halb Tracht, halb Anzug – betrat er das Auditorium. Leise, fast flüsternd, mit dem Blick starr hinaus zum Fenster, begann er seinen Vortrag, um schon bald darauf, ohne Skript und erkennbare Vorbereitung, immer eindringlicher und dichter ins Philosophieren zu geraten. Martin Heidegger, so der Name des genialen Charismatikers, entzog sich ganz bewusst jeder professoralen Erwartung. Wie auch das eigentliche Ziel seiner Lehre in weit mehr, ja grundsätzlich anderem als akademischer Wissensvermittlung bestand. Wozu der 35-jährige Husserl-Schüler die Studierenden von seinem Marburger Katheder aus aufforderte, geradezu anstiftete, war nichts Geringeres als eine fundamental neue Art zu leben und damit zu denken. Wieder und wieder kehrte der verheiratete Familienvater während seiner Vorlesungen dabei zu Grundsituationen der menschlichen Existenz zurück, in denen sich der Weg in eine eigentliche und entschlossene Seinsweise in besonders klarer Weise zeige und öffne. Gemäß Heidegger handelt es sich dabei insbesondere um die Erfahrung der Angst und das, was er den Studierenden gegenüber „das Vorlaufen des Daseins zu seinem Vorbei“ nennt – also die Gewissheit der eigenen Endlichkeit, des Todes.
Gerade solche radikal vereinsamenden Erfahrungen der Nichtigkeit und Grundlosigkeit sind es gemäß seiner Lehre, aus denen das Dasein wahre Freiheit, Entschlossenheit und Selbstrettung gewinnen kann. Denn niemand – kein anderer Mensch, keine Gemeinschaft, keine überlieferte Tradition oder offenbarte Religion – könne für einen jeweiligen Menschen die Frage beantworten, warum er überhaupt da ist und was er, einmal in diese Welt geworfen, mit sich anfangen soll. Es gibt kein Alibi in der Existenz. Und auch keinen letzten Erkenntnishalt. Die vorrangige Aufgabe des Philosophierens, lehrte Heidegger, bestehe deshalb darin, diese fundamentale Fraglichkeit und Ausgesetztheit des menschlichen Daseins möglichst klar zur Sprache zu bringen.
Große Worte eines noch jungen Mannes. Durch eigene Erfahrung gesättigt waren sie bis dato nicht. Anders als die Mehrzahl seiner Studierenden hatte Heidegger nie selbst an der Front gekämpft und war von den Gräueln des Ersten Weltkrieges biografisch weitgehend verschont geblieben. Erst im Wintersemester 1924/1925 erfährt er zum ersten Mal am eigenen Leibe, wovon er bisher nur so mitreißend gesprochen und geschrieben hatte: „Noch nie ist mir so etwas geschehen“, gesteht er sich – und nicht nur sich – am 27. Februar 1925 ein: „Das Dämonische hat mich getroffen.“ Doch ist es nicht etwa eine in seinen Vorlesungen beschworene Erfahrung der Angst oder der Todesnähe, von der Heidegger hier spricht, und auch sonst kein rein ichbezogener Ausnahmezustand. Im Gegenteil. Es ist die Erfahrung eines anderen Menschen, die Erfahrung der Liebe: „Daß die Gegenwart des Anderen in unser Leben einmal hereinbricht, ist das, was kein Gemüt bewältigt“, denn „wir wissen um das nie, was wir durch unser Sein anderen werden können.“ In solch einem Ausnahmezustand, schreibt der Liebende, bliebe deshalb nur noch eines zu tun: „Menschliches Schicksal gibt sich menschlichem Schicksal, und der Dienst der einen Liebe ist, dieses Sichgeben wach zu halten wie am ersten Tag.“ Als Briefanfang liest sich das folgendermaßen: „10.II.1925 Liebes Fräulein Arendt! Alles soll schlicht und klar und rein zwischen uns sein. Dann sind wir einzig dessen würdig, daß wir uns begegnen durften. Daß Sie meine Schülerin wurden und ich Ihr Lehrer, ist nur die Veranlassung dessen, was uns geschah. Ich werde Sie nie besitzen dürfen, aber Sie werden fortan in mein Leben gehören, und es soll an Ihnen wachsen. (…)“
Das hereinbrechende Du
Bei dem Fräulein, an das sich Heidegger derart ungeschützt und offen wendet, handelt es sich um die damals 18-jährige Hannah Arendt, eine aus Königsberg stammende Studentin der Gräzistik, Philosophie und evangelischen Theologie. Auch Arendt war bereits kurz nach ihrem Eintreffen in Marburg im Herbst 1924 im Kreise der Studierenden als eine Art Ereignis und Sonderfall wahrgenommen worden. Genau wie Heidegger, der bei seinem Amtsantritt 1923 einen, wie er es nannte, ganzen „Stoßtrupp“ von Schülern und Promovierenden mit aus Freiburg nach Marburg brachte – unter ihnen später so eminente Gestalten wie Hans-Georg Gadamer, Herbert Marcuse oder Karl Löwith –, hatte auch die intellektuell auffällig brillante Studentin Arendt, gleichsam als dessen Anführerin und geistiges Oberhaupt, einen Kreis von Freunden und Kommilitonen dazu bewegen können, mit ihr gemeinsam von Berlin nach Marburg zu wechseln, um dort mit eigenen Augen und Ohren zu erfahren, was man sich mittlerweile in der ganzen Republik unter Philosophiestudierenden zuflüsterte: Dass da in Marburg jemand Neues und Brillantes erschienen sei, ein „geheimer König“, bei dem man das „Denken neu lernen“ könne. Eben der Daseinsprophet Martin Heidegger.
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