Heinz von Foerster: „Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners“
Philosophie gilt als Suche nach der Wahrheit. Der Kybernetiker Heinz von Foerster hält dies für einen Irrweg, da es Wahrheit nicht gibt. Wer dennoch behauptet, sie zu kennen, täuscht sich – oder ist ein Lügner.
Was machen Philosophen? Die gängige Antwort lautet: Sie suchen nach der Wahrheit. Für den Biophysiker und Philosophen Heinz von Foerster (1911–2002) ist diese Suche allerdings hoffnungslos: Unser Gehirn ist ein geschlossenes System, das sich seine eigene Wirklichkeit erzeugt – und keineswegs unsere Außenwelt eins zu eins abbildet. Ein Beispiel: Die Farben, die wir sehen, haften nicht an den Gegenständen selbst – das Gehirn interpretiert die Lichtwellen, sodass ein und derselbe Apfel für uns grün ist und für einen Vogel ultraviolett. Unsere Sinneseindrücke, die wir für ein wahres Abbild der Welt halten, sind also ein Konstrukt unserer Nervenzellen. Von Foerster wird deshalb als Konstruktivist bezeichnet. Alle kulturellen Einflüsse und Erinnerungen, die wir im Laufe unseres Lebens sammeln, brennen sich in unsere Hirnwindungen ein. Und mit diesem Hirn schauen wir auf die Welt: Manche sehen sie mathematisch, manche religiös, andere politisch. So viele Menschen, so viele Meinungen. Deshalb behauptet Foerster, dass es die Wahrheit nicht geben kann.
Erziehung zur Skepsis
Im Gegensatz zu den klassischen Philosophen steht die altehrwürdige Wahrheit bei Foerster nicht für das Schöne, Edle oder Gute. Sie sei vielmehr ein rhetorischer Taschenspielertrick – eben die Erfindung von Lügnern, die ihre Diskussionspartner übertrumpfen wollen. Dieser Gedanke hat vor allem auf die Systemtheorien des Biologen Humberto Maturana und des Soziologen Niklas Luhmann gewirkt: Systemtheoretiker leiten ihre Theorien nicht von übergeordneten Wahrheiten ab; stattdessen untersuchen sie ein Phänomen innerhalb des Systems, in dem es sich ereignet. Die Kritiker des Radikalen Konstruktivismus halten dagegen: Dass zum Beispiel ein Auto fährt, ist schlichtweg wahr; und die dahinterstehende Technik basiere auf wahren physikalischen Gesetzen. Foersters Antwort: „Das Funktionieren ist ein Beleg für das Funktionieren, nicht aber für die Existenz einer Wahrheit.“ Man habe eben so lange herumprobiert, bis das Auto einmal losgetuckert ist. Die Befreiung von der Idee der Wahrheit müsse schon bei den Kleinsten beginnen: „Dies zeigt sich am deutlichsten in unserer Methode des Prüfens, die nur Fragen zulässt, auf die die Antworten bereits bekannt sind.“ Indem Lehrer nur eine Wahrheit akzeptieren, würden sie zu den größten Lügnern. Doch steckt in der Theorie des Freidenkers Foerster möglicherweise ein Selbstwiderspruch: Wie will er uns zeigen, dass seine Leugnung der Wahrheit eine wahre Beschreibung der Welt ist? •
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