Im Kopf von Putin
Im Kreml weht ideologisch ein neuer Wind. Verschiedenste Denkschulen, vom Konservatismus des „russischen Weges“ bis zu Propheten eines „eurasischen Imperiums“ konkurrieren dort um die Macht. Liefert die russische Philosophie Anhaltspunkte für das weitere Vorgehen Wladimir Putins?
Im Januar 2014 haben die Gouverneure der Regionen, die wichtigen Staatsdiener und die Kader der regierenden Partei Einiges Russland seitens der präsidialen Verwaltung ein besonderes Neujahrsgeschenk erhalten – philosophische Werke: „Unsere Aufgaben“ von Iwan Iljin, „Die Philosophie der Ungleichheit“ von Nikolai Berdjajew oder auch „Die Rechtfertigung des Guten“ von Wladimir Solowjew, allesamt russische Denker des 19. und des 20. Jahrhunderts. Man wünschte sich, dass ein neuer Gogol käme und beschriebe, wie diese imposanten Würdenträger, eher gewöhnt an sündhaft teure Restaurants, schöne Autos und Luxusuhren, nun über der Lektüre von Seiten voller sibyllinischer Spekulationen schwitzten. Der geliebte und gefürchtete Präsident hat diese Autoren in seinen Reden selbst mehrfach zitiert. Man muss sich wohl auf den neuesten Stand bringen …
Putin, ein Philosoph? Übertreiben wir nicht. Doch nach der Relektüre der genannten philosophischen Klassiker und der Befragung mehrerer in der „Kreml-Ideologie“ bewanderter Kommentatoren tritt klar zutage, dass sich das Denken von Wladimir Wladimirowitsch auf drei Säulen aufbaut: einer konservativen Doktrin alten Schlags zum Gebrauch im Inneren, einer von den Slawophilen geerbten Theorie des „russischen Weges“ und schließlich dem Projekt einer eurasischen Zukunft. Diese dreifache Doktrin verspricht dem Rest der Welt eine eher unruhige Zukunft. Vor dem Hintergrund der umfangreichen russischen Aktionen in der Ukraine sowie der gesamten ehemals sowjetischen Zone enthüllt sich immer deutlicher eine Doktrin, die man bereits seit einigen Jahren vage ahnte, ohne sie jedoch bisher in Worte fassen zu können.
Die „Konservativen alten Schlags“ an der Macht
Es war Nikita Michalkow, der berühmte (und dem Präsidenten sehr nahe stehende) Regisseur von „Schwarze Augen“, der Putin neue philosophische Horizonte eröffnet hat. 2005 erhielt Putin von ihm private Gelder zur Rückholung der sterblichen Überreste von Iwan Iljin (1883-1954), einem obskuren russischen Philosophen, der zu Beginn der zwanziger Jahre nach Westeuropa emigrierte und nun mit großem Pomp auf dem Friedhof des Moskauer Donskoi-Klosters bestattet wurde. Seither lässt Putin zu den feierlichsten Anlässen Iljin regelmäßig wiederauferstehen. Von diesem herausragenden Hegel-Spezialisten und erbitterten Gegner der Tolstoi’schen Gewaltlosigkeit kennen die russischen Eliten vor allem eine Sammlung programmatischer Artikel mit dem Titel „Unsere Aufgaben“. Diese beiden 1993 neu aufgelegten, erstmals 1956 in Paris erschienenen Bände mit ihrem strengen schwarzen Einband befinden sich nun auf dem Nachttisch der hohen Funktionäre Putins. Was liest man darin? Der Antikommunist Iljin weigert sich, zwischen dem „Totalitarismus, sei er von links, von rechts oder aus der Mitte“, und „dem Weg der westeuropäischen Demokratie, dem der ,formalen Demokratie‘“ eine Wahl zu treffen. Er träumt von einer „demokratischen Diktatur“, stellt sich vor, was passiert, wenn die kommunistische Macht zusammenbrechen wird, und kündigt an, dass nach einem „einige Jahre währenden Chaos“, gewaltsamen Auseinandersetzungen und „von ausländischen Mächten unterstützten Separationsbestrebungen“ die „nationale Diktatur“ das Heil bringen wird und Wahlen keine wichtige Rolle mehr spielen werden. Man kann sich leicht vorstellen, was im Kopf von Michalkow und Putin beim Lesen dieser Zeilen vorgegangen ist … Und das ist längst nicht alles, denn Iljin hofft noch auf einen „Führer“, der „weiß, was zu tun ist“. Er kommt zu dem Schluss: „Der Führer dient, statt Karriere zu machen; kämpft, statt eine Statistenrolle zu spielen; schlägt den Feind, statt leere Worte zu verkünden; lenkt, statt sich ans Ausland zu verkaufen.“
Die Bezugnahmen auf Iljin, noch diskret während seiner beiden ersten Amtszeiten, haben sich seit der Rückkehr Wladimir Putins ins Präsidentenamt 2012 verstärkt und erweitert. Am 12. Dezember 2013, dem 20. Jahrestag der postsowjetischen Verfassung, fasste Putin sein Denken in einer großen Rede vor den Repräsentanten der Nation zusammen. In klarer Anspielung auf die Gesetze, die auf der Welt die Rechte der Homosexuellen verteidigen, erklärt er: „Heutzutage werden in zahlreichen Ländern die Normen der Moral und der Sitten neu auf den Prüfstand gestellt, die nationalen Traditionen ebenso ausgelöscht wie die Unterscheidungen zwischen den Nationen und Kulturen. Die Gesellschaft erhebt nicht mehr nur Anspruch auf die direkte Anerkennung des Rechts eines jeden auf die Freiheit des Glaubens, der politischen Meinungen und des Privatlebens, sondern auch, so seltsam das erscheinen mag, die obligatorische Anerkennung der Gleichwertigkeit von Gutem und Schlechtem, die sich doch ihrem Wesen nach entgegenstehen.“ Indem er vorgibt, den Kampf gegen diese vermeintliche Tendenz zu verkörpern, ruft Putin zur „Verteidigung der traditionellen Werte“ auf und räumt ein: „Natürlich ist das ein konservativer Standpunkt.“ Die „Aufgabe“ Russlands in der Nachfolge Iljins ist klar: Das Land soll zu einem Anziehungspunkt für die Antimodernisten in aller Welt werden.
Die Wiederkehr des russischen Weges
Dieser Konservatismus stützt sich auf die Überzeugung, dass Russland Träger einer besonderen Mission sei. Einfach gesagt, teilt sich das russische Denken seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts in zwei große, gegenläufige Strömungen. Auf der einen Seite vertreten die Westler, unter ihnen Pjotr Tschaadajew und Alexander Herzen, die Ansicht, dass Russland dazu berufen sei, Teil Europas zu werden, was eine Abkehr von der imperialen Willkür, der Leibeigenschaft, der Zensur, dem Anhängen an eine ausschließlich orthodoxe Identität voraussetzt. Auf der anderen Seite wollen die Slawophilen, beeinflusst vom deutschen Idealismus, einen Russland eigenen Geist fördern, der auf seiner religiösen Weltsicht, den Tugenden seines Volkes oder den Eigentümlichkeiten seiner sozialen Organisation gegründet ist. Dieser Dualismus strukturiert das intellektuelle Feld Russlands bis heute. Die Bruchlinie existierte selbst innerhalb des Politbüros, der höchsten Machtinstanz … doch mittlerweile hat Putin sein Lager gewählt. So wie Iljin in einem bei den Slawophilen nicht unüblichen Pathos beteuert: „Europa kennt uns nicht, versteht uns nicht und liebt uns nicht“ und sei derart eifersüchtig auf die „russische Mission“, dass es seit dem Ende des 17. Jahrhunderts Russland misstraue und fürchte, so beteuert auch Putin während seiner „Siegesrede“ vom 18. März 2014: „Die Politik der Eindämmung Russlands, die im 18., im 19. und im 20. Jahrhundert weiter betrieben wurde, setzt sich heute fort. Man versucht immer noch, uns in eine Ecke zurückzustoßen, weil wir einen unabhängigen Standpunkt einnehmen.“ Überdies sind seit 2012 neue Begriffe wie „russische Zivilisation“ oder auch „zivilisatorischer Code“ im Vokabular des Präsidenten aufgetaucht – womit suggeriert wird, eine Kultur sei ein lebender Organismus, der seinen eigenen genetischen Code besitze.
Um dieser These weiter nachzugehen, haben wir uns zu einem Interview mit dem berühmtesten zeitgenössischen Repräsentanten des russischen nationalistischen Messianismus begeben. Jeder russische Fernsehzuschauer und Radiohörer kennt Alexander Prochanow, ein lyrischer und lautstarker Schriftsteller und Journalist, geboren 1938. Er gründete in postsowjetischer Zeit die Tageszeitung Sawtra (Morgen), die bis heute das Sprachrohr der extrem antiwestlichen Ultrakonservativen ist. Prochanow gibt sich überzeugt, dass seine Ideen, niedergelegt zum Beispiel in seinem Werk „Das fünfte Imperium“, unter den Beratern des Präsidenten „beginnen, Wirkung zu zeigen“. Prochanow zufolge beruht die „russische Idee“ auf drei Axiomen. Gemäß dem ersten ist Russland „von Natur aus ein Imperium, dessen Grenzen atmen“. „Wenn Putin auch den Begriff Imperium noch nicht ausgesprochen hat, beginnt er doch gerade, ihn in die Tat umzusetzen. Begonnen hat er mit dem Krieg gegen Georgien von 2008 (der es erlaubte, Südossetien und Abchasien vom prowestlichen Georgien abzuspalten). Die Ereignisse in der Ukraine und auf der Krim sind die Fortsetzung davon.“ Laut dem zweiten Axiom hat Russland „immer der Idee von einer göttlichen Gerechtigkeit gehorcht“: „Es gibt einen russischen Messianismus und damit einen nicht nur strategischen, sondern auch spirituellen Gegensatz zwischen Orient und Okzident.“ Das dritte Axiom lautet schließlich: „Die von Putin vertretenen konservativen Werte bezüglich dem Individuum, der Familie, dem Verhältnis zur Natur stehen dem westlichen Modernismus frontal entgegen.“ Nach Prochanow wird sich „die Konfrontation mit dem Westen deshalb fortsetzen und verschlimmern. Russland wird sich mehr und mehr China und Indien zuwenden, um eine antiwestliche Front aufzubauen. Zwei feindliche Lager bilden sich gerade, und wir steuern auf einen neuen Weltkrieg zu. Gott wird über seinen Ausgang entscheiden.“
Eurasien oder gar nichts
Das Wort „Imperium“ ist also wieder in aller Munde. Doch welche Form wird es annehmen? Es gilt als gesichert, dass Putin Ende der neunziger Jahre regelmäßig einen Studienzirkel besucht hat, der sich dem Werk eines besonderen Denkers widmete, Lew Gumiljow (1912-1992), dem Sohn des Dichterpaares Nikolai Gumiljow und Anna Achmatowa. In seinen Schriften hat dieser Ethnologe und Historiker, als letzter Repräsentant der eurasischen Bewegung, eine Theorie der Lebensenergie der Menschengruppen im Rahmen des eurasischen Raums ausgearbeitet – zu dem er Russland und Zentralasien zählt. Sein zentrales Konzept ist das der „Passionarität“ beziehungsweise „inneren Energie“ des russischen Volkes. Der Eurasianismus ist in den zwanziger Jahren unter den aus Sowjetrussland geflohenen Philosophen entstanden und genießt heute in Russland hohe Popularität.
Diese Schule unterscheidet sich deutlich von den bisher aufgezählten. Entgegen den Westlern kritisieren die Eurasier den arroganten „Europazentrismus“ des Okzidents. Im Unterschied zu den Slawophilen meinen sie, dass das tatarisch-mongolische Joch in Russland, das vom 13. bis zum 15. Jahrhundert andauerte, nicht als nationale Katastrophe, sondern als Fortschrittsfaktor betrachtet werden sollte. Die tatarischen Horden hätten in Sachen ökonomischer und finanzieller Kompetenzen sowie politischer Verwaltung Russland viel gebracht.
In seiner Rede im Dezember 2013 vergangenen Jahres bezeichnet Putin übrigens die Entwicklung Sibiriens und des russischen Fernen Ostens als eine „von nationaler Priorität während des gesamten 21. Jahrhunderts“. Zudem können seine jüngsten Avancen in Richtung China als eine orientalische Wende der Außenpolitik interpretiert werden. Schließlich und vor allem will Putin 2015 eine „Eurasische Union“ auf den Weg bringen. „Wir treten in das entscheidende Stadium bei der Vorbereitung des Abkommens über die Eurasische Wirtschaftsunion ein“, bestätigt er. Die ersten Mitglieder werden Weißrussland und Kasachstan sein, in der Hoffnung, „Kirgisien und Armenien an ihr zu beteiligen“ und der Ukraine vorzuschlagen, sich enger an sie zu binden. Unterdessen wird mit China über neue Exportwege für Gasreserven verhandelt. Die Putin’sche Strategie besteht also darin, den Konservatismus zu benutzen, um die Reihen um den Führer und die „traditionellen Werte“ zu schließen, das Banner des „russischen Weges“ zu schwenken, um die Massen in dem kommenden Konflikt mit dem Westen zu mobilisieren, und dann dank der eurasischen Ideologie, die die multiethnische Natur der eurasischen „Superkultur“ rühmt, das künftige Imperium zu verwalten.
Um mehr über den Traum eines neuen kontinentalen Imperiums zu erfahren, haben wir uns mit Alexander Dugin, dem berühmtesten Vertreter der neoeurasischen Strömung unterhalten. Laut Dugin „berührt die eurasische Doktrin den tiefsten Nerv der russischen Geschichte. In diesem Sinn vereint sie, was es in der weißen und roten, monarchischen und sozialistischen Geschichte des Landes an Gemeinsamkeiten gibt. Heutzutage erfährt sie ihre ganze Aktualität in der wachsenden Konfrontation zwischen Eurasien und dem atlantizistischen Westen“ (den er als „das absolute Böse“ betrachtet). Ihm zufolge mixt Putin auf sehr persönliche und harmonische Weise mehrere ideologische Zutaten: eine typisch sowjetische Weltsicht; einen von Iljin inspirierten imperialen und konservativen russischen Imperialismus, „ein banales und primitives Denken für primitive Leute“, wie Dugin resümiert; eine eurasische geopolitische Konzeption; eine von der Utopie des russischen Denkers Wladimir Solowjow inspirierte Vision des kontinentalen Europas als einer gegen den amerikanischen Einfluss gerichteten „Union christlicher Königreiche unter strategischer Kontrolle Russlands“ sowie schließlich einen grundsätzlichen Realismus, der die Idee eines über der Souveränität der Staaten stehenden Rechtes ablehnt.
Auf politischer und strategischer Ebene „will Putin also ein eurasisches Imperium konstruieren“, das im Stande ist, mit dem Imperium der Atlantiker zu konkurrieren. Dugin prophezeit, der Präsident werde in einer relativ kurzen Zeitspanne („zwischen drei Wochen und drei Jahren“) dieses Programm ins Werk setzen. Er wird sich eines Teils der Ukraine bemächtigen, des Teils am rechten Ufer des Dnjepr. Die andere Hälfte einschließlich Kiew werde eine Art Vergnügungspark, eine „folkloristische Zone der ukrainischen Identität, doch ohne jede Macht“. Er werde zudem seinen Einfluss auf jene europäischen politischen Bewegungen ausweiten, die den konservativen Werten und einem christlichen Europa zugeneigt sind, indem er beispielsweise in Frankreich den Aufstieg von Marine Le Pen unterstützt. Putin will „Europa die eigenen griechisch-römischen Werte in Erinnerung rufen“. In diesem Sinn sei nach Alexander Dugin Russland die Zukunft Europas.
Welches Imperium für Putin?
Was werden die nächsten Schritte des russischen Präsidenten sein? Alle unsere Gesprächspartner bekräftigen, dass er nicht bei der Krim und nicht einmal bei der Ostukraine haltmachen werde. Doch die Szenarien divergieren. Wird er einem panslawistischen Programm folgen und alle „slawischen Brüder“ versammeln wollen? Gewiss nicht, weil nicht zur Debatte steht, den Bulgaren, Serben oder Tschechen Avancen zu machen. Zielt er auf die Errichtung eines christlichen Reiches ab, das um den orthodoxen Glauben vereint wäre? Auch das nicht – selbst wenn er diese Saite anzuschlagen vermag, um Armenien zu ködern –, denn die russische Föderation ist bereits multikonfessionell, und all die muslimischen Regionen des Landes sollten nicht verloren werden. Folgt er dem Prinzip, alle Russen und/oder Russischsprachigen zu vereinen? Das ist das bisher verwendete Argument, um den Übergriff auf die Krim und die Ostukraine zu rechtfertigen. Doch es wird den jeweiligen Umständen angepasst. Denn zu bedenken ist, dass Südossetien und Abchasien, „eingenommen“ 2008, keine russischen Territorien sind. Sich auf ein Abenteuer in Lettland einzulassen, wo die Zahl der Russischsprachigen erheblich ist und die innergemeinschaftlichen Konflikte tiefer liegen als anderswo, kommt deshalb nicht infrage, weil die Baltenrepublik Mitglied der NATO und der Europäischen Union ist. In anderen Regionen hingegen kann das Alibi der Verteidigung der bedrohten Russischsprachigen hervorragend funktionieren: in Weißrussland natürlich, wo der hiesige Diktator, Alexander Lukaschenko, eine gewisse Nervosität an den Tag legt; im nördlichen Kasachstan (das Land zählt 23 Prozent Russen); in Transnistrien und Gagausien, autonomen Teilen Moldawiens, die man einfach an Russland anschließen könnte, wenn man sich der Südukraine bemächtigte. In den Augen von Alexander Morozov, einem der führenden oppositionellen Journalisten Russlands, ist Putin allerdings kein reiner, visionärer Schüler von Ideologen wie Prochanow oder Dugin, „vielmehr bestehe seine Vision in den Worten von Morozov darin, ein effizientes und zeitgenössisches, auf einer Marktwirtschaft gegründetes imperiales System zu errichten. Die nationalen oder religiösen Faktoren haben einen zweitrangigen Charakter, und gewiss handelt es sich nicht um ein rotes Imperium.“ Seiner Ansicht nach will Putin „eine mächtige Wirtschaftsunion auf die Beine stellen, die den Charakter einer Staatenkonföderation annehmen wird, mit dem Ziel, den ökonomischen Großmächten der Welt Konkurrenz zu machen. Die grundlegende Philosophie Putins bleibt ökonomisch-gemäßigt. Er will neue Ressourcen erlangen, um mit neuen Kräften am weltweiten Kapitalismus teilzuhaben. Doch er unterbreitet keine alternative Doktrin zum globalen Finanzkapitalismus. Er will ihn weder zerstören noch etwas anderes vorschlagen.“ Das Imperium, das Putin im Eiltempo auf die Beine zu stellen versucht, wäre demnach auf die Ausweitung des Rubels gegründet, nicht auf die der Orthodoxie, des Neokommunismus oder des russischen Volkes. Doch dieses Ganze wird klar von Moskau dominiert sein. Die eurasische Ideologie wird also unverzichtbar sein, um eine friedliche Koexistenz all dieser Völker zu gewährleisten.
Putin hat demnach unter den Philosophen seines Landes die imperialistischsten und antiwestlichsten ausgewählt. Die europäischen Entscheidungsträger täten gut daran, sie sich ebenfalls für die nächsten Ferien schenken zu lassen, um ihren neuen Gegner besser kennenzulernen. •
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Die Redaktion des Philosophie Magazin trauert um Imre Kertész. In Gedenken an den ungarischen Schriftsteller veröffentlichen wir ein Interview mit ihm aus dem Jahr 2013.
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Nietzsche, Wittgenstein, Camus – es war die Philosophie, die Imre Kertész den Weg zur Literatur wies. Der ungarische Nobelpreisträger blickte in seinem, wie er selbst vermutete, „letzten Interview“ zurück auf ein Leben, das sich weder durch Konzentrationslager noch die kommunistische Zensur zum Schweigen verdammen ließ.
„Wissen Sie, ich habe viel über Ihre Fragen nachgedacht“, sagte Imre Kertész gleich zu Beginn, als er uns in seiner Wohnung in Buda, einem Stadtteil von Budapest, empfing. „Mir liegt daran, mit Ihnen ein schönes Interview zu führen, weil es vermutlich mein letztes sein wird.“ Dieser testamentarische Satz könnte makaber wirken, aber im Gegenteil: Seiner kurzatmigen Stimme zum Trotz leuchtet es in seinen Augen lebhaft und verschmitzt. Seit gut einem Jahrzehnt kämpft Kertész mit der Parkinsonkrankheit, Ursache zahlloser Schmerzen und Schwierigkeiten, von denen seine veröffentlichten Tagebücher berichten. Diese Krankheit zwang ihn, 2012 offiziell das Schreiben aufzugeben, und lässt ihm täglich nur wenige kurze Momente der Ruhe.
Es ist schwer, nicht gerührt zu sein bei der Begegnung mit diesem so geprüften und zugleich so zäh durchhaltenden Menschen, der unentwegt über die Paradoxa des Daseins als „Überlebender“ nachgesonnen hat. Imre Kertész wurde 1929 geboren. 1944 wurde er nach Auschwitz deportiert, dann nach Buchenwald gebracht, wo er 1945 die Befreiung des Lagers erlebte. Den wesentlichen Teil seines Lebens hat er daraufhin unter dem kommunistischen Regime in Ungarn verbracht. Kertész begann Mitte der fünfziger Jahre zu schreiben. Zugleich toleriert vom Regime und sorgsam ferngehalten von der Öffentlichkeit, veröffentlichte er in äußerst überschaubaren Auflagen und kühl aufgenommen von der offiziellen Kritik Meisterwerke wie „Roman eines Schicksallosen“ oder „Der Spurensucher“. Erst mit dem Zusammenbruch des Ostblocks wurden seine Werke in aller Welt übersetzt und fanden internationale Anerkennung, gekrönt vom Literaturnobelpreis im Jahr 2002.
Wenn es eine weniger bekannte Dimension seiner Existenz gibt, dann ist es das Verhältnis des Schriftstellers zur Philosophie. Aus Leidenschaft, doch auch, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen, übersetzte Imre Kertész zahlreiche deutsche Philosophen vom Deutschen ins Ungarische, unter ihnen Friedrich Nietzsche und Ludwig Wittgenstein. Die Lektüre dieser Autoren sowie die von Albert Camus und Jean-Paul Sartre hat unentwegt sein Werk genährt. Vor allem aus dem Wunsch heraus, sich über seine – intensive und beständige – Beziehung zur Philosophie zu äußern, stimmte Kertész unserer Interviewanfrage zu.

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