Iran und der Kampf gegen das Patriarchat
Die Aufstände im Iran sind Ausdruck eines internationalen Kampfes gegen patriarchale Herrschaftsstrukturen und einer globalen Revolution. Als politisches Ereignis erzeugen sie so einen Möglichkeitsraum für einen fundamentalen Neuanfang.
Und plötzlich ist sie da: Die Möglichkeit für einen radikalen gesellschaftspolitischen Umbruch im Iran. Mit dem Tod der Kurdin Jîna Armini nach Inhaftnahme durch die iranische Sittenpolizei am 16. September gehen im ganzen Land Menschen auf die Straße und protestieren gegen ihre Führung. Festgenommen aufgrund einzelner Haare, die unter ihrem Kopftuch hervorlugten, starb sie in Polizeigewahrsam. Seitdem versammeln sich Menschen in öffentlichen Räumen und machen ihrem Unmut gegen die frauendiskriminierenden Verordnungen und Praktiken der Religionsführung um Ali Chamanei Luft. Auch wenn es aus der Ferne nur schwer zu beurteilen ist, machen die Proteste den Eindruck, als haben sie das Potenzial, nicht nur die repressiven Verbote aufzuheben, sondern gar die religiöse Führung selbst zu stürzen und ein neues politische System zu etablieren.
Ein globaler Kampf gegen patriarchale Herrschaftsstrukturen
Nun ist der Protest nicht der erste: In den vergangenen Jahren formierten sich im Iran wiederholt Protestbewegungen. So protestierte 2009 die neo-reformistische grüne Bewegung nach der Präsidentschaftswahl gegen vermuteten Wahlbetrug und sowohl 2018 als auch 2019 kam es zu landesweiten Unruhen aufgrund der zuerst explosiv gestiegenen Nahrungsmittelpreise und später wegen überteuerter Benzinpreise. So stark diese Proteste auch waren, sie verliefen im Sand. Doch diesmal scheint etwas grundlegend anders zu sein. Während die Proteste 2009 von der Opposition und einer vornehmlich gut gebildeten, urbanen Mittelschicht getragen wurden und die Aufstände 2018 und 2019 vor allem von einer ökonomisch schwachen Landbevölkerung ausgingen, also beide Proteste nur Teile der Gesellschaft hinter sich zu vereinen mochten, breitet sich jetzt eine klassenübergreifende, über die Landesgrenzen hinausgehende Welle der Solidarität aus.
Der jetzige Protest ist ein antipatriarchaler Kampf gegen die Unterdrückung von Frauen. Das Besondere an diesen Protesten ist nicht nur, dass sie anders als in der Vergangenheit diesmal auch von Männern unterstützt werden, die nicht länger hinnehmen wollen, dass ihre Mütter, Frauen und Töchter unter der Tyrannei der Religionsführung leiden müssen, sondern auch dass sie sich einreihen in einen globalgeführten Kampf gegen patriarchale Unterdrückungsstrukturen. Auch wenn die historischen Rahmenbedingen sehr unterschiedlich ausfallen, kann der Protest in einem Atemzug mit den Kämpfen der Frauen in Weißrussland oder den von der LGTBQ-Bewegung angetriebenen Demonstrationen in Russland gegen Putins Regime genannt werden. Der Protest erweist sich somit als Glied einer Kette global geführter Kämpfe gegen einen patriarchalen Autoritarismus – wie es Eva von Redecker prägnant auf den Punkt bringt –, gegen die systematische sowohl politische als auch gesellschaftliche Degradierung von Frauen, non-binären Menschen und nicht heterosexuellen Personen. Weltweit wird deutlich: Das Subjekt der Revolution ist nicht länger das Proletariat, wie es bei marxistisch-kommunistischen Theorien propagiert wird, sondern anti-patriarchale Bewegungen geführt von unerschrockenen Frauen.
Die Macht des politischen Ereignisses
Der Tod von Jîna Armini kann mit Alain Badiou als ein politisches Ereignis beschrieben werden: „Ein politisches Ereignis“, so der französische Philosoph, „ist etwas, das eine Möglichkeit auftauchen lässt, die der Kontrolle über das Mögliche durch die herrschende Macht entrinnt. Auf einmal beginnen die Leute manchmal Massen von Leuten, zu denken, dass es eine andere Möglichkeit gibt.“ Das Ereignis eröffnet einen neuen Möglichkeitsraum, der „zuvor unsichtbar oder sogar undenkbar war“. In diesem Sinne ist ein politisches Ereignis auch nicht als eine Form der Reformation (lat. reformatio „Wiederherstellen“), sondern als Keim einer Revolution (lat. revolutio „Umdrehung“) zu verstehen. Genau das ist auch gegenwärtig im Iran zu sehen: Denn anders als bei den Protesten 2009 und 2018/19 wollen die gegenwärtigen Aufstände nicht einfach nur die als krisenhaft empfundene Gegenwart reparieren und einen vormaligen Gesellschaftszustand wiederherstellen, sondern sie stellen kompromisslos den normativen Rahmen und die Gesellschaftsstruktur an sich in Frage. Ihr Ziel ist es, sich von den unterdrückenden Strukturen zu befreien und einen neuen Raum der Freiheit zu gründen.
Sie wagen somit – ganz im Sinne Hannah Arendts – einen gesellschaftspolitischen Neuanfang. Deswegen muss bei der Revolution auch von einer doppelten Freiheit gesprochen werden: Zum einen im Sinne einer negativen Freiheit, als Akt einer Befreiung von den unterdrückenden Herrschaftsstrukturen der Regierung, und zum andern verstanden als eine positive Freiheit, die in der Gründung eines neuen gesellschaftspolitischen Raums ihren Ausdruck findet. Beim Akt der Neugründung handelt es sich um die Etablierung eines öffentlich-politischen Raums, in dem Frauen und andere unterdrückte Personen, die zuvor in den Schatten der Gesellschaft verbannt waren, in das Licht der Öffentlichkeit treten und als Gleiche unter Gleichen erscheinen können. „Diese öffentliche Freiheit“, so Arendt, „ist eine handfeste lebensweltliche Realität, geschaffen von Menschen, um in der Öffentlichkeit gemeinsame Freude zu haben – um von anderen gesehen, gehört, erkannt und erinnert zu werden. Und diese Art von Freiheit erfordert Gleichheit, sie ist nur unter seinesgleichen möglich.“ Der entstehende öffentlich-politische Raum ist somit nicht nur Ausdruck einer freien Handlung des Neuanfangs, sondern bildet darüber hinaus selbst die Grundlage für die Freiheit, frei zu sein.
Der Anteil der Anteillosen
Die Revolution kann somit auch als ein Kampf um einen Anteil der zuvor Anteillosen verstanden werden, wie es Jaques Rancière in seinem Buch „Das Unvernehmen“ herausarbeitet. In Bezug auf die antike Philosophie verweist Rancière in seinen Überlegungen auf zwei unterschiedliche Konzepte von Stimme innerhalb des Altgriechischen. Auf der einen Seite wird die Stimme demnach als Phone verstanden. Phone steht für die Stimme des Tiers. Als bloßer Laut wahrgenommen, wird der Phone jede Vernunft abgeschrieben, weswegen ihr auch keine Bedeutung innerhalb des politischen Diskurses zugeschrieben wird. Die Stimme als Logos auf der anderen Seite dagegen gilt als Ausdruck eines vernunftbegabten Wesens. Der Logos unterscheidet den Menschen von den Tieren. Nur wer über einen Logos verfügt, hat eine Bedeutung im politischen Raum, wird gehört und als vollwertiger Mensch wahrgenommen. Rancière beschreibt nun das Wesen der Politik als den Kampf um die Frage, wessen Stimme als Logos zählt und als vernünftig anerkannt wird und wessen nicht. „Es gibt Politik,“ so Rancière, „weil der Logos niemals einfach die Rede ist, weil er immer untrennbar die Rechnung ist, die von dieser Rede gemacht wird: die Rechnung, wodurch eine lautliche Aussendung als Rede verstanden wird, fähig, das Rechte auszusprechen, während eine andere nur als Lärm wahrgenommen wird, der Freude oder Schmerz, Zustimmung und Revolte signalisiert.“ Die Geschichte der Sklaverei zeigt paradigmatisch, dass bist heute keinesfalls klar ist, dass jeder Mensch aufgrund seines bloßen Mensch-Seins auch ein Logos zugeschrieben bekommt.
Auch wenn im Iran seit der weißen Revolution im Jahr 1963 ein allgemeines Frauenwahlrecht besteht, werden ihre Stimmen sowohl auf öffentlichen als auch privaten Ebenen nicht als vollwertig anerkannt. So haben beispielsweise die Aussagen von Frauen vor Gericht angelehnt an das islamische Recht nur ein halb so großes Gewicht, wie das von Männern. Teilweise werden sie sogar gar nicht erst als Zeuginnen zugelassen. Hinzukommt, dass ihnen verwehrt wird, das Richteramt zu besetzen, wodurch bei der Rechtsprechung ein ausschließlich männlicher Blick vorherrscht. Im Privaten haben Männer das Recht auf sexuelle Verfügbarkeit, was dazu führt das Vergewaltigung in der Ehe kein rechtlicher Straftatbestand ist und dementsprechend nicht geahndet wird. Die Stimme der Frau wird in beiden Fällen nicht als Ausdruck einer gleichwertigen Person mit fundamentalen Rechten gehört. Ganz zu schweigen davon, dass Frauen weder Religionsführerinnen werden können noch in dem Expertenrat sitzen dürfen, der den obersten Religionsführer bestimmt und kontrolliert. Die Gesetzgebung der religiösen Gesetze findet dementsprechend ganz ohne die Stimme der Frauen statt, obwohl diese besonders von den Bestimmungen betroffen sind. Im Sinne Rancières ist deswegen der Protest im Iran als Kampf für eine Stimme zu verstehen. Die ins Abseits der politischen Gesellschaft gedrängten Frauen wollen nicht länger hinnehmen, dass ihre Stimmen als bloßer Lärm wahrgenommen und sie nicht als gleichberechtigt anerkannt werden. Sie stoßen in den öffentlichen Raum und fordern ihre Berücksichtigung. Sie wollen als vollwertiger Teil der Gesellschaft gezählt werden.
Auch der Neuanfang baut auf materialistischen Prämissen
Bei der Betonung der politischen Ereignishaftigkeit des Geschehens und dem von den Protesten intendierten Neuanfang gilt es, auch die materialistischen Voraussetzungen für die Möglichkeit des umwälzenden Ereignisses zu reflektieren. Denn auch jeder Neuanfang baut auf historisch-materialistischen Bedingungen auf und geschieht nicht im luftleeren Raum. Als ein wesentlicher Faktor für die gegenwärtigen Proteste im Iran erweist sich ohne Zweifel das Internet und die sozialen Medien. Während sie in Europa zunehmend als Medien der politischen Spaltung verschrien werden, sind besonders die sozialen Medien für die antiautoritären Kämpfe wie im Iran nicht nur Treiber und organisatorisches Kommunikationsorgan von Protestbewegungen, sondern auch Grundlage für eine globale Welle der Solidarität, die den iranischen Staat international unter Rechtfertigungsdruck setzt und den kämpfenden Menschen Mut schenkt. Wie wichtig das Internet für die Protestbewegung ist, verdeutlichen auch die vergeblichen Versuche der Regierung, es einzuschränken und zu kontrollieren. Die Bedeutung des Internets ist deswegen nicht hoch genug einzuordnen.
Insofern lässt sich an den Protesten im Iran die Vielschichtigkeit und Mehrdimensionalität historischer Prozesse und letztlich von Geschichte an sich erkennen. Die Ereignishaftigkeit des Geschehens und die damit verbundene Kontingenz ist ein deutliches Indiz dafür, dass die Geschichte nicht im Sinne eines historischen Materialismus als Ausdruck einer durch die ökonomischen Prozesse bestimmten gesetzmäßigen Entwicklung einer Gesellschaft verstanden werden kann. Zugleich zeigt die Bedeutung des Internets aber auch, dass die historisch materialistischen Bedingungen wesentlich verbunden sind mit der Entstehung, Entwicklung und Form historischer Umbruchsprozesse. Kein Protest, kein Ereignis und auch kein Neuanfang sind losgelöst von ihren materiellen Bedingungen. In diesem Sinne sind die Proteste Ausdruck einer in sich paradox anmutenden Bewegung: Zum einen zeugen sie im Sinne Arendts von der menschlichen Freiheit einen Anfang zu setzen und historische Wandlungsprozesse zu beginnen. Zum andern erweisen sie sich aber als immer abhängig von historisch-materialistischen Bedingungen und somit als nicht so souverän, wie das Konzept des Neuanfangs suggeriert. So unauflösbar diese Dichotomie auch erscheint, sie zeigt auch, dass eine Veränderung nicht einfach so geschieht, sondern immer der Menschen bedarf, die den Mut haben, eine Veränderung anzustoßen. Dabei steht viel auf dem Spiel, denn – so Arendt – „gerade weil Revolutionen die Frage politischer Freiheit in ihrer wahrhaftigsten und radikalsten Form stellen – Freiheit, sich an den öffentlichen Angelegenheiten zu beteiligen, Freiheiten des Tuns –, sind alle anderen Freiheiten, politische bürgerliche, in Gefahr, wenn Revolutionen scheitern.“ •
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