Jan Assmann: „Es gibt keine wahre Religion“
Ägypten ist die eigentliche Wiege der europäischen Kultur, monotheistische Religionen neigen zur Gewalt, der Holocaust wird die Religion der Zukunft. Der Ägyptologe Jan Assmann gehörte zu den thesenstärksten Kulturtheoretikern unserer Zeit. Nun ist er im Alter von 85 Jahren gestorben. 2013 führten wir ein Gespräch mit dem Mann, dessen Gedächtnis mehr als 6000 Jahre in die Vergangenheit reicht.
Ein Sommertag in Berlin. Jan Assmann, eigentlich in Konstanz ansässig, ist in diesen Tagen zu Besuch bei seinem Sohn in Kreuzberg. Der Anlass: Assmanns 75. Geburtstag. Geboren im Jahr 1938, erlebte der Ägyptologe den Zweiten Weltkrieg als Kind. Das Schweigen angesichts der Schoah prägte ihn als Jugendlichen tief, seine Theorie des Gedächtnisses findet hier ihre frühesten Wurzeln. Und doch hat Assmann sich im Laufe seines akademischen Lebens immer stärker einem ganz anderen Thema zugewandt: Ägypten – ein Land, das aktuell kurz vor einem Bürgerkrieg steht und auf eine jahrtausendealte Geschichte zurückblickt, die uns Europäer mehr geprägt hat, als wir denken. Assmann erscheint im Türrahmen, weiße Haare, Fliege, strahlend blaue Augen – eine Klarheit des Blicks, die den Willen zur Thesenschärfe, gar politischen Provokation verrät.
Herr Assmann, Sie haben als Ägyptologe eine der einflussreichsten Kulturtheorien unserer Zeit entwickelt, die Theorie des „kulturellen Gedächtnisses“. Können Sie sich noch erinnern, worin für Sie anfangs die spezifische Faszination lag?
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