Kleine Philosophie des Nachtzugfahrens
Gerade erschien Millay Hyatts neues Buch Nachtzugtage. Die Philosophin spürt einer Weise des Reisens nach, die uns verwandelt und in ihrer sinnlichen Dimension so reich ist wie keine andere. Hier ein Auszug aus dem Kapitel Fenster.
Aus dem Zugfenster schauen ist die ureigene Tätigkeit des Bahnfahrens. Auch in der tiefsten Nacht. Ich wache auf, weil der Zug sich nicht mehr bewegt, gelbes Neonlicht scheint durchs Fenster, ich luge hinaus und sehe, wir stehen an einem Bahnhof, dort das Bahnhofsschild mit dem Namen einer unbekannten Stadt: Hegyeshalom. Eingeschlafen, wo ich mich noch auskannte, jetzt in der Fremde aufgewacht, höre ich Stimmen und verstehe sie nicht, es passieren Dinge um mich herum, die ich nicht überblicken kann, es ruckelt, vielleicht wird die Lok ausgewechselt oder der Zug trennt sich hier von einzelnen Waggons. Ich bin leicht desorientiert, wie der kleine Martin in Nabokovs Die Mutprobe, der sich auf einer Nachtzugreise immer wieder ans Fenster schleicht, um zu beobachten, was draußen passiert: der Zug ... blieb aber dann mit einem langen, leise zischenden Seufzer der Erleichterung endgültig stehen, und gleichzeitig wanderten blasse Lichtstreifen langsam durch das dunkle Abteil ... Mehrere kleine Mücken und ein großer Nachtfalter kreisten um eine Gaslaterne; schattenhafte Leute schlurften über den Bahnsteig und unterhielten sich im Gehen über unbekannte Dinge. Mit dieser Desorientierung und mit der Spannung, die die rätselhaften Geschehnisse um mich herum hervorrufen, kommt auch das Gefühl der Geborgenheit auf, wie ich es als Kind im Nachtauto erlebt habe: Ich bin sicher in meinem Abteil, die da auf dem Bahnsteig, die, die durch die Gänge stiefeln, kümmern sich schon darum, dass alles so passiert, wie es passieren soll, ich kann wieder wegdösen oder mir vorstellen, die ersten fünf Buchstaben des Namens Hegyeshalom wären auf dem Schild nicht beleuchtet, und in mich hineinlächeln. Und dann fahren wir wieder und das Wort Hegyeshalom grüßt noch zwei, drei Mal durchs Fenster. (…)
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