Lässt sich der Pazifismus verteidigen?
Der russische Angriffskrieg stellt das Ideal der Gewaltfreiheit hart auf die Probe. Der Philosoph Olaf L. Müller und der Historiker Jörg Baberowski über naiven und pragmatischen Pazifismus, Menschenbilder und den Umgang mit Nichtwissen.
Die Humboldt-Universität zu Berlin an einem Novemberabend. Heute findet die Buchpremiere von Olaf L. Müller statt: „Pazifismus. Eine Verteidigung“ heißt die Schrift des Philosophen, der sich seit 30 Jahren mit pazifistischen Theorien auseinandersetzt und sich durch Putins Krieg neu herausgefordert sieht. Als Wissenschaftstheoretiker interessiert ihn, welche Rolle Erkenntnisgrenzen und Menschenbilder in unseren politischen Haltungen zu Krieg und Frieden spielen. Seinen eigenen Optimismus reflektiert er genau: Der Philosoph glaubt an das Gute im Menschen. Der Gewaltforscher, der neben ihm sitzt, ist da skeptischer. Jörg Baberowski ist Professor für die Geschichte Osteuropas. Sein Spezialgebiet: der stalinistische Terror. Die Professoren, die beide an der HU lehren, verbindet eine Freundschaft, die sich gerade aus ihren oft konträren Ansichten speist. Die Plätze in der Aula sind eingenommen. Die große Flügeltür wird geschlossen.
Philosophie Magazin: Herr Müller, im Vorwort Ihres Buches schreiben Sie, dass der Ukrainekrieg Sie bewogen hat, eine Verteidigung des Pazifismus zu verfassen. Warum?
Olaf L. Müller: Als dieser widerwärtige Krieg ausbrach, hat man mich wieder und wieder gefragt: „Kannst du jetzt etwa immer noch Pazifist sein?“ Tatsächlich hat der Krieg auch mich verunsichert. In meinem Buch versuche ich herauszufinden, ob sich der Pazifismus noch verteidigen lässt – und wenn ja, in welcher Variante.
Sie verteidigen einen verantwortungsethischen, pragmatischen Pazifismus, nicht aber einen gesinnungsethischen. Was genau ist der Unterschied?
Müller: Die gesinnungsethische Pazifistin braucht nur zu sagen: „Ich bin gegen alle kriegerischen Handlungen, Ende der Durchsage.“ Dann kann sie die Augen fest zumachen und ihr Herz verschließen. Wer so vorgeht, braucht sich mit der gegenwärtigen Kriegswirklichkeit nicht auseinanderzusetzen, denn die moralische Bewertung steht von vornherein fest. In der Verantwortungsethik stehen hingegen die Folgen des Tuns und Lassens im Mittelpunkt. Vor diesem Hintergrund ließe sich eine pazifistische Position so formulieren: Eine kriegerische Handlung ist falsch, insofern sie mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit mehr Leid als ihre Unterlassung in die Welt bringen würde. Nun überschätzt man sich allerdings erkenntnistheoretisch, wenn man glaubt, bei der Entscheidung über Krieg und Frieden die Folgen des eigenen Tuns oder Nichttuns genau genug überblicken zu können. Wir wissen schlicht nicht, ob eine Alternativhandlung besser sein würde beziehungsweise gewesen wäre. Dennoch müssen wir uns entscheiden. Bei dieser verantwortungsethischen Entscheidung, so meine Pointe, trägt jede Seite immer schon ihre eigenen Werte in die Folgenbeschreibung mit hinein. Das geschieht durch die Orientierung an bestimmten Leitprinzipien.
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