Lieber Etienne, lieber Christoph …
Ein deutscher und ein französischer Philosoph debattieren über den Krieg: Christoph Menke hat einen Appell unterzeichnet, der sich für einen sofortigen Waffenstillstand in der Ukraine einsetzt. Etienne Balibar begründet im Mailaustausch mit Menke, warum er nicht unterzeichnet, aber einzelne Aspekte ähnlich sieht. In seiner letzten Antwort fragt Christoph Menke nochmals eindringlich nach der Rolle der Intellektuellen und zieht Bilanz.
Lesen Sie hier Etienne Balibars erste Nachricht, Christoph Menkes erste Antwort sowie Etienne Balibars Erwiderung.
Lieber Etienne,
vielen Dank für Deine neuen Überlegungen, die die Frage „Was tun?“, genauer: „was können wir (überhaupt) tun?“, ins Zentrum stellen. Du stellst die Frage in einem zweifachen Sinn, für zwei Wir, die verschieden, aber zugleich auf eine ebenso intime wie komplexe Weise verbunden sind: Was können wir, als Intellektuelle, und wir, als Europäer, tun? Dabei gewinnt der Begriff „Europa“ bei Dir seinen Sinn nicht aus dem Bezug auf eine Weltregion, und auch nicht auf ein bestehendes Vertrags- und Institutionengefüge, sondern auf eine Idee (die eine Praxis ist) oder eine Praxis (die eine Idee ist): den Universalismus der Demokratie, also den einzig wahrhaft politischen Universalismus.
Die europäische Teilnahme an diesem Krieg – von der Du sagst, dass sie bereits eine Tatsache ist – kann nur im Namen der Demokratie geschehen. Nun wissen wir nicht erst aus den völkerrechtswidrigen Kriegen der USA in der Ära George W. Bush (zu deren willigen Unterstützern auch die Ukraine gehörte) um die Abgründe, die sich mit der Berufung auf die Demokratie auftun. Deshalb kommt alles darauf an, zwischen Demokratie und Demokratie zu unterscheiden; also die Demokratie zu kritisieren (und ist das nicht die Aufgabe der Intellektuellen, an die Du eingangs erinnerst?). Ich verstehe die enorme Herausforderung und Aufgabe, die Du uns stellst, so, dass es darum gehen muss, sich zu fragen: Was muss und kann Europa tun, wenn es an dem Krieg um die Ukraine im Namen der Demokratie teilnimmt und wenn es dies so versteht, dass wir – wir Europäer – eine wahrhaft universalistische Perspektive einnehmen: die Perspektive, dass jede*r gleichermaßen Teil hat, dass jede*r ein Teil ist? Was sehen wir, was müssen wir tun, wenn wir wahrhaft ernst nehmen, dass die demokratische Parole nur lauten kann: „Alle – oder keiner“?
Dieser Bezug auf den Universalismus der Demokratie in Deinem Brief öffnet eine neue, schockierende Einsicht. Sie besteht darin, dass kein einziger politischer Akteur derzeit diese Perspektive einnimmt; dass die Situation vielmehr dadurch gekennzeichnet ist, dass unterschiedliche Entitäten ihre partikularen Interessen und Programme verfolgen, deren ideologische Selbstbezogenheit sie mit gelegentlichen Anleihen beim Völkerrecht notdürftig zu bemänteln versuchen. Es sind mindestens drei solcher Strategien, die sich unterscheiden ließen.
Da ist zuerst der „Westen“, also, wie Du schreibst, die durch die USA definierte und dominierte Nato. Er nimmt die Gelegenheit wahr, um (so die in Ramstein ausgegebene Parole) einen seiner Feinde derart zu schwächen, dass er für die nächsten Jahrzehnte aktionsunfähig ist und in dem erwarteten wahrhaft großen Konflikt, also mit China, keine Rolle spielen wird. Der Mitnahmeeffekt für den Westen bei seiner Unterstützung der Ukraine liegt darin, dass er sein gutes Gewissen zurückgewinnt – Wir sind die Guten –, das ihm in den letzten Jahren aus guten Gründen abhandengekommen war.
Eine andere undemokratische Entität in diesem Krieg ist die „Nation“, deren tiefe und lange Geschichte von einigen ukrainischen Intellektuellen entdeckt (bis vor kurzem hätte man gesagt: erfunden) und besungen wird. Sie führen nicht einen Krieg für die demokratische Selbstbestimmung, sondern für die nationale Selbstbehauptung; deshalb ist es nicht verwunderlich, dass auf dem Weg dahin bereits jetzt grundlegende Teilhaberechte einkassiert werden. Auf abgründige Weise mischt sich noch eine dritte Partikularperspektive in diesen Chor, in der wieder die Intellektuellen – diesmal bei uns, in unseren Feuilletons – eine unheilvolle Rolle spielen. Sie führen einen sentimentalen Diskurs mitleidenden Einfühlens, ohne dessen Begrenztheiten mitzureflektieren: Warum die Einfühlung in diese Opfer – und nicht in all die anderen? Was hat es mit dem Argument auf sich, dass dieser Krieg in unserer unmittelbaren Nachbarschaft stattfindet? Will man damit sagen, dass diese Opfer uns näher und uns daher, im Unterschied zu all den anderen, so ähnlich sind – eben: „Kaukasier“ wie wir?
Es ist offensichtlich, dass aus diesen drei verschiedenen Perspektiven auch der Krieg ganz unterschiedlich gedeutet wird: ebenso seine Ursachen wie die Ziele und Strategien, die zu verfolgen sind. In der öffentlichen Debatte treten sie jedoch zumeist Hand in Hand auf – als dächten und wollten sie dasselbe; so kann man dann beliebig zwischen den Werten oder Interessen des Westens, der Behauptung der ukrainischen Nation und der Empathie für die Opfer hin und her wechseln und alles miteinander vermischen, bis militärische Realpolitik und moralische Empfindsamkeit nur noch zwei Seiten desselben zu sein scheinen. Wäre nicht zuerst nötig, hier Klarheit zu gewinnen? Auch damit die Ukraine sich klar wird, ob sie wirklich der Ort sein will, an dem der Westen und seine Feinde ihren Krieg miteinander führen. Denn man hat ja im Irak und in Afghanistan gesehen, was passiert, wenn dem Westen seine Kriege zu teuer werden. Das wird auch die Ukraine früher oder später erfahren.
Das alles betrifft die diagnostische Seite, zu der ich Deine Gedanken enorm hilfreich finde und empfehlen möchte. Du stellst aber auch die Frage, was im Namen der Demokratie zu tun ist; also einer Demokratie, die sich nicht als das Projekt des Westens, nicht als die Selbstbehauptung einer Nation, nicht als eine Partikulargemeinschaft der Empathie, sondern wahrhaft universalistisch versteht. Genau so verstehe ich auch den entscheidenden Antrieb hinter dem Aufruf, mit dem unser Austausch begonnen hat. Denn die Demokratie kann nicht nur ein Ziel sein. Sie muss auch das Mittel sein; sie muss bestimmen, wie wir vorgehen. Wer für die universalistische Demokratie kämpft, muss bereits in diesem Kampf alle einbeziehen. Es muss ein Kampf für alle sein. Und nur insoweit er das ist, kann er fordern, von allen unterstützt zu werden (so wie es für die republikanische Partei im Spanischen Bürgerkrieg galt, in dem deshalb Internationale Brigaden gekämpft haben). Der Kampf des Westens für seine Werte und Interessen; der Kampf der ukrainischen Nation für ihre Selbstbehauptung; der Kampf für den Schutz dieser uns nahestehenden und ähnlichen Opfer verdient nicht die Unterstützung aller.
Wenn man es so sieht, kann man selbstverständlich immer noch zu ganz unterschiedlichen Einschätzungen der Situation gelangen und ganz verschiedene Ansichten darüber haben, was konkret zu tun ist. Mit Deinem Einspruch gegen die Schlussfolgerungen, die der Aufruf zieht, hat unser Austausch begonnen. Ich habe dadurch aber auch besser verstanden, worin, auf einer tieferen Ebene, unsere Übereinstimmung liegt. Ich teile daher Deine Einschätzung, dass es jetzt und hier um eine politische Grundsatzentscheidung geht, vor der insbesondere Europa steht. Sie wird nicht nur den Verlauf dieses Krieges bestimmen, sondern auch, was – hoffentlich sehr schnell – nach ihm kommt: wie wir danach zusammenleben. Und ich teile Deinen Zweifel, ob Europa zu dieser Entscheidung die Kraft und den Willen hat.
Herzlich, Christoph
Christoph Menke ist Professor für Praktische Philosophie mit Schwerpunkt Politische Philosophie und Rechtsphilosophie an der Goethe-Universität Frankfurt. Im Oktober erscheint sein neues Buch „Theorie der Befreiung“ bei Suhrkamp.
Etienne Balibar ist emeritierter Professor für politische Philosophie und Moralphilosophie an der Universität Paris-X (Nanterre). Viele seiner Bücher sind ins Deutsche übersetzt. „Gleichfreiheit: politische Essays“ erschien 2012 bei Suhrkamp.
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Ein deutscher und ein französischer Philosoph debattieren über den Krieg: Anlass ist ein Appell, in dem bekannte Persönlichkeiten einen sofortigen Waffenstillstand in der Ukraine fordern. Christoph Menke ist einer der Unterzeichner und hat Etienne Balibar gefragt, ob er sich dem Appell ebenfalls anschließen will. Unter den beiden Denkern entspinnt sich ein Mailwechsel: In seiner ersten Mail hatte Balibar begründet, warum er nicht unterzeichnen möchte. Hier lesen Sie die Antwort von Christoph Menke, in der er unter anderem folgenden Gedanken entwickelt: Aus dem Rechtsurteil, dass Russland klar der Aggressor ist, folgt nicht, was jetzt zu tun ist.

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Ein deutscher und ein französischer Philosoph debattieren über den Krieg: Anlass ist ein Appell, in dem bekannte Persönlichkeiten einen sofortigen Waffenstillstand in der Ukraine fordern. Christoph Menke ist einer der Unterzeichner und hat Etienne Balibar gefragt, ob er sich dem Appell ebenfalls anschließen will. Unter den beiden Denkern entspinnt sich ein Mailwechsel: In einer ersten Antwort begründet Balibar, warum er viele Sorgen teilt, aber dennoch nicht unterzeichnen möchte. Die Reaktion Christoph Menkes lesen Sie hier.

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