Lieber Etienne, lieber Christoph…
Ein deutscher und ein französischer Philosoph debattieren über den Krieg: Anlass ist ein Appell, in dem bekannte Persönlichkeiten einen sofortigen Waffenstillstand in der Ukraine fordern. Christoph Menke ist einer der Unterzeichner und hat Etienne Balibar gefragt, ob er sich dem Appell ebenfalls anschließen will. Unter den beiden Denkern entspinnt sich ein Mailwechsel: In seiner ersten Mail hatte Balibar begründet, warum er nicht unterzeichnen möchte. Hier lesen Sie die Antwort von Christoph Menke, in der er unter anderem folgenden Gedanken entwickelt: Aus dem Rechtsurteil, dass Russland klar der Aggressor ist, folgt nicht, was jetzt zu tun ist.
Lieber Etienne,
vielen Dank für Deine Antwort, die zwei sehr wichtige kritische Einwände aufwirft, über die ich noch viel länger und sorgfältiger nachdenken müsste, um ihnen gerecht zu werden. Ich möchte vorerst nur einen Aspekt erwähnen, der mir wichtig erscheint (und der es mir ermöglicht hat, mich dem Aufruf anzuschließen). Das ist der – zumindest nach meinem Verständnis (d.h. ohne Rücksprache mit den Autoren) – dezidiert strategische Sinn der Beschwerde. Das betrifft Deine beiden Punkte:
1) Meiner Meinung nach stellt sich überhaupt nicht die Frage, wo in diesem Konflikt Recht und Unrecht liegen. Dazu braucht man sich nicht auf „unsere Werte“ zu berufen (wie man es in den Debatten hier so oft hört; auf dieses Problem komme ich gleich noch zu sprechen). Es ergibt sich einfach aus den absolut grundlegenden Prinzipien des Völkerrechts: Russland ist der Aggressor, die Ukraine ist das – unschuldige – Opfer dieser Aggression und hat daher natürlich jedes Recht der Welt sich zu verteidigen. Wie könnte man das ignorieren oder gar leugnen?
Das Problem beginnt dort, wo man versucht, aus diesem Rechtsurteil ein Kriterium oder zumindest einen Hinweis abzuleiten, wie ein Ende des Krieges erreicht werden könnte. Dass dies bereits unmittelbar aus der Entscheidung über Recht und Unrecht folgt, behaupten diejenigen, die immer wieder die Analogie zum Krieg gegen Nazideutschland beschwören (indem sie z.B. sagen, Russlands Kriegsziel sei „Vernichtung“). Wenn diese Analogie zuträfe, wäre die einzige Möglichkeit, den Krieg zu beenden, die vollständige Niederlage des Feindes. Wenn sie nicht stimmt (was ich glaube), dann ist es falsch, immer wieder darauf zu bestehen, dass die Ukraine „gewinnen“ muss; dass dies die einzige Lösung sein kann – wie es die Position des „Westens“ ist. Denn das hängt natürlich davon ab, ob die Ukraine dazu überhaupt in der Lage ist – und welche Kosten, vor allem, aber nicht nur für die Ukraine, ein solcher Versuch mit sich bringt. Der strategische Punkt des Appells (so wie ich ihn verstehe) ist also zu sagen: Aus der Rechtsfrage – deren Antwort klar ist – folgt nicht unmittelbar, was jetzt zu tun ist. Wir sollten diese beiden Fragen zwar nicht einfach trennen, aber auch nicht als dasselbe behandeln.
2) Der strategische Sinn ist auch für die Bezugnahme auf „den Westen“ in dem Aufruf wichtig. Nach meinem Verständnis hat dieser Bezug nicht den Sinn, den Westen als „Wertegemeinschaft“ und global agierenden Akteur anzusprechen, der für deren Verteidigung oder Sicherung verantwortlich ist; das wäre eine fatale Wiederholung und Bestätigung der eigenen Ideologie. Der Westen ist hier auf eine ganz andere Weise im Spiel. Er ist de facto bereits in den Krieg verwickelt, er ist vor Ort: Er hat ihn zu einem Krieg gegen die Feinde des Westens gemacht. Er hat diesen Krieg zu seinem eigenen gemacht: Die russische Aggression gegen die Ukraine wurde zu einem Angriff auf den Westen erklärt, und der Westen hat die Verteidigung der Ukraine gegen die russische Aggression zu einem Kampf gegen seine eigenen Feinde, die Feinde des Westens, erklärt. Das hat (in der deutschen Diskussion) schon mit den allerersten Erklärungen der grünen Außenministerin begonnen, die von Anfang an die völkerrechtliche Legitimität der Ukraine mit einer Fülle von ideologischen Parolen überboten hat: Verteidigung der liberalen Demokratie, der Freiheit, der Menschenrechte und so weiter. Und natürlich ist jetzt die Reminiszenz an die Geburt Europas aus dem Kampf gegen die Tyrannei – das Drehbuch der Perserkriege – hinzugekommen. (Dies sind Beispiele aus der deutschen Diskussion; über die in anderen europäischen Ländern weiß ich zu wenig).
Kurzum: Der Appell richtet sich an den Westen als real existierendes ideologisches Konstrukt, das sich fatal auf die weitere Eskalation des Krieges auswirkt (in einer Dynamik der Ausweitung der Kriegsziele, die in den letzten Wochen vielleicht erstmals etwas abgemildert wurde). Der strategische Sinn des Westbezugs besteht darin, den Westen, der sich zum entscheidenden Akteur erklärt und die Definition der Kriegsursachen und -ziele zu seiner Sache gemacht hat, tatsächlich für das verantwortlich zu machen, was in der Ukraine (und, als Folge des Krieges, in der Welt) geschieht.
3) Die Rolle, die der Westen in diesem Krieg spielt, führt mich zu einem weiteren Punkt, der über die Problematik des Appells, mit dem unser Gespräch begonnen hat, hinausgeht. Er bezieht sich auf das wichtige Argument Ihres Papiers, dass nicht nur dieser Krieg, sondern auch die Ukraine in diesem Krieg – also das, was die Ukraine ist – auf vielfältige Weise gelesen werden kann. Dabei spielt die Intervention des Westens eine besonders fatale Rolle: Der Westen überschreibt diesen Konflikt und macht so die Ukraine zu seiner Kampftruppe gegen seine Feinde. Er missbraucht den Konflikt, um sich neu zu konstituieren – um seine Vormachtstellung und ideologische Programmatik wiederherzustellen, die in den letzten Jahren mit guten Gründen ins Wanken geraten ist. Das ist auch eine der deprimierenden Erfahrungen der letzten Monate: wie die kritische (Selbst-)Infragestellung des Westens und Europas völlig in Vergessenheit geraten kann, weil man nun meint, wiedergefunden zu haben, was die eigene Vormachtstellung rechtfertigt.
Alles Gute, Christoph •
Christoph Menke ist Professor für Praktische Philosophie mit Schwerpunkt Politische Philosophie und Rechtsphilosophie an der Goethe-Universität Frankfurt. Im Oktober erscheint sein neues Buch „Theorie der Befreiung“ bei Suhrkamp.
Etienne Balibar ist emeritierter Professor für politische Philosophie und Moralphilosophie an der Universität Paris-X (Nanterre). Viele seiner Bücher sind ins Deutsche übersetzt. „Gleichfreiheit: politische Essays“ erschien 2012 bei Suhrkamp.
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Ein deutscher und ein französischer Philosoph debattieren über den Krieg: Christoph Menke hat einen Appell unterzeichnet, der sich für einen sofortigen Waffenstillstand in der Ukraine einsetzt. Etienne Balibar begründet im Mailaustausch mit Menke, warum er nicht unterzeichnet, aber einzelne Aspekte ähnlich sieht. In seiner heutigen Antwort skizziert Balibar, warum „wir“ längst Teil des Krieges sind und es die moralische Pflicht der UNO ist, zwischen den Parteien zu vermitteln.

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Ein deutscher und ein französischer Philosoph debattieren über den Krieg: Christoph Menke hat einen Appell unterzeichnet, der sich für einen sofortigen Waffenstillstand in der Ukraine einsetzt. Etienne Balibar begründet im Mailaustausch mit Menke, warum er nicht unterzeichnet, aber einzelne Aspekte ähnlich sieht. In seiner letzten Antwort fragt Christoph Menke nochmals eindringlich nach der Rolle der Intellektuellen und zieht Bilanz.

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Kommentare
Ich vermisse die Multiperspektivität von Habermas. Es zeugt nicht gerade von großer philosophischer Kompetenz wenn Stellungnahmen in Allgemeinplätzen versinken, denn zum einen sind wir performativ ‚der Westen‘ in all seiner erlaubten Widersprüchlichkeit, zum anderen bestätigen wir uns nicht in Ideologie, zumal wir keine konstituieren - es sei denn, Menke versteht Demokratien als solche. Er suggeriert die Lesart eines Stellvertreterkrieges und setzt den Begriff der Wertegemeinschaft in Anführungszeichen. Vielleicht ist das die Misere der Unterzeichner: die Unfähigkeit unsere Freiheit gegen eindeutige instrumentelle Unfreiheit zu verteidigen ohne konkrete Alternativen benennen zu können. Nicht nur in dieser Welt, Saul Kripke stehe uns bei, sondern in jeder möglichen Welt mit demselben moralischen Dilemma.
Ist schade, dass der Autor noch nicht dazu kam, über die Einwände nachzudenken. Also geht er nicht darauf ein, sondern greift lieber in die linke Mottenkiste:
" Er (der sog. Westen) missbraucht den Konflikt, um sich neu zu konstituieren – um seine Vormachtstellung und ideologische Programmatik wiederherzustellen, die in den letzten Jahren mit guten Gründen ins Wanken geraten ist".
Wer hier einen Konflikt zwischen Demokratie und autoritärer Kleptokratie mit Großmachtphantasien sieht, wird mal kurz in die imperalistische Ecke gestellt.
Sollen die sich doch mit ihren Mistgabeln verteidigen - oder besser es lassen; gebt dem Schulhofschläger, was er will und dann gibt er erst mal Ruhe und uns wieder unser geliebtes Gas.