Longtermism: Eine neue Theorie für die Zukunft?
Eine neue, am Utilitarismus ausgerichtete Denkschule sorgt sich um die Zukunft der Menschheit – und hält die Folgen der Klimakrise dabei für nebensächlich. Was hat es mit dieser Theorie auf sich?
Die Menschen der Zukunft werden so einiges ausbaden müssen. Heute in den Ozean geworfenes Plastik wird bis 2520 in den Weltmeeren treiben, der bis dato angehäufte Atommüll strahlt noch für Millionen Jahre und wenn wir die Erderwärmung nicht unter 2 Grad gegenüber vorindustriellen Zeiten halten, werden Teile der Erde bald unbewohnbar sein. Angesichts der oft moralisch kurzsichtigen Entscheidungen in der Klimapolitik fordern Aktivisten deshalb „enkelgerechte“ Planungen. Und auch das Bundesverfassungsgericht mahnte jüngst, die Regierung vernachlässige ihre Schutzverpflichtungen gegenüber künftigen Generationen durch unzureichende Emissionsreduktion.
Zur selben Zeit widmet sich eine Gruppe junger Philosophieprofessoren aus Oxford einer neuen Ethik für künftige Generationen an gravitätisch klingenden Instituten wie Global Priorities oder Future of Humanity. „Longtermism“ heißt ihre Theorie, die sich an erster Stelle mit den Auswirkungen unserer Handlungen auf kommende Generationen befasst und dabei zu dem überraschenden Schluss kommt, dass wir uns im Namen der zukünftig Geborenen wenig Sorgen um die Klimakrise machen müssen, da Roboterapokalypsen und intergalaktische Kriege hingegen die größeren Gefahren darstellten. Diese bizarre Schlussfolgerung ist das Ergebnis einer explosiven Mischung aus utilitaristischem Denken, einem Blick in die sehr, sehr ferne Zukunft und zehn Millionen Dollar von Elon Musk.
Der Longtermism fußt zunächst auf dem Utilitarismus, eine im 18. Jahrhundert entstandene moralphilosophische Strömung, die „das größtmögliche Glück für die größtmögliche Anzahl Menschen“ anstrebt. Glück wird dabei als Freude sowie Abwesenheit von Leid verstanden. Wichtig ist dabei, dass es nur um die Anzahl, nicht aber die Identität der Betroffenen geht, für die eine Handlung gut sein soll: Der Utilitarismus ist radikal unparteiisch. Das macht ihn in besonderem Maße dazu geeignet, auf Freude und Leid derer zu verweisen, die in moralischen Überlegungen blindlings übergangen wurden. Im Namen des größtmöglichen Glücks für die größte Zahl forderte Jeremy Bentham deshalb im frühen 19. Jahrhundert die Abschaffung der Sklaverei und des Kolonialismus.
Spin-Off des Effektiven Altruismus
Rund 200 Jahre später argumentierte der australische Utilitarist Peter Singer in seinem 1972 erschienenen Aufsatz Hunger, Wohlstand und Moral, dass Menschen in wohlhabenden Industrienationen moralisch dazu verpflichtet seien, einen Großteil ihres Einkommens zu spenden, um Menschen im globalen Süden zu helfen. Viele sind Singers Aufruf tatsächlich gefolgt und aus dem Utilitarismus entwickelte sich seit den 2010er Jahren der Effektive Altruismus, eine soziale Bewegung, deren Anhänger mindestens 10 Prozent, oft aber weit größere Teile Ihres Einkommens für wohltätige Zwecke spenden.
Das Ziel der Effektiven Altruisten besteht darin, so viel Gutes wie möglich zu tun, indem sie Kosten-Nutzen-Rechnungen aufstellen und evaluieren, wie effizient ihre Spenden in verschiedenen Organisationen verwendet werden. Besonders effektiv ist etwa der Kauf von Moskitonetzten, die vor Malariaübertragung schützen. Ein Netz kostet ungefähr fünf Euro und schützt zwei Menschen vor einer lebensgefährlichen Infektion. Da so jeder Euro in gerettete Leben umgerechnet werden kann, pflegen viele Effektive Altruisten einen nahezu asketischen Lebensstil oder richten ihre gesamte Karriere danach aus, möglichst viel Geld zu verdienen, das sie spenden können.
Der Longtermism lässt sich nun am besten als ein Spin-off des Effektiven Altruismus beschreiben. Die strengen moralischen Forderungen nach Verzicht, die das Wesen des Effektiven Altruismus ausmachen, sind leiser geworden. Die Befürworter des Longtermism befassen sich zwar immer noch mit der Frage, wie sie am meisten Gutes tun können, blicken dabei aber kaum noch auf das Leid gegenwärtig lebender Menschen. Stattdessen argumentieren ihre Vordenker, die Philosophieprofessoren Hilary Greaves und William MacAskill, dass sich der Wert einer Handlung maßgeblich daran bemisst, welche Konsequenzen sie für Menschen hat, die erst in Zukunft leben werden, da bei ihnen das größte Glück der größtmöglichen Zahl zu finden ist.
Besiedelung der Milchstraße
„Die Zukunft“ ist hier weit gefasst. Es geht nicht um die nächsten hundert, sondern Millionen oder gar Milliarden Jahre. In dieser Zeit, so die Annahme der Longtermisten, wird die Lebensqualität der Menschen stetig weiter steigen, sodass zukünftige Menschen einen höheren Lebensstandard genießen können als die Reichsten von heute. Außerdem könnte sich die Zahl dieser rundum glücklichen Zukunftsmenschen vervielfachen, wenn sie zum Beispiel die Milchstraße besiedeln, was im Longtermism eher als plausible Möglichkeit denn als Sci-Fi-Szenario gehandelt wird. Die Annahme eines langen Fortbestands der Menschheit – inklusive solch einer galaktischen Expansion – führt die Anhänger dieser Theorie zu atemberaubenden Zahlen. Plötzlich umfassen zukünftige Generationen bis zu 1036 Menschen.
Angesichts dieser überwältigenden Schätzungen sind die Menschen der Zukunft so eklatant in der Überzahl, dass die Leiden gerade lebender Personen verschwindend gering erscheinen: „Nur“ 690 Millionen Menschen leiden heute an Hunger. Im Sinne der Nutzenmaximierung sollte man also sicherstellen, dass das Überleben der Menschheit hinreichend gesichert ist und der technische Fortschritt stetig voranschreitet, damit die 1036 nächsten Menschen eine glückliche Existenz genießen können, so die Folgerung des Longtermsim. Beides ließe sich zum Beispiel mit einer Erderwärmung weit über den im Pariser Klimaabkommen festgehaltenen 1,5 Grad ermöglichen.
Ein weitestgehend ungebremster Klimawandel wäre zweifelsfrei dramatisch, laut den Longtermisten aber nicht existenzbedrohend für die Menschheit als solches und damit nur eine vergleichsweise kurze düstere Episode in der Millionen Jahre langen Erfolgsgeschichte. Und natürlich erscheinen auch ganz andere Katastrophen, Kriege und Konflikte vom Standpunkt des Longtermism aus verschwindend klein. Oder in Greaves und MacAskills Worten: „Wäre die Geschichte der Menschheit ein Buch, befänden wir uns noch immer auf der ersten Seite.“
Das Silicon Valley freut sich
Man könnte gegen diese Form der Zukunftsobsession einwenden, dass die Menschheit vielleicht gar keine Millionen Jahre mehr bestehen wird oder es den Menschen, die in Zukunft geboren werden, vielleicht schlechter ergeht als gegenwärtigen Generationen. Schließlich bleiben uns hier bloß Prognosen und Wahrscheinlichkeiten. Doch selbst eine sehr ungewisse Zukunft kann die Gegenwart völlig in den Schatten stellen, wenn sie nur genug Gewicht in die utilitaristische Waagschale bringt und selbst allerniedrigste Wahrscheinlichkeiten nicht verworfen werden. Wenn zum Beispiel eine Option A mit Sicherheit eintausend Leben rettet und eine riskante Option B dagegen eine eins zu einer Trillion Chance bietet, eine Quintillion Leben zu retten, dann sind Anhänger des Longtermism zumindest in Versuchung, Option B zu wählen, so Greaves und MacAskill.
Als würde der Longtermism nicht schon durch solche kontraintuitiven Schlussfolgerungen einen unsympathischen Eindruck hinterlassen, zählt er noch einige Silicon Valley-Milliardäre wie PayPal-Gründer Peter Thiel, oder Jaan Tallin, Mitbegründer von Skype, zu seinen Unterstützern. Elon Musk gehört zudem zu den Förderern des Future of Humanity Institute in Oxford, das sich mit dem Abwenden existenzieller Bedrohungen befasst. Der Longtermism und die Milliardäre ziehen sich an. Denn zunächst liefert das Ultralangzeitdenken den reichsten Menschen der Welt eine „ethische Entschuldigung“, wenn sie lieber in die Besiedelung des Mars investieren, statt den Welthunger zu bekämpfen, sagt Longtermism-Kritiker und Philosoph Phil Torres.
Außerdem versucht der Longtermism wie auch schon der Effektive Altruismus nicht, Machtgefüge, die zu Ungleichheit und Leiden führen, zu verstehen, kritisiert wiederum Amia Srinivasan, Professorin für Politische Theorie in Oxford. Die Theorie spreche also diejenigen an, die vom Status quo profitieren. Darüber hinaus überschneiden sich die Interessen des Longtermism und die Weltsicht technophiler Großspender. Beide Parteien fühlen sich dem Kampf gegen feindliche Künstlichen Intelligenz verbunden und sehen hier den größten Spenden- und Investitionsbedarf. Elon Musk gehört zum Beispiel zu den Gründern und Förderern von OpenAI, einem Unternehmen, das seit 2015 an dem Menschen wohlgesinnter Künstlicher Intelligenz forscht; seine eigenen Spekulationen über zukünftigen Gefahren, die es im Bereich der KI abzuwenden gilt, werden von Experten bisweilen misstrauisch betrachtet.
Engel der Geschichte
Im besten Fall klingt der Longtermism abschreckend, im schlimmsten Fall weist die Theorie proto-faschistische Züge auf. Fest steht: Die utilitaristische Absicht, das Gute für möglichst viele Menschen zu bewirken, und die Hoffnung auf ein utopisches Leben für kommende Generationen bringen mit dem Longtermism eine Moraltheorie hervor, die die Gegenwart im Stich lässt. Die Klimakrise wird sehenden Auges in Kauf genommen, Kriege werden kleingerechnet, gegenwärtiges Leid wegrationalisiert, alles im Namen eines optimierten Morgen. Der Longtermism scheint jenen gefühlskalten Fortschrittsglauben zu verkörpern, vor dem Walter Benjamin schon vor rund hundert Jahren gewarnt hat.
In Über den Begriff der Geschichte beschreibt Benjamin den Fortschritt als einen Sturm, der verheißungsvoll „vom Paradise her“ weht. Er reißt in seiner Geschwindigkeit den „Engel der Geschichte“ gewaltsam mit sich und während der Engel zurück in die Vergangenheit blickt, sieht er nur noch „eine einzige Katastrophe, die Trümmer auf Trümmer häuft“. Er will diesen Trümmerhaufen wieder aufbauen, kann dem Sog des Fortschritts aber nicht entkommen und wird erbarmungslos weiter Richtung Zukunft gezogen. Es bleibt nur zu hoffen, dass der Longtermism nicht vor lauter Weitsicht den Blick fürs Wesentliche verliert, und unbemerkt einen solchen Trümmerhaufen auf den Weg in die die paradiesische Zukunft ansammelt. •
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