Hayden Wilkinson: „Wir sollten die Menschen der Zukunft vor Leid bewahren“
Vertreter des Longtermism argumentieren für eine drastische Erweiterung unseres moralischen Horizonts: Nicht nur unsere Kinder und Enkelkinder, sondern auch Menschen, die vielleicht erst in mehreren Millionen Jahren leben werden, sollten in unseren heutigen Entscheidungen Beachtung finden. Der Philosoph Hayden Wilkinson erklärt, was es mit diesem neuen Langfristigkeitsdenken auf sich hat und warum wir uns gerade jetzt um die ferne Zukunft sorgen sollten.
Philosophie Magazin: Herr Wilkinson, das Global Priorities Institute in Oxford untersucht, wie wir mit unseren begrenzten Ressourcen das meiste Gute tun können. Warum müssen wir über die Zukunft nachdenken, um das herauszufinden?
Hayden Wilkinson: Wenn wir möglichst viel Gutes tun und unsere Ressourcen effektiv einsetzen wollen, dann wollen wir, dass unsere Handlungen – wie Spenden oder politische Interventionen – möglichst vielen Menschen helfen. Wenn wir uns beispielsweise überlegen, ob wir Menschen in unserer Heimatstadt helfen sollten oder im globalen Süden, wo Spendengelder mehr erreichen können, dann scheint es sinnvoll, die Gesundheitsversorgung im globalen Süden zu verbessern: Mehr Menschen profitieren dort davon und wir können ihnen kosteneffizienter helfen. Ähnlich verhält es sich mit der Zukunft: In der Gegenwart leben etwa acht Milliarden Menschen. In der Zukunft, nur eine Generation weiter, leben weitere acht Milliarden und in der nächsten Generation weitere acht. Wenn wir die ganze Zukunft der Menschheit betrachten und zu allen Menschen schauen, die nach uns kommen werden, dann gibt es in der Zukunft unglaublich viel mehr Menschen als in der Gegenwart.
Philosophie Magazin +

Testen Sie Philosophie Magazin +
mit einem Digitalabo 4 Wochen kostenlos
oder geben Sie Ihre Abonummer ein
- Zugriff auf alle PhiloMagazin+ Inhalte
- Jederzeit kündbar
- Einfache Registrierung per E-Mail
- Im Printabo inklusive
Hier registrieren
Sie sind bereits Abonnent/in?
Hier anmelden
Sie sind registriert und wollen uns testen?
Probeabo
Weitere Artikel
Kleine Philosophie der Reparatur
Nicht die großen Schöpfungsmomente sorgen für den reibungslosen Ablauf unseres Lebens, sondern die kleinen Akte des Kümmerns, Pflegens und Bewahrens. Dabei birgt das Reparieren als Kulturtechnik auch politisches Potenzial.

Krieg im Jemen: Unsere moralische Kurzsichtigkeit
Seit Jahren wird der Jemen von zahlreichen Krisen erschüttert. Doch trotz eines brutalen Krieges und einer sich verschärfenden Hungersnot wird hierzulande kaum von der dortigen Lage Notiz genommen. Juliane Marie Schreiber erläutert, warum sich unsere Empathie allzu oft nur auf den engsten „moralischen Kreis“ beschränkt und weshalb eine Erweiterung dieses Radius gerade im Fall von Jemen dringend notwendig wäre.

Katja Maria Vogt: „Kosmopolitismus ist kein Ideal, sondern eine wissenschaftliche Tatsache“
Die Stoiker waren die ersten Denker, die für eine kosmopolitische Weltsicht argumentieren. In gewisser Weise sind sie damit unserem heutigen wissenschaftlichen Weltverständnis sehr nahe, so die Philosophin Katja Maria Vogt.

Kann uns die Liebe retten?
Der Markt der Gefühle hat Konjunktur. Allen voran das Geschäft des Onlinedatings, welches hierzulande mit 8,4 Millionen aktiven Nutzern jährlich über 200 Millionen Euro umsetzt. Doch nicht nur dort. Schaltet man etwa das Radio ein, ist es kein Zufall, direkt auf einen Lovesong zu stoßen. Von den 2016 in Deutschland zehn meistverkauften Hits handeln sechs von der Liebe. Ähnlich verhält es sich in den sozialen Netzwerken. Obwohl diese mittlerweile als Echokammern des Hasses gelten, strotzt beispielsweise Facebook nur so von „Visual-Statement“-Seiten, deren meist liebeskitschige Spruchbildchen Hunderttausende Male geteilt werden. Allein die Seite „Liebes Sprüche“, von der es zig Ableger gibt, hat dort über 200 000 Follower. Und wem das noch nicht reicht, der kann sich eine Liebesbotschaft auch ins Zimmer stellen. „All you need is love“, den Titel des berühmten Beatles-Songs, gibt es beispielsweise auch als Poster, Wandtattoo, Küchenschild oder Kaffeetasse zu kaufen.
Hat Deutschland im Rahmen der Flüchtlingskrise eine besondere historisch bedingte Verantwortung
Während viele Deutsche nach 1945 einen Schlussstrich forderten, der ihnen nach der Nazizeit einen Neubeginn ermöglichen sollte, ist seit den neunziger Jahren in Deutschland eine Erinnerungskultur aufgebaut worden, die die Funktion eines Trennungsstrichs hat. Wir stellen uns der Last dieser Vergangenheit, erkennen die Leiden der Opfer an und übernehmen Verantwortung für die Verbrechen, die im Namen unseres Landes begangen worden sind. Erinnert wird dabei an die Vertreibung, Verfolgung und Ermordung der Juden und anderer ausgegrenzter Minderheiten. Dieser mörderische Plan konnte nur umgesetzt werden, weil die deutsche Mehrheitsgesellschaft damals weggeschaut hat, als die jüdischen Nachbarn gedemütigt, verfolgt, aus ihren Häusern geholt, deportiert wurden und für immer verschwunden sind. Weil den Deutschen über Jahrhunderte hinweg eingeprägt worden war, dass Juden radikal anders sind und eine Bedrohung darstellen, kam es zu diesem unfasslichen kollektiven Aussetzen von Mitgefühl.
Judith Butler und die Gender-Frage
Nichts scheint natürlicher als die Aufteilung der Menschen in zwei Geschlechter. Es gibt Männer und es gibt Frauen, wie sich, so die gängige Auffassung, an biologischen Merkmalen, aber auch an geschlechtsspezifischen Eigenschaften unschwer erkennen lässt. Diese vermeintliche Gewissheit wird durch Judith Butlers poststrukturalistische Geschlechtertheorie fundamental erschüttert. Nicht nur das soziale Geschlecht (gender), sondern auch das biologische Geschlecht (sex) ist für Butler ein Effekt von Machtdiskursen. Die Fortpf lanzungsorgane zur „natürlichen“ Grundlage der Geschlechterdifferenz zu erklären, sei immer schon Teil der „heterosexuellen Matrix“, so die amerikanische Philosophin in ihrem grundlegenden Werk „Das Unbehagen der Geschlechter“, das in den USA vor 25 Jahren erstmals veröffentlicht wurde. Seine visionäre Kraft scheint sich gerade heute zu bewahrheiten. So hat der Bundesrat kürzlich einen Gesetzesentwurf verabschiedet, der eine vollständige rechtliche Gleichstellung verheirateter homosexueller Paare vorsieht. Eine Entscheidung des Bundestags wird mit Spannung erwartet. Welche Rolle also wird die Biologie zukünftig noch spielen? Oder hat, wer so fragt, die Pointe Butlers schon missverstanden?
Camille Froidevaux-Metteries Essay hilft, Judith Butlers schwer zugängliches Werk zu verstehen. In ihm schlägt Butler nichts Geringeres vor als eine neue Weise, das Subjekt zu denken. Im Vorwort zum Beiheft beleuchtet Jeanne Burgart Goutal die Missverständnisse, die Butlers berühmte Abhandlung „Das Unbehagen der Geschlechter“ hervorgerufen hat.
Und woran zweifelst du?
Wahrscheinlich geht es Ihnen derzeit ähnlich. Fast täglich muss ich mir aufs Neue eingestehen, wie viel Falsches ich die letzten Jahre für wahr und absolut unumstößlich gehalten habe. Und wie zweifelhaft mir deshalb nun alle Annahmen geworden sind, die auf diesem Fundament aufbauten. Niemand, dessen Urteilskraft ich traute, hat den Brexit ernsthaft für möglich gehalten. Niemand die Wahl Donald Trumps. Und hätte mir ein kundiger Freund vor nur zwei Jahren prophezeit, dass im Frühjahr 2017 der Fortbestand der USA als liberaler Rechtsstaat ebenso ernsthaft infrage steht wie die Zukunft der EU, ich hätte ihn als unheilbaren Apokalyptiker belächelt. Auf die Frage, woran ich derzeit am meisten zweifle, vermag ich deshalb nur eine ehrliche Antwort zu geben: Ich zweifle an mir selbst. Nicht zuletzt frage ich mich, ob die wundersam stabile Weltordnung, in der ich als Westeuropäer meine gesamte bisherige Lebenszeit verbringen durfte, sich nicht nur als kurze Traumepisode erweisen könnte, aus der wir nun alle gemeinsam schmerzhaft erwachen müssen. Es sind Zweifel, die mich tief verunsichern. Nur allzu gern wüsste ich sie durch eindeutige Fakten, klärende Methoden oder auch nur glaubhafte Verheißungen zu befrieden.
Natürlich Feministin?
Die Schauspielerin Kate Winslet bestand jüngst darauf, dass ihre Lidfalten in einer neuen Serie nicht retuschiert werden. Vertreterinnen einer jüngeren feministischen Generation setzen hingegen nicht auf die Ablehnung, sondern gerade auf die Aneignung solcher Schönheitsideale. Ein Widerspruch?
