Philosophie des Baumes
Bäume sind unsere Lebensgrundlage. Aber warum erregt ein sterbender Baum Mitleid? Weshalb ritzen Paare ihre Initialen in seinen Stamm? Wieso entzünden sich an ihm Revolutionen? Weil der Baum weit mehr ist als nur ein Spender von Sauerstoff. Der Baum: Das sind wir. Eine Reise zu den Wurzeln unserer Kultur.
Von meinem Fenster aus blicke ich auf einen kleinen Platz mit japanischen Zierkirschen. Im März schmücken sie sich mit anmutigen rosa Blüten, im Juni rauschen Sommerwinde durch ihre Kronen und im Herbst leuchten sie in prächtigem Rot und Gelb. Letzten Oktober mussten vier von ihnen gefällt werden. Nach drei Dürresommern in Folge geht es den Bäumen und Wäldern in Deutschland schlecht. Besonders in den tieferen Bodenschichten herrscht große Trockenheit, sodass die Wurzeln nicht mehr genügend Wasser aufnehmen können. Die Kirschbäume sind wahrscheinlich schlicht und einfach vertrocknet.
Ich bin kein Hippie. Ich habe noch nie einen Baum umarmt. Doch nun beobachte ich mich dabei, wie ich jeden Abend mit randvollen Wassereimern unermüdlich Treppen steige, um die verbliebenen drei Bäume zu gießen. Ich kann es mir selbst nicht erklären. Ein bisschen schäme ich mich sogar. Natürlich, Bäume versorgen uns mit lebenswichtigem Sauerstoff. Dennoch kann sich meine starke emotionale Anteilnahme an dem Schicksal der Zierkirschen nicht ganz von dem Vorwurf befreien, das Leiden der Bäume letztendlich ernster zu nehmen als das der Menschen. Was Bertolt Brecht in den dreißiger Jahren in seinem Gedicht An die Nachgeborenen schrieb, gilt heute nach wie vor. Immer noch leben wir in Zeiten, in denen „ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist / weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt!“.
Und trotzdem. Ich kann mich nicht dagegen wehren. Der Anblick der dürren, kahlen Äste scheint etwas in mir zu berühren, das in der Lage ist, große emotionale Energien freizusetzen. Und es geht nicht nur mir so. Bäume bringen die Menschen auf die Straßen. Der Aktivismus beschränkt sich dabei längst nicht auf solche sportlichen Übungen wie das Wassertragen: Demonstrationen gegen die Zerstörung von Parks und Wäldern wachsen sich nicht selten zu handfesten politischen Protestbewegungen aus.
Der Baum als Gegenüber
Im Jahr 2013 stellte sich in einem Istanbuler Stadtpark ein Mann einem Bagger entgegen, um die Bebauung einer der letzten verbliebenen städtischen Grünflächen und damit einhergehend die Fällung zahlreicher alter Bäume zu verhindern. Der Widerstand fand schnell Tausende Unterstützer und gipfelte nach der gewaltsamen Räumung des Parks in einem landesweiten Protest gegen die als autoritär empfundene türkische Regierung. Die Gezi-Park-Proteste, Stuttgart 21, die Proteste im Hambacher Forst – sie alle begannen mit dem Schmerz und dem Zorn, den ein gefällter Baum in uns auslöst. Wie lassen sich diese starken Emotionen erklären? Woher kommt die als so intensiv wahrgenommene Verbundenheit, die in Baumumarmungen und Liedern wie Mein Freund, der Baum gipfelt? Geht es dabei allein um die Sorge um die Natur, um den Schutz eines anderen Organismus, der durch die Ausbreitung des Menschen immer mehr in Gefahr gerät? Oder erkennen wir im Baum vielmehr – uns selbst?
Der Versuch, der menschlichen Kultur eine von ihr radikal verschiedene „Natur“ entgegenzusetzen, gerät schon bei den einfachsten Fragen in Schwierigkeiten, zum Beispiel wenn es um den Status unserer Kulturgegenstände geht. Kulturelle Objekte (Pfeile, Stühle, Tische …) entstehen nicht ohne die Natur, sondern durch die Auseinandersetzung mit ihr. Der Mensch wirkt auf die Natur ein und formt das dort Vorgefundene zu einem durchaus rätselhaften Artefakt, das weder etwas rein Natürliches noch etwas ganz von der Natur Geschiedenes darstellt. Bei der Unterscheidung Natur/Kultur handelt es sich nicht um ein striktes Gegensatzpaar, sondern um eine komplizierte Verflechtung, die so eng ist, dass Karl Marx die Natur als den „unorganischen Leib des Menschen“ bezeichnete. Sie ist das Material, aus dem die menschliche Kultur geformt wird. Und eines der ersten und wichtigsten Materialien dieser Formung war das Holz. Im wahrsten Sinne des Wortes: Der griechische Begriff der „hyle“, der bei Aristoteles die formbare Materie, die Ursubstanz bezeichnet, hatte ursprünglich die Bedeutung von „Holz, „Gehölz“. In diesem Sinne befindet sich der Baum genau auf der Schnittstelle zwischen Natur und Kultur. Er ist das Scharnier, das den Menschen mit der Natur verlinkte und ihm dennoch neue Türen öffnete.
Als vor einer Million Jahren der Homo erectus in der südafrikanischen Savanne lernte, das Feuer zu zähmen und es mit Ästen und Stöckchen weiter am Leben zu halten, hatte das weitreichende Konsequenzen. Primaten verwenden große Zeit und Energie darauf, Früchte zu zerkauen und zu verdauen. Doch erhitzte Nahrung – vor allem gekochtes oder gebratenes Fleisch – liefert deutlich mehr Nährstoffe in kürzerer Zeit und ermöglicht so ein größeres Wachstum des Gehirns. An einem Haufen brennenden Holzes trennt sich der Mensch vom Affen. Der französische Anthropologe Claude Lévi-Strauss beschreibt das Küchenfeuer in seinem Werk Das Rohe und das Gekochte als das wesentliche Phänomen, das den Übergang zwischen Kultur und Natur markiert. Verläuft die natürliche Transformation der Nahrung laut Lévi-Strauss vom Rohen zum Verdorbenen, stellt das Kochen einen Eingriff in diesen Prozess von ganz anderer Art dar: Es ist ein erster kultureller Akt. Wie der Pfeil ist auch die gebratene Gazelle ein Kulturgegenstand. Zusätzlich hat das Zusammenkommen um die wärmende und schützende Feuerstelle entscheidend zum sozialen Miteinander beigetragen, zu einer Kultur, in der Geschichten erzählt und Mythen weitergetragen werden.

Bild: Benjakon
Innerhalb derselben Logik einer Bearbeitung des Natürlich-Vorgefundenen vollzieht sich auch der vielleicht folgenreichste Entwicklungsschritt der Menschheit: die neolithische Revolution. Vor ungefähr 10 000 Jahren geben die jungsteinzeitlichen Homo sapiens ihr glückliches Jäger- und Sammlerleben auf und beginnen in der Gegend des fruchtbaren Halbmonds Wildgetreide und Obst- und Olivenbäume zu kultivieren. Dies ist der Moment, in dem die Menschen die Früchte eines Baumes nicht mehr bloß konsumieren, sondern begreifen, dass sie durch Pflanzung der Samen neue Gewächse züchten können und somit selbst zum Schöpfer werden: Man könnte ihn als den Sündenfall der Kultur bezeichnen. Danach ändert sich das Leben der Menschen grundlegend.
Die ersten Städte werden gebaut, Konzepte wie Besitz und Eigentum beginnen erstmals eine Rolle zu spielen. Kurz: Die Geschichte der Zivilisation, wie wir sie heute kennen, nimmt ihren Anfang. Eine Geschichte, die sich im Laufe der Jahrtausende als Eroberung und teilweise gewaltsame Unterwerfung der Erde fortschreibt. Wie wäre sie ohne Bäume vonstattengegangen? Vielleicht wäre das Rad in seiner jetzigen Form nie erfunden worden. Die Europäer hätten keine Schiffe wie die Santa Maria gebaut und niemals Amerika entdeckt. Wir wären nicht in der Lage, Erkenntnisse und Traditionen schriftlich zu sammeln und in Buchform weiterzugeben. Das alles zeigt: An und mit den Bäumen vollzog sich die Menschwerdung. Unser „unorganischer Leib“ ist zu einem sehr großen Teil aus Holz geschnitzt.
Kein Wunder also, dass der Baum in den Erzählungen über den menschlichen Ursprung von Anfang an eine wichtige Rolle spielt. Wie in vielen indogermanischen Mythen wird auch in dem skandinavischen Heldenepos Edda das erste Menschenpaar Ask und Embla von den Göttern aus Bäumen erschaffen, der Mann aus einer Esche, die Frau aus einer Ulme. In Bäumen scheinen wir uns wiederzuerkennen. Mit ihrem periodischen jahreszeitlichen Wechsel von Blüte, Blätterpracht und Laubabfall sind sie wie dafür geschaffen, den Lebenszyklus des Menschen zu veranschaulichen. Derart mystisch aufgeladen, überrascht es nicht, dass Bäume und Haine zu den ersten religiösen Stätten gehörten, an denen Menschen zusammenkamen, um ihren Gottheiten zu huldigen. Und obwohl sich das Christentum teilweise gewaltsam von heidnischen Baumkulten abgrenzte, findet sich das Motiv des Baumes auch im christlichen Glauben an zentraler Stelle: Das wichtigste Fest des Jahres wird nach wie vor um einen Baum herum gefeiert – den Weihnachtsbaum.
Die Verzweigungen des Lebens
Auch in der Genesis, eine der bekanntesten und wirkmächtigsten Erzählungen der Bibel, spielt ein Baum eine entscheidende Rolle: der „Baum der Erkenntnis“. Entgegen dem göttlichen Verbot essen Adam und Eva von seinen Früchten, woraufhin ihnen „die Augen aufgehen“. Sie werden sich ihrer Nacktheit und Sterblichkeit gewahr und als Strafe für die Übertretung des Verbots aus dem Paradies vertrieben. Zwei nur mit einem Feigenblatt bedeckte Menschen neben einem prächtigen, Früchte tragenden Baum – das Bild ist längst ikonisch geworden und hat sich tief in unser kulturelles Gedächtnis eingeschrieben. Stritt man im Mittelalter noch über die Art der Frucht (war es ein Apfel oder doch eine Feige?) und über die genauen Koordinaten des Paradieses, interpretierten die Denker der Aufklärung die Geschichte rein symbolisch als Parabel vom Erwachen des menschlichen Bewusstseins. Das, was den Menschen so besonders macht – seine Erkenntnisfähigkeit –, ist eng mit dem Bild eines Baumes verknüpft. Und das keineswegs erst in der Bibel.
Bereits in der griechischen Antike dient der Baum als formgebende Gestalt von Wissenssystemen. Die Platon zugeschriebene logische Methode der "dihairesis" – griechisch für Trennung, Unterscheidung – etabliert das Voranschreiten der Erkenntnis als immer spezifischer werdende Verästelung der Begriffe. So kann man beispielsweise die gesamte belebte Welt in „Flora“ und „Fauna“ einteilen, die „Flora“ wiederum in „Moose“ auf der einen und in „Pflanzen mit einem Röhrensystem zum Transport von Säften“ auf der anderen Seite. Dieses Spiel lässt sich so lange weitertreiben, bis man am Ende bei einem nicht weiter teilbaren Konkreten wie der Zierkirsche anlangt. Durch ihre Position im System ist sie exakt definiert. Auf diese Art und Weise entsteht eine Ordnung des Wissens, die klar in Ober- und Unterbegriffe gegliedert ist und eine eindeutige Hierarchie besitzt. Das Prinzip der dualen Verzweigung mag auf den ersten Blick fast trivial erscheinen, doch dem Vorgehen liegt ein Verständnis der menschlichen Denktätigkeit zugrunde, das bis heute für die Philosophie prägend ist: Denken heißt unterscheiden. In der Gestalt des Baumes, die der Kulturwissenschaftler Alexander Demandt als „greifbare Synthese“ und „augenfällige Differenzierung“ beschreibt, begegnen wir einer Form, anhand derer auch wir die Welt begreifen und in sie hineinwachsen.
Selbst die wichtige Frage nach unserer Herkunft beantworten wir innerhalb dieser Struktur: Genealogien und Verwandtschaftsverhältnisse visualisieren wir mithilfe eines Stammbaums. Das gilt nicht nur im Kleinen für eine einzelne Familie, sondern auch im Großen für die Gattung Mensch. In Charles Darwins Hauptwerk Über die Entstehung der Arten findet sich nur eine einzige Abbildung: die Skizze eines Baumes. Sie wirkt fast wie dahingekritzelt, als hätte er sie beiläufig angefertigt, um einen flüchtig vorbeiziehenden Geistesblitz festzuhalten. Über der Zeichnung die handschriftliche Notiz: „I think“. Doch das harmlos skizzierte Bäumchen illustriert einen Gedanken, der das Selbstverständnis des Homo sapiens in seinen Grundfesten erschüttert hat. Wir sind nicht die Krone der Schöpfung, sondern bestenfalls ein Nebenast am Baum des Lebens, eine mehr oder weniger zufällige Verzweigung, die sich vor Millionen von Jahren vom Affen trennte.
Wildes Wuchern
Lange war das Baummodell als Struktur unseres Wissens und Denkens äußerst wirkmächtig. Über die Jahrhunderte hat es geistesgeschichtliche Revolutionen eingeleitet und begleitet. Auch der große Versuch der Aufklärung, das gesamte menschliche Wissen in einer Encyclopédie zu sammeln und der Allgemeinheit zugänglich zu machen, bedient sich der Baumstruktur als Ordnungssystem. Ausgehend vom Stamm des Verstandes, fächern sich die in 28 Bänden aufgeführten menschlichen Künste in ihre jeweiligen Teilbereiche auf.
Die Adäquatheit dieses Modells wird seit der Postmoderne zunehmend infrage gestellt. Denker wie die französischen Philosophen Gilles Deleuze und Félix Guattari kritisieren die hierarchische Stammstruktur scharf: „Der Baum und die Wurzel zeichnen ein trauriges Bild des Denkens“. Mit ihrem Alternativkonzept des „Rhizoms“ verbleiben jedoch auch sie weiterhin im botanischen Metaphernfeld. Der Begriff „Rhizom“ bezieht sich auf das biologische Phänomen eines Wurzelstocks, der nicht wie ein Stamm gradlinig in die Höhe wächst, sondern horizontal unter der Erde wuchert, an jeder beliebigen Stelle abgeschnitten werden kann und trotzdem wieder austreibt.
Die einzelnen Triebe sind nicht auf einen zentralen Stamm zurückzuführen, jeder von ihnen kann einen neuen Anfangspunkt bilden. Übertragen auf eine Wissensordnung und das menschliche Denken hieße das: Erkenntnisse oder Begriffe hätten keinen unveränderlichen, festen Platz im Geäst mehr, von dem aus genau benannt werden könnte, was sich unter oder über ihm befände, und deren Herleitung immer auf die identische Art und Weise wiederholbar wäre. Das Rhizom bildet vielmehr eine wild wuchernde, netzartige Oberfläche, ohne jegliches Unten und Oben, ohne Anfang und Ende. Jeder (Erkenntnis-) Punkt kann mit jedem anderen verbunden werden – und präsentiert sich in dieser Verbindung völlig neu. Das entwirft ein radikal anderes Bild des Denkens als jenes der binären Logik des Baumes. Denken hieße immer noch unterscheiden, aber nicht mehr eines, das in starre, unveränderliche Gegensätze einteilt, sondern das in alle Dimensionen wuchert, das sich immer im Wachsen, in der Veränderung befindet.

Bild: Bastian Thiery
Ist der Baum als Modell des Denkens damit obsolet geworden? Erkennen wir uns in ihm nicht mehr wieder in einer Zeit, in der dezentrale Netzwerktheorien immer mehr an Bedeutung gewinnen? Es ist eher andersherum: Auch unsere Vorstellung der Bäume verändert sich. Spätestens seit Peter Wohllebens Bestseller Das geheime Leben der Bäume hat sich das Bild eines Baumes als vereinzeltes, nur nach oben und in die Tiefe strebendes Individuum grundlegend gewandelt. Jetzt wissen wir, dass Wälder komplexe Gemeinschaften bilden, die durch unterirdische Geflechte aus Pilzen und Wurzeln vernetzt sind und auf diese Art und Weise selbst gewissermaßen eine rhizomatische Struktur bilden. Als Wald kann der Baum also vielleicht in die Postmoderne hinübergerettet werden.
Und auch wenn Gottesdienste heute nur noch selten unter Bäumen gefeiert werden, sind sie immer noch Orte, an denen Menschen zueinanderfinden – nicht nur frisch verliebte Paare, die ihre Initialen in der Rinde verewigen, um ihrer Liebe ein Denkmal zu setzen. Ob es nun daran liegt, dass ein Baum eine im wahrsten Sinne des Wortes herausragende Landmarke darstellt, oder dass er ein lauschiges Plätzchen bietet, geschützt vor Regen und Sonne: Bäume waren und sind wichtige symbolische Orte für menschliche Zusammenkünfte. Das war bereits im Mittelalter so, als man sich unter der Dorflinde traf, und dort sogar Gericht hielt, oder zur Zeit der Märzrevolution 1848, als sich die aufständischen Arbeiter im Berliner Stadtteil Prenzlauer Berg unter einer Schwarzpappel versammelten, um ihren Widerstand gegen den preußischen König zu formieren.
Orte von großem Symbolcharakter laufen immer auch Gefahr, von Gegnern zerstört zu werden. Schon in der Antike war die Abholzung der Bäume und Wälder des Gegners gängige Praxis – die heiligen Haine der Griechen fielen während der Belagerung Athens den Äxten Sullas genauso zum Opfer wie die keltischen Druiden-Haine denen Neros. „Man schlägt den Baum, meint den Gott und trifft den Menschen“, schreibt Alexander Demandt in seiner Kulturgeschichte des Baumes. Oder in manchen Fällen auch den Hund –Idefix, das kleine Hündchen aus den Asterix und Obelix-Comics heult jedes Mal herzergreifend auf, wenn ein Baum entwurzelt wird.
Gemeinsame Verwachsenheit
Der Zorn über die geplante Bebauung des Gezi-Parks speist sich also nicht allein aus der Trauer um die schönen, alten Bäume, sondern reiht sich ein in die Tradition, in der die Zerstörung von Parks und Hainen immer auch auf die Zerstörung einer Gemeinschaft abzielt. Und wenn sich Aktivisten im Hambacher Forst an ihre Baumhäuser ketten, dann geschieht das nicht nur aus radikalem Umweltschutz, sondern weil die kulturelle Entwicklung des Menschen so eng am Baum verläuft, dass wir in gewissem Sinne tatsächlich an Bäume gekettet sind. Der Blick aus dem Fenster zeigt uns viel mehr als nur eine Kastanie oder eine Zierkirsche.
Auch wenn es mir während des Wassertragens nicht unmittelbar bewusst sein mag, doch die Bedeutung des Baumes ist in unser kulturelles Gedächtnis eingeschrieben wie die Jahre in die Ringe eines Stamms: sowohl die evolutionsgeschichtliche Bedeutung, die Bäume und ihr Holz für uns hatten, als auch die jahrtausendealten Vorstellungen, Mythen und Märchen, die diese Entwicklung begleiteten. Es lief schon immer parallel: Die kulturelle Formung der Natur ist nicht nur ein ganz konkretes Bearbeiten, sondern auch ein intellektuelles Begreifen, ein Einfassen in Symbole und Geschichten, die von den uralten Anfängen der Menschheit bis in die heutige Zeit reichen. Unsere eigene Genealogie ist mit der Gestalt des Baumes regelrecht verwachsen. Mit ihm steht und fällt also viel mehr als eine ohnehin schon schützenswerte Lebensform: unsere Kultur. •
Lea Wintterlin studierte Philosophie in Tübingen und Berlin. Derzeit arbeitet sie an ihrem Debütroman, studiert Literarisches Schreiben in Leipzig und ist freie Autorin des Philosophie Magazins
Weitere Artikel
Eva von Redecker: „Revolutionen entstehen aus Sehnsucht nach Lebenszeit“
Zahlreiche zeitgenössische Protestbewegungen fasst Eva von Redecker als „Revolutionen für das Leben” auf. Indem sie sich gegen Artensterben, Femizide sowie Naturzerstörung wenden, stellen sie der kapitalistischen Ausbeutung utopische Alternativen entgegen.

Die Wurst als Weltformel
Nachdem VW jüngst eine Kantine auf vegetarische Gerichte umstellte, schaltete sich selbst Ex-Kanzler Schröder mit einem Plädoyer für die Currywurst ein. Der Philosoph Harald Lemke erklärt, warum sich an der Wurst so oft moralische Fragen entzünden und weshalb wir einen gastroethischen Hedonismus brauchen.

Was weiß mein Körper?
Die Frage irritiert. Was soll mein Körper schon wissen? Ist das Problem denn nicht gerade, dass er nichts weiß? Weder Vernunft noch Weisheit besitzt? Warum sonst gibt es Gesundheitsratgeber, Rückenschulen, Schmerztabletten, viel zu hohe Cholesterinwerte. Und wieso gibt es Fitness-Tracker, diese kleinen schwarzen Armbänder, die ihrem Träger haargenau anzeigen, wie viele Meter heute noch gelaufen, wie viele Kalorien noch verbrannt werden müssen oder wie viel Schlaf der Körper braucht. All das weiß dieser nämlich nicht von selbst – ja, er hat es bei Lichte betrachtet noch nie gewusst. Mag ja sein, dass man im 16. Jahrhundert von ganz allein ins Bett gegangen ist. Aber doch wohl nicht, weil der Körper damals noch wissend, sondern weil er von ruinöser Arbeit todmüde und es schlicht stockdunkel war, sobald die Sonne unterging. Wer also wollte bestreiten, dass der Körper selbst über kein Wissen verfügt und auch nie verfügt hat? Und es also vielmehr darum geht, möglichst viel Wissen über ihn zu sammeln, um ihn möglichst lang fit zu halten.
Wie schaffen wir das?
Eine Million Flüchtlinge warten derzeit in erzwungener Passivität auf ihre Verfahren, auf ein Weiter, auf eine Zukunft. Die Tristheit und Unübersichtlichkeit dieser Situation lässt uns in defensiver Manier von einer „Flüchtlingskrise“ sprechen. Der Begriff der Krise, aus dem Griechischen stammend, bezeichnet den Höhepunkt einer gefährlichen Lage mit offenem Ausgang – und so steckt in ihm auch die Möglichkeit zur positiven Wendung. Sind die größtenteils jungen Menschen, die hier ein neues Leben beginnen, nicht in der Tat auch ein Glücksfall für unsere hilf los überalterte Gesellschaft? Anstatt weiter angstvoll zu fragen, ob wir es schaffen, könnte es in einer zukunftszugewandten Debatte vielmehr darum gehen, wie wir es schaffen. Was ist der Schlüssel für gelungene Integration: die Sprache, die Arbeit, ein neues Zuhause? Wie können wir die Menschen, die zu uns gekommen sind, einbinden in die Gestaltung unseres Zusammenlebens? In welcher Weise werden wir uns gegenseitig ändern, formen, inspirieren? Was müssen wir, was die Aufgenommenen leisten? Wie lässt sich Neid auf jene verhindern, die unsere Hilfe derzeit noch brauchen? Und wo liegen die Grenzen der Toleranz? Mit Impulsen von Rupert Neudeck, Rainer Forst, Souleymane Bachir Diagne, Susan Neiman, Robert Pfaller, Lamya Kaddor, Harald Welzer, Claus Leggewie und Fritz Breithaupt.
Judith Butler und die Gender-Frage
Nichts scheint natürlicher als die Aufteilung der Menschen in zwei Geschlechter. Es gibt Männer und es gibt Frauen, wie sich, so die gängige Auffassung, an biologischen Merkmalen, aber auch an geschlechtsspezifischen Eigenschaften unschwer erkennen lässt. Diese vermeintliche Gewissheit wird durch Judith Butlers poststrukturalistische Geschlechtertheorie fundamental erschüttert. Nicht nur das soziale Geschlecht (gender), sondern auch das biologische Geschlecht (sex) ist für Butler ein Effekt von Machtdiskursen. Die Fortpf lanzungsorgane zur „natürlichen“ Grundlage der Geschlechterdifferenz zu erklären, sei immer schon Teil der „heterosexuellen Matrix“, so die amerikanische Philosophin in ihrem grundlegenden Werk „Das Unbehagen der Geschlechter“, das in den USA vor 25 Jahren erstmals veröffentlicht wurde. Seine visionäre Kraft scheint sich gerade heute zu bewahrheiten. So hat der Bundesrat kürzlich einen Gesetzesentwurf verabschiedet, der eine vollständige rechtliche Gleichstellung verheirateter homosexueller Paare vorsieht. Eine Entscheidung des Bundestags wird mit Spannung erwartet. Welche Rolle also wird die Biologie zukünftig noch spielen? Oder hat, wer so fragt, die Pointe Butlers schon missverstanden?
Camille Froidevaux-Metteries Essay hilft, Judith Butlers schwer zugängliches Werk zu verstehen. In ihm schlägt Butler nichts Geringeres vor als eine neue Weise, das Subjekt zu denken. Im Vorwort zum Beiheft beleuchtet Jeanne Burgart Goutal die Missverständnisse, die Butlers berühmte Abhandlung „Das Unbehagen der Geschlechter“ hervorgerufen hat.
Paul Mason: „Wir brauchen eine keynesianistische Revolution des 21. Jahrhunderts“
In den USA hat Joe Biden jüngst ein massives Investitionsprogramm vorgelegt. Der britische Publizist Paul Mason argumentiert im Gespräch, warum Europa nachziehen sollte, wieso er die Fiskalpolitik der deutschen Christdemokraten für fatal hält und wieso wir gerade das Ende des Neoliberalismus erleben.

Simone Weil: Das Leid der anderen
In ihrem Lebensvollzug war Simone Weil radikal und setzte sich einer selbst gewählten Entwurzelung aus. In ihrer Philosophie befasst sie sich hingegen intensiv mit dem Bedürfnis nach Wurzeln.

Joseph Vogl: „Informationen über Geld sind wichtiger als Geld selbst geworden“
Es schien wie ein revolutionärer Börsen-Flashmob: Über soziale Medien hatten sich jüngst unzählige Kleinanleger organisiert, um Aktien des Computerspielhändlers GameStop zu kaufen, auch weil Hedgefonds auf deren Verfall gewettet hatten. Letztere verloren dadurch Milliarden Dollar. Der Kulturwissenschaftler Joseph Vogl erklärt, warum daran nichts Subversives ist, was der Fall über den Finanzkapitalismus verrät und wieso die Fusion von Kapital- und Meinungsmärkten eine neue Machtform erzeugt.
