Produktiv – aber warum?
Was tue ich hier eigentlich? Und warum? Niemand kennt sich mit solchen Zweifeln besser aus als Philosophen. Hier beantworten sie die entscheidenden Fragen auch Ihres Arbeitslebens.
Arbeiten wir, um Geld zu verdienen?
Georg Simmel (1858-1918)
Ja, und das ist völlig normal, denn der Wert des Geldes ist dem Wert der Arbeit überlegen. Zunächst bringt Arbeiten Anstrengungen mit sich, sogar Leiden: sich beeilen, um rechtzeitig da zu sein, seine Vorgesetzten, seine Untergebenen und seine Kollegen ertragen, an kafkaesken Meetings teilnehmen, sich konzentrieren, sich müde schuften und so weiter. Im Gegenzug erlaubt das Gehalt, das man bekommt, sich Wohnung, Kleidung und Nahrung zu besorgen, und gestattet jene Extras, die die Dauer der Mühen kompensieren. Doch das ist nicht alles, erklärt der Soziologe Georg Simmel. In seiner Philosophie des Geldes (1900) definiert er die Währung als ein paradoxes Objekt. Sie ist ein bloßes Instrument, eine Quantität, die man tauscht und die selbst nichts wert ist. Zudem reicht eine Finanzpanik oder eine Abwertung, damit sie all ihren Wert verliert. Doch dieses „absolute Mittel“ ist allem Konkreten überlegen, denn es erlaubt, die verschiedensten Güter zu erlangen. Der Wert des Geldes ist dem Wert jedes einzelnen Objekts überlegen, weil das Geld eine unendliche Wahlfreiheit impliziert
Im Vergleich zur Arbeit, die man gegen ihr Äquivalent in Währung eintauscht, ist Geld also überlegen. „Der Arbeiter kann seine Kunst und Geschicklichkeit so gut wie nie aus seinem Gewerbe herausziehen und in einem anderen investieren“, erklärt Simmel. Der Fleischer kann nicht aus dem Stegreif Drucker werden, der Mathematiker nicht klassischer Tänzer. Doch dasselbe Geld erlaubt es, ebenso Fleisch wie Zeitungen zu kaufen und spezielle Kurse in Mathematik oder Tanz zu nehmen. Das „Wertplus“ des Geldes über die Arbeit ist offenkundig. Wenn man arbeitet, um etwas anderes und Besseres als seine Arbeit zu bekommen, dann auch deshalb, weil das Geld egalisiert. Ein Händler kann noch so sehr von einem Aristokraten verachtet werden, oder ein Bauer von einem Bürger, wenn sie über vergleichbare Bankkonten verfügen (und das publik wird), werden auch sie einander ebenbürtig. Die auf Geburt oder Stellung gegründeten Hierarchien spielen in der vom Geld erlaubten, rein quantitativen Beziehung keine Rolle mehr. Im Übrigen hat das Streben nach einem hohen Gehalt manchmal mit dem Bedürfnis nach sozialer Revanche zu tun. Letztlich befreit der Lohn im Hinblick auf die Bindungen der symbolischen Herrschaft. Während ich als Arbeiter von denen abhängig bleibe, die mir Arbeit geben, bin ich völlig souverän beim Ausgeben meines Geldes. Wenn man nicht den vielen Pathologien des Geldes erliegt, ist es kein Zeichen von Zynismus oder Raffgier, zu arbeiten, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen, sondern das beste Mittel, um Handlungsfreiheit, Unabhängigkeit und Gleichheit zu stärken.
– Werke zum Thema: „Philosophie des Geldes“; „Der Arme“, in: „Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung“
Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770-1831)
Nein, wir arbeiten, um gänzlich Mensch zu werden. Zunächst kann Arbeiten nur um des Geldes willen schwerwiegende soziale Ungleichgewichte nach sich ziehen. Im Kontext eines ökonomischen Liberalismus ernten die Erfolgreichen ihren Erfolg oft auf Kosten der proletarisierten Massen. Das befürchtet Hegel, der in seinen Grundlinien der Philosophie des Rechts (1820) betont: „Durch die Verallgemeinerung des Zusammenhangs der Menschen durch ihre Bedürfnisse und der Weisen, die Mittel für diese zu bereiten und herbeizubringen, vermehrt sich die Anhäufung der Reichtümer (…) auf der einen Seite, wie auf der andern Seite die Vereinzelung und Beschränktheit der besonderen Arbeit und damit die Abhängigkeit und Not der an diese Arbeit gebundenen Klasse.“ Wenn man tatsächlich nur für Geld arbeitet und sich die Gesellschaft einzig auf dieses Ziel hin organisiert, macht der Umstand, nicht genügend Geld zu verdienen, die Arbeit uninteressant und lässt einen sogar an ihr verzweifeln, ganz zu schweigen von der Ausbeutung, dem Elend und der Ungleichheit. Hegel schlägt eine andere Rechtfertigung für die Arbeit vor, die es erlaubt, die Enttäuschung zu vermeiden.
Ihm zufolge ist die Arbeit nichts Geringeres als der Träger unseres Menschseins. „Arbeit bildet“, sagt er, in dem Sinn, dass sich der arbeitende Mensch zum Ausdruck bringt und die Natur nach seinem Bilde transformiert. So kann der Mensch sich in seinem Werk erkennen und zu wahrem Selbstbewusstsein gelangen. In der berühmten „Dialektik von Herr und Knecht“ (Phänomenologie des Geistes, 1807) wird der Knecht, der arbeitet, während der Herr nur konsumiert und im Müßiggang verharrt, mächtiger und menschlicher als sein Herr. Er lernt, die Kräfte der Natur zu meistern, sich selbst besser zu erkennen und der Materie, die er formt, seinen Stempel aufzudrücken. Letzten Endes wird er Herrschaft über seinen Herrn erlangen. Die Arbeit lässt uns also leiden, erhebt uns aber über unsere Animalität. Der große Begriff, der aus dieser Konzeption der bildenden Arbeit hervorgeht, ist der des (An-)Erkennens. In der Arbeit erkennt man sich in dem, was man macht. Doch man wird ebenfalls von den anderen dafür anerkannt, was man geschaffen hat – so gewinnt man einen Platz in der Gesellschaft. Deshalb ist die Arbeitslosigkeit eine so furchtbar harte Prüfung, und deshalb genügt ein Empfangen des Lebensunterhalts nicht als Ersatz für den Selbstzweck der Arbeit.
– Werke zum Thema: „Phänomenologie des Geistes“; „Grundlinien der Philosophie des Rechts“
Arbeiten wir, um die Welt zu verändern?
Karl Marx (1818-1883)
Ja, denn „die Arbeit ist zunächst ein Prozess zwischen Mensch und Natur“, erklärt Karl Marx in Das Kapital (1867). Der Mensch „tritt dem Naturstoff selbst als eine Naturmacht gegenüber. Die seiner Leiblichkeit angehörigen Naturkräfte, Arme und Beine, Kopf und Hand, setzt er in Bewegung, um sich den Naturstoff in einer für sein eignes Leben brauchbaren Form anzueignen. Indem er durch diese Bewegung auf die Natur außer ihm wirkt und sie verändert, verändert er zugleich seine eigne Natur. Er entwickelt die in ihr schlummernden Potenzen“, fährt er fort. Doch was den Menschen vom Tier unterscheidet – mag dieses auch noch so kundig sein, seine Umwelt zu modifizieren, wie zum Beispiel die Biene –, ist Folgendes: „Am Ende des Arbeitsprozesses kommt ein Resultat heraus, das beim Beginn desselben schon in der Vorstellung des Arbeiters, also schon ideell vorhanden war.“ Die betreffende Transformation ist das Ergebnis eines frei erstellten Planes. „Außer der Anstrengung der Organe, die arbeiten, ist der zweckmäßige Wille, der sich als Aufmerksamkeit äußert, für die ganze Dauer der Arbeit erheischt.“ Kurzum, zur Verwandlung der Welt durch unsere Arbeit wird unser ganzes Wesen in Bewegung gesetzt.
Die menschliche Geschichte ist laut Marx nichts anderes als die Geschichte der Organisationsweise dieser Arbeit. Zunächst meint das die Evolution der Techniken und Objekte, die unsere Lebensweise verändert haben, wobei das Ergebnis der Arbeit der Altvorderen zum Ausgangspunkt für die nächsten Generationen wird und die Welt so zunehmend reicher wird an Mitteln für ein besseres Leben. Doch es meint auch die Entwicklung der Produktionsweisen, insofern die Arbeiter immer als Ausgebeutete gelebt haben, als Sklaven in der Antike, Leibeigene im Mittelalter oder Proletarier im Industriezeitalter. Jene, die die Welt wirklich verändert haben, mussten zusehen, wie ihnen die Früchte ihrer Arbeit von den herrschenden Klassen geraubt wurden. Letztere versuchen ihnen weiszumachen, dass es nicht die Arbeiter seien, die den Lauf der Dinge änderten, sondern ihre Herren, die Vorsehung oder auch Gott. Die durch die Arbeit bewirkte Veränderung der Welt ist demnach laut Marx noch nicht abgeschlossen. Die Arbeiter müssen den Lohn für ihre Mühen endlich selbst ernten und sich zu den Herren über ihre Produktionen machen. Dann erst wird die Veränderung der Welt durch Arbeit vollendet sein – und ihren Urhebern zugutekommen.
– Werke zum Thema: „Das Kapital“; „Manifest der Kommunistischen Partei“
Seneca (ca. 4 v. Chr.‒65 n. Chr.)
Nein, wir arbeiten vor allem, um selbst besser zu werden. Laut Seneca, dem stoischen Philosophen aus dem kaiserlichen Rom, ist die Welt bereits vollkommen. „Private und öffentliche Angelegenheiten schleppt der lange Gang der Ereignisse mit sich“ (De providentia). Nichts ereignet sich aus Zufall, denn alles gehorcht der göttlichen Vorsehung. Unsere Arbeit fügt dem Universum also nichts Neues hinzu. Um glücklich zu sein, genügt es, sich durch die Praxis der Tugend in die Ordnung der Dinge zu schmiegen. Ist Arbeiten also zu irgendetwas nütze? Ja, bestätigt Seneca, denn die Tätigkeit festigt uns, übt uns darin, besser zu werden. Es sei daran erinnert, dass ihm als Erzieher und Berater Neros und als einem der reichsten und mächtigsten Männer seiner Epoche Überlastung durch Arbeit durchaus bekannt war: „Kein Tag vergeht mir in Untätigkeit“, erzählt er, „sogar einen Teil der Nächte verwerte ich für meine Studien. Dem Schlaf räume ich freiwillig keine Zeit ein, ich weiche vielmehr nur seiner überwältigenden Macht und halte meine durch Wachen ermüdeten und zum Zufallen neigenden Augen an der Arbeit fest.“ Wenn er weiterarbeitet, dann nicht, um die Welt zu ändern, sondern um anderen den Weg zum Glück zu weisen, dem er selbst gefolgt ist, und um diesen Weg mit dem Schreiben und der Meditation fortzusetzen.
Seneca verherrlicht also die Disziplin und die „Liebe zur Arbeit“. Er will nicht sagen, dass die Arbeit mit ihren kleinen Ambitionen und ihren kleinen Kümmernissen uns gänzlich in Anspruch nehmen soll, oder dass man sich eher edle Aufgaben als bescheidene Verrichtungen auswählen soll. Nein, die Arbeit ist nicht aus sich selbst heraus gut oder schlecht. Sie ist wichtig, weil sie uns schult, fest und ausdauernd zu sein. Was zählt, ist die „Geringschätzung der Anstrengung“, die Selbstüberwindung, die eine mühselige Arbeit verlangt. „Allein die Arbeit soll uns schwitzen lassen“, mahnt der Philosoph. Sie ist die beste Pädagogik: „Große Feldherren bringen, wenn der Gehorsam ihrer Soldaten erlahmt, diese dadurch wieder in Zucht, dass sie ihnen irgendeine Anstrengung auferlegen […], und nichts ist so gewiss als dies, dass die Laster des Müßiggangs durch pflichtmäßige Beschäftigung verscheucht werden.“ Seneca schließt: „Schreite nur weiter auf dem von dir eingeschlagenen Weg und befleißige dich eines friedvollen, nicht eines behaglichen Lebens. Lieber soll es mir schlecht gehen, als dass ich behaglich lebe. Schlecht nehme ich hier in dem Sinne, in dem es der gemeine Mann in der Regel versteht, nämlich als hart, rau, mühselig.“ Kurzum, die Arbeit ist Teil der Übungen, um besser zu werden.
– Werke zum Thema: „Von der göttlichen Vorsehung“; „Briefe an Lucilius“
Reicht es aus, seine Arbeit gut zu verrichten?
Denis Diderot (1713-1784)
Ja, denn jede Arbeit, selbst die dem Anschein nach bescheidenste, trägt in sich eine Welt von Kenntnissen und Erfahrungen. Wenn man Buchhalter ist, kann man stolz darauf sein, seine Rechnungen mit Methode und Genauigkeit ausgeführt zu haben. Wenn man Reinigungskraft ist, kann man stolz darauf sein, seine Hilfsmittel klug eingesetzt, seine Kräfte gut eingeteilt und ein schönes Ergebnis erzielt zu haben. Denis Diderot, Sohn eines Messerschmieds, unterbreitet in der Enzyklopädie gemeinsam mit d’Alembert und weiteren Mitarbeitern eine Rehabilitierung aller damals verachteten Berufe. Seit dem Mittelalter werden die sogenannten freien Künste (sprachliche und mathematische Künste, Musik, Astronomie) als reine Schöpfungen des Geistes aufgewertet, während auf die mechanischen Künste – alles, was dem Bereich des Handwerks entstammt – herabgeschaut wird. Alle Berufe, in denen die Hände benutzt werden, galten als nieder und knechtisch. Gegen dieses Vorurteil begehrt Diderot im Artikel Art (Kunst) auf (wobei „Art“ damals noch Technik bedeutet): „Diese Unterscheidung, obwohl gut begründet, hat eine schlechte Wirkung gehabt; denn sie setzte das Ansehen sehr achtbarer und nützlicher Menschen herab und bestärkte uns in einer natürlichen Trägheit, die uns leider zu dem allzu weit verbreiteten Glauben verleitete, dass eine beständige, ununterbrochene Beschäftigung mit Experimenten und mit wahrnehmbaren, materiellen Einzelgegenständen eine Entwürdigung des menschlichen Geistes bedeute und dass die Ausübung, ja sogar das Studium der mechanischen Künste erniedrigend sei, weil die Erforschung solcher Gegenstände mühsam, das Nachdenken über sie unedel, ihre Darlegung schwierig, der Umgang mit ihnen entehrend sei.“
Handwerklich Arbeitende bringen aber, so Diderot, dieselben Qualitäten ein wie die gelehrtesten Wissenschaftler: „Es ist schwierig, um nicht zu sagen unmöglich, die Praxis ohne die Spekulation voranzubringen und auch umgekehrt, sich die Spekulation ohne Praxis recht zu eigen zu machen.“ Kurz, der Handwerker, Arbeiter, Techniker entfaltet jeweils genauso viel Intelligenz wie der Mathematiker oder Ingenieur. Er wendet sie nur direkter auf die Materie an, was ein erhöhtes Maß an Geduld, Bescheidenheit und Aufmerksamkeit mit einschließt. So können die Enzyklopädisten zu dem Schluss kommen, die Arbeit sei jene „tägliche Verrichtung, zu welcher der Mensch durch seine Bedürftigkeit verurteilt ist und der er gleichzeitig seine Gesundheit, seinen Unterhalt, seine Heiterkeit, seinen gesunden Verstand und vielleicht seine Tugend verdankt“ – ganz gleich, welcher Art die ausgeführte Arbeit ist.
– Werk zum Thema: „Enzyklopädie“
Hannah Arendt (1906-1975)
Nein, der Arbeit muss ein würdigerer Sinn gegeben werden. Als Hannah Arendt in Vita activa oder vom tätigen Leben (1960) untersucht, auf welche Weise der Mensch in der Welt interveniert, weist sie der Arbeit eine untergeordnete Rolle zu. Arbeit stellt nur die zum Überleben notwendige Anstrengung unseres Körpers dar. Höher angesiedelt als das Arbeiten ist das Herstellen, das aus unseren Händen ein Artefakt hervorbringt. Doch den höchsten Wert spricht die Philosophin dem Handeln zu, denn es verändert unsere Beziehung zu anderen Menschen. Handeln besteht darin, jemandem zu helfen, oder auch ihn zu verjagen, ihn zu schlagen; einen Gesprächspartner zu überzeugen, ihm zu schmeicheln; zu lehren, Krieg zu führen. Das Handeln macht aus uns das, was Aristoteles ein zoon politikon nennt, ein politisches Wesen. „Sprechend und handelnd schalten wir uns in die Welt der Menschen ein, die existierte, bevor wir geboren wurden, und diese Einschaltung ist wie eine zweite Geburt“, betont Arendt. Damit unser Schaffen menschlich sei, müssen wir aus ihm mehr machen als nur ein Mittel zum Überleben (Arbeiten) oder eine Entfaltung handwerklicher Fähigkeiten (Werken), wir müssen es an die Würde des Handelns heranführen.
Der Zweck des Berufs ist nicht gleichgültig, denn die meisten Berufe implizieren ethische Beziehungen zum anderen. Wenn es mir gelingt, aus meiner Tätigkeit einen Rahmen zu machen, dessen Zweck ich verstehe, und der mit erlaubt, ethische Beziehungen zu anderen zu entwickeln, dann hat meine Arbeit einen Sinn. An einem Fließband zu stehen und ohne Austausch mit Kollegen Schrauben festzuziehen, ist menschlich weniger wertvoll als mit einem Team ein stadtplanerisches Projekt zur Wohnungssanierung zu entwerfen. Die Gefahr, erklärt Arendt, besteht darin, dass man den Arbeitern kaum Möglichkeiten gibt, ihre Arbeit mit Handeln zu erfüllen, und sie auf Arbeitstiere reduziert. „Das Zeitalter der Moderne (…) brachte die faktische Umwandlung der gesamten Gesellschaft in eine Arbeitsgesellschaft mit sich“, in der der Beruf nur als Mittel dient, den Lebensunterhalt zu verdienen. Im Hinblick auf die Massenarbeitslosigkeit folgert Arendt: „Womit wir uns konfrontiert sehen, ist die Aussicht auf eine Gesellschaft von Arbeitern ohne Arbeit, das heißt, ohne das einzige, was ihnen geblieben ist. Es lässt sich gewiss nichts Schlimmeres vorstellen.“ Deshalb müssen Mittel gefunden werden, politische wie existenzielle, um seiner Arbeit wieder einen Sinn zu geben – indem ihr die Dimension des Handelns hinzugefügt wird.
– Werke zum Thema: „Vita activa oder vom tätigen Leben“; „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“•
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Und woran zweifelst du?
Wahrscheinlich geht es Ihnen derzeit ähnlich. Fast täglich muss ich mir aufs Neue eingestehen, wie viel Falsches ich die letzten Jahre für wahr und absolut unumstößlich gehalten habe. Und wie zweifelhaft mir deshalb nun alle Annahmen geworden sind, die auf diesem Fundament aufbauten. Niemand, dessen Urteilskraft ich traute, hat den Brexit ernsthaft für möglich gehalten. Niemand die Wahl Donald Trumps. Und hätte mir ein kundiger Freund vor nur zwei Jahren prophezeit, dass im Frühjahr 2017 der Fortbestand der USA als liberaler Rechtsstaat ebenso ernsthaft infrage steht wie die Zukunft der EU, ich hätte ihn als unheilbaren Apokalyptiker belächelt. Auf die Frage, woran ich derzeit am meisten zweifle, vermag ich deshalb nur eine ehrliche Antwort zu geben: Ich zweifle an mir selbst. Nicht zuletzt frage ich mich, ob die wundersam stabile Weltordnung, in der ich als Westeuropäer meine gesamte bisherige Lebenszeit verbringen durfte, sich nicht nur als kurze Traumepisode erweisen könnte, aus der wir nun alle gemeinsam schmerzhaft erwachen müssen. Es sind Zweifel, die mich tief verunsichern. Nur allzu gern wüsste ich sie durch eindeutige Fakten, klärende Methoden oder auch nur glaubhafte Verheißungen zu befrieden.
Wer ist mein wahres Selbst?
Kennen Sie auch solche Abende? Erschöpft sinken Sie, vielleicht mit einem Glas Wein in der Hand, aufs Sofa. Sie kommen gerade von einem Empfang, viele Kollegen waren da, Geschäftspartner, Sie haben stundenlang geredet und kamen sich dabei vor wie ein Schauspieler, der nicht in seine Rolle findet. All diese Blicke. All diese Erwartungen. All diese Menschen, die etwas in Ihnen sehen, das Sie gar nicht sind, und Sie nötigen, sich zu verstellen … Wann, so fragen Sie sich, war ich heute eigentlich ich? Ich – dieses kleine Wort klingt in Ihren Ohren auf einmal so seltsam, dass Sie sich unwillkürlich in den Arm kneifen. Ich – wer ist das? Habe ich überhaupt so etwas wie ein wahres Selbst? Wüsste ich dann nicht zumindest jetzt, in der Stille des Abends, etwas Sinnvolles mit mir anzufangen?
Otfried Höffe: „Ich darf hoffen, wenn ich tue, was ich soll“
Der Philosoph Otfried Höffe wurde am 12. September 1923 80 Jahre alt. Wir gratulieren herzlich und veröffentlichen ein Gespräch aus unserem Archiv, in dem der renommierte Ethiker, Kant- und Aristoteles-Experte erklärt, was Kant genau meinte, als er fragte: „Was darf ich hoffen?“

Gibt es einen guten Tod?
Es ist stockdunkel und absolut still. Ich liege auf dem Rücken, meine gefalteten Hände ruhen auf meinem Bauch. Wie zum Beweis, dass ich noch lebe, bewege ich den kleinen Finger, hebe ein Knie, zwinkere mit den Augen. Und doch werde ich, daran besteht nicht der geringste Zweifel, eines Tages sterben und wahrscheinlich genauso, wie ich jetzt daliege, in einem Sarg ruhen … So oder so ähnlich war das damals, als ich ungefähr zehn Jahre alt war und mir vor dem Einschlafen mit einem Kribbeln in der Magengegend vorzustellen versuchte, tot zu sein. Heute, drei Jahrzehnte später, ist der Gedanke an das Ende für mich weitaus dringlicher. Ich bin 40 Jahre alt, ungefähr die Hälfte meines Lebens ist vorbei. In diesem Jahr starben zwei Menschen aus meinem nahen Umfeld, die kaum älter waren als ich. Wie aber soll ich mit dem Faktum der Endlichkeit umgehen? Wie existieren, wenn alles auf den Tod hinausläuft und wir nicht wissen können, wann er uns ereilt? Ist eine Versöhnung mit dem unausweichlichen Ende überhaupt möglich – und wenn ja, auf welche Weise?

Wer sind "Wir"?
Als Angela Merkel den Satz „Wir schaffen das!“ aussprach, tat sie dies, um die Deutschen zu einer anpackenden Willkommenskultur zu motivieren. Aber mit der Ankunft von einer Million Menschen aus einem anderen Kulturkreis stellt sich auch eine für Deutschland besonders heikle Frage: Wer sind wir eigentlich? Und vor allem: Wer wollen wir sein? Hört man genau hin, zeigt sich das kleine Wörtchen „wir“ als eine Art Monade, in der sich zentrale Motive zukünftigen Handelns spiegeln. Wir, die geistigen Kinder Kants, Goethes und Humboldts. Wir, die historisch tragisch verspätete Nation. Wir, das Tätervolk des Nationalsozialismus. Wir, die Wiedervereinigten einer friedlichen Revolution. Wir, die europäische Nation? Wo liegt der Kern künftiger Selbstbeschreibung und damit auch der Kern eines Integrationsideals? Taugt der Fundus deutscher Geschichte für eine robuste, reibungsfähige Leitkultur? Oder legt er nicht viel eher einen multikulturellen Ansatz nahe? Offene Fragen, die wir alle gemeinsam zu beantworten haben. Nur das eigentliche Ziel der Anstrengung lässt sich bereits klar benennen. Worin anders könnte es liegen, als dass mit diesem „wir“ dereinst auch ganz selbstverständlich „die anderen“ mitgemeint wären, und dieses kleine Wort also selbst im Munde führen wollten. Mit Impulsen von Gunter Gebauer, Tilman Borsche, Heinz Wismann, Barbara Vinken, Hans Ulrich Gumbrecht, Heinz Bude, Michael Hampe, Julian Nida-Rümelin, Paolo Flores d’Arcais.
Kann ich an etwas schuld sein, das ich nicht getan habe?
Tiefe Fragen kennen mehr als eine gute Antwort. Niemand weiß das besser als Philosophen. Vier Lösungen für ein ganz „einfaches“ moralphilosophisches Problem:
Von Berlin nach Paris
Die französischen Existenzialisten sind in vielem von der deutschen Existenzphilosophie beeinflusst – aber sie schaffen auch etwas Neues, das den Fragen ihrer Zeit und ihres Ortes entspricht. Im Interview zeichnet Frédéric Worms eine kleine Familiengeschichte ihres Denkens.

Erinnern Sie sich noch, wie das war, damals, als Sie noch jung waren, ich meine: sehr jung?
An dieses Gefühl, dass die Großen, die, die doch eigentlich Verantwortung haben und es besser wissen müssten, überhaupt nichts, gar nichts verstehen? Vollkommen ungerechtfertigt Macht über Sie besitzen? Ihr Dasein bestimmen, ohne an Ihrem Wohl tief und ernsthaft interessiert zu sein? Mit zehn unternahm ich Ausreißversuche, die in aller Regel an der nächsten Ecke endeten, mit 16 hörte ich wie die meisten meines Alters Rage against the Machine: „Fuck you, I won’t do what you tell me … Uaaaah!!!“