Scrollen durch das Unbewusste
In den Sozialen Medien erlebt Sigmund Freud seit einiger Zeit ein Revival: Memes, Videos, ganze Accounts beziehen sich auf ihn. Damit taucht der Vater der Psychoanalyse an einem Ort auf, der sich als sein eigener Untersuchungsgegenstand zeigt: Ein kollektives Unbewusstes.
Seit Jahrzehnten wird der Cyberspace mit dem Unbewussten verglichen. Schon 1984 prägte der Cyberpunk-Autor William Gibson in seinem Science Fiction Roman Neuromancer den Begriff der „kollektiven Halluzination“. Er meinte damit weit mehr als die technische Infrastruktur des Internets und beschrieb einen symbolischen Raum der digitalen Interaktion. Einen zutiefst bedeutungshaften Raum, in dem Zeichen, Symbole, Identitäten und Vorstellungen zirkulieren, wie in der Psyche des Menschen selbst.
Schnell wurde der Cyberspace auch von Philosoph:innen und Psychoanalytiker:innen als psychischer Raum begriffen. Prominent bezeichnete Slavoj Žižek den virtuellen Raum als „Phantasmatisches“: In ihm verschwimmen Vorstellung und Realität; das Digitale wird zum Spiegel unserer inneren Bilder. „Phantasmatisches“ zeigt sich heute in Memes, Likes, Reels und anderen Posts, die psychische Inhalte sichtbar machen. Hier werden Wünsche, Sehnsüchte und Phantasien dargestellt und übersetzt: Da gibt es das ästhetische Video vom Urlaub am Meer, das man unbemerkt liked, während man in der überfüllten Bahn nachhause fährt. Oder das witzige Meme über die Unordentlichkeit des Ehemanns, das man als einen schmunzelnd vorgebrachten Vorwurf an den eigenen Partner weiterleitet. Man scrollt förmlich durch das Unbewusste, erkennt sich wieder, stößt lachend auf eigene Neurosen, Begehren und Konflikte.
Der Cyberspace erscheint so auch als Ort des freudschen „Es“, in dem Triebe, Affekte und Träume ungefiltert zirkulieren – vor allem aber als ein Raum, in dem Identität und Phantasie völlig neue Ausdrucksformen finden. Innere Zustände werden hier kollektiv: Gefühle, Gedanken und Impulse lösen sich aus der reinen Innerlichkeit und werden im Affekt breit kommuniziert, kommentiert und verstärkt.
Der „zweite Spiegel“
Sherry Turkle, Psychologin am MIT und Wegbereiterin der „Cyberpsychologie“, beschrieb bereits Mitte der 1980er Jahre in The Second Self den Computer als projektiven Raum, der es Nutzer:innen erlaubt, Wünsche, Ängste und die eigene Identität zu reflektieren. Für Turkle funktioniert der Computer als „zweiter Spiegel“ des Selbst, da er Menschen dazu bringt, ihr sonst Inneres zu externalisieren: „The computer is a new mirror…the first psychological machine.“ Schon vor der Ära des World Wide Web argumentiert sie, dass Computer nicht nur technische Werkzeuge, sondern integraler Bestandteil unseres psychischen und sozialen Lebens sind. Rechnergestützte Objekte, so Turkle, seien sowohl ein Teil des Selbst als auch der Außenwelt, da sie zwischen Belebtem und Unbelebtem stehen. Ein Beispiel, das sie dafür anführt, ist die Nutzungserfahrung eines jungen Mädchens, die nach dem Programmieren sagt: „Ein kleiner Teil deines Geistes ist jetzt ein kleiner Teil des Geistes des Computers“. Der Computer lässt jene psychischen Anteile sichtbar werden, die wir zuvor in ihn projiziert haben.
Heute hat sich Turkles „zweiter Spiegel“ vervielfacht und mitten in diesem „kollektiven Spiegel“ taucht plötzlich eine vertraute Figur wieder auf: Sigmund Freud. Während seine Theorien an den psychologischen Fakultäten oft als unzeitgemäß gelten, erlebt er im Netz ein erstaunliches Comeback und wird in den sozialen Medien zur Projektionsfläche. Begeben wir uns also mitten hinein in das Epizentrum der Metaebenen: TikTok.
40 Sekunden, um Freuds Konzept des Ödipus zu erzählen? Die Smartphone-Kamera folgt drei jungen Frauen, die durch das Freud-Museum in London wirbeln. In den Ausstellungsräumen, vorbei an Bücherregalen, posieren sie neben der berühmten Couch des Psychoanalytikers. Im Hintergrund läuft, passend choreografiert, der Song Daddy Issues von The Neighbourhood. Betitelt ist das Video mit: Rest in Peace Sigmund Freud, You Would Have Loved This! In einem anderen Clip präsentiert eine junge Frau ihr Kleid: Ein seidenes Slip Dress mit einem übergroßen Porträt Freuds. Ironisch ergänzt sie: „Did you just call me mom?“ und versieht das Video mit dem Titel Freudian slip. Ihre Hommage an den Freudschen Versprecher.
Beliebt ist Freud immer dann, wenn es um Bindungsstile geht: Unter dem Hashtag #FreudWasRight kommentieren junge Menschen ihre Beziehungsprobleme – und die Referenz wird breit verstanden. Vor allem als Meme geistert Freud weiter durchs Netz: Der Instagram-Kanal @freud.intensifies hat über 1,4 Millionen Follower:innen und sammelt Alltagszenen und Situationen, die als Freudsche Versprecher interpretiert werden: „Mit jedem Meme wird Freuds Geist ein Stück größer“, scherzt die Seite. Wer sich besonders stark mit Freud identifiziert, kann sogar Freud-Merch im Webshop erwerben. Freud ist als Figur also längst Teil des digitalen Unbewussten. Die Popkultur hat ihn zwar immer wieder revitalisiert – in Filmen, Musik, Werbespots oder eben als Merch-Motiv –, neu ist aber, dass die Gen Z Plattformen wie TikTok nutzt, um die Psychoanalyse zu einem Instrument alltäglicher Selbstreflexion zu machen.
Für Elizabeth Lunbeck, Professorin für Wissenschaftsgeschichte und Psychoanalyse an der Harvard University, ist die Freud-Begeisterung mehr als nur Ironie. Er gewinne für viele junge Menschen an Bedeutung, „weil er das Irrationale ernst nimmt“. In ihren Seminaren sei Freud nicht nur der „dirty old man“, über den man lache, sondern „der Freud der Übertragung, Wiederholung und Reinszenierung“ – in dessen Konzepten man sich selbst wiedererkenne. Sie betont außerdem: „Der Social-Media-Feed ist zum zeitgenössischen psychischen Ausdrucksfeld geworden“, ein Feld, das sich seiner eigenen psychologischen Dynamiken nach und nach bewusst wird.
Was heute auf Social Media als bloßer „Therapiesprech“ erscheint, beruht oft tief auf freudianischen Grundannahmen: Dass das Verhalten inneren, verdrängten Konflikten entspringt; dass Eltern und Kindheit die eigene Beziehungsfähigkeit prägen. Freud ist daher für die Gen Z nicht nur ironisches Meme, sondern auch ein Instrument zur Selbstdeutung – wenn auch meist auf einer oberflächlichen Ebene. Das, was in den Posts, Memes oder Hashtags wie #FreudWasRight sichtbar wird, ist oft ein Wiedererkennen eigener Motivationen und Affekte, denen mit Freud eine passende Bildsprache gegeben wird. Die digitale Bilderwelt bietet durch die Abermillionen an kollektivierten und vergegenständlichten inneren Zuständen dabei einen Materialschatz für Analysen im Sinne Freuds. Zugleich ist der Bezug auf Freud im Digitalen vielleicht selbst Ausdruck bestimmter Bedürfnisse und Versuche, inmitten dieser digitalen Überfülle nach Mustern, Motiven und Bedeutungen zu suchen. Freud wird so nicht nur benutzt, um das Digitale zu deuten, sondern sein digitales Comeback ist selbst Teil dieses kollektiven psychischen Ausdrucksfeldes.
Zeitgenössische Affektverarbeitung
Lunbeck fügt auch hinzu, dass sich Freud-Memes, ähnlich wie KI-Therapie-Chats, als neue Ausdrucksformen psychischer Regulation begreifen lassen: „Menschen nutzen heute Chatbots als emotionale Resonanzflächen, als Spiegel ihrer Affekte, um sich herunterzuregulieren“, so Lunbeck. Auch Memes erfüllen diese Funktion, indem sie Affekte auslagern, ausdrücken, ordnen, humorisieren und so abschwächen. „Vielleicht“, sagt sie, „zeigt sich hier nicht das Ende der Psychoanalyse, sondern ihre Transformation.“
Am Ende zeigt sich in den Memes auch genau das, was Freud selbst schon immer betonte: Die Psyche funktioniert in Bildern. Das Unbewusste kann nur in bildhaften Darstellungen kommunizieren. Ob Freud an diesem zeitgeistigen Umgang mit seinem geistigen Erbe – und Leib –also tatsächlich Gefallen gefunden hätte? Wahrscheinlich hätte er gestaunt, wie das Unbewusste heute im Cyberspace nicht verdrängt, sondern zum Meme wird. Und hätte uns zustimmend daran erinnert, dass die digitale Welt, in der wir leben, eben kein rationales System, sondern ein komplexer, symbolisch aufgeladener Raum ist. •
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