Tag - Body
Perspektive

Stephen Greenblatt: „Sobald man Teil der Lüge wird, ist man nicht ihr Opfer"

Stephen Greenblatt, im Interview mit Nils Markwardt veröffentlicht am 8 min

Um heutige Autokratien zu verstehen, muss man den bekanntesten Schriftsteller der Welt lesen: William Shakespeare. Ein Gespräch mit dem Literaturwissenschaftler Stephen Greenblatt über die Funktion von Fiktionen und die Geburt der Macht aus dem Drama

Philosophie Magazin: Herr Greenblatt, wenn Sie Zeitung lesen oder Nachrichten schauen, denken Sie dann manchmal: „Das ist ja wie bei Shakespeare“?
Stephen Greenblatt: Manchmal passiert das tatsächlich, ja. Als herauskam, dass der Journalist Jamal Khashoggi im saudischen Konsulat in Istanbul ermordet und in Stücke gehackt wurde, war das so ein Shakespeare-Moment. Ebenso als es vor einiger Zeit diese Fernsehbilder von Trump gab, auf denen er mit seinem Kabinett an einem Tisch saß und jeder seiner Minister erklären musste, warum er so ein großartiger Präsident sei. Das war auch sehr shakespearesk.

Wenn Sie in Ihrem Buch Shakespeares Stücke analysieren, denkt man wiederum oft: „Das kennt man ja aus den Nachrichten!“ Etwa bei der Figur des Jack Cade in Heinrich VI., eine Art Renaissance-Trump, der gegen das „Establishment“ wütet und Intellektuelle verachtet. Aber auch die Schamlosigkeit und den Narzissmus von Richard III. oder Macbeth meint man bei Putin oder Erdogan wiederzuerkennen. Ist Shakespeare also unser „Zeitgenosse“?
Einerseits ist ein Mann, der vor 400 Jahren in einer völlig anderen Welt lebte, offensichtlich keiner „von uns“. Und ich glaube auch nicht, dass er ein Nostradamus war, der über einen mysteriösen Zugang zur Zukunft verfügte. Andererseits wurde mein Vater 1897 geboren, mein jüngster Sohn hingegen 2001. Das heißt: mein Vater, mein Sohn und ich kamen in drei unterschiedlichen Jahrhunderten zur Welt. Es wäre also naiv zu glauben, dass 400 Jahre eine unglaublich lange Zeit sind. Genau besehen, ist das gar nicht so lange her.

Was in jedem Fall zeitgenössisch wirkt, ist die Kernfrage vieler Shakespeare-Stücke: Wie können so offensichtlich brutale und inkompetente Herrscher wie Richard III., Julius Caesar oder Macbeth überhaupt an die Macht kommen?
Eine Gemeinsamkeit vieler Stücke Shakespeares besteht darin, dass immer wieder Figuren mit einem bestimmten Persönlichkeitstypus auftauchen, den er vermutlich für universell hielt. Und dieser grobe, bisweilen primatenhafte Typus kommt nie von alleine an die Macht. Es braucht stets Menschen, die sich etwas von ihm erhoffen und seine Herrschaft ermöglichen. Shakespeares Zeitgenosse Étienne de La Boétie, ein guter Freund des Philosophen Michel de Montaigne, formulierte die Idee, dass Tyrannen durch Ungehorsam zu Fall gebracht werden können. In dieser Gandhi vorwegnehmenden Vorstellung müssten Diktatoren einfach deshalb abdanken, da ihnen die Befehle verweigert werden. Will der Tyrann, dass man ihm einen Kaffee bringt oder dass man jemanden für ihn umbringt, lehnt man das einfach ab. Shakespeare hielt das für illusorisch. Denn Tyrannen finden immer Vollstrecker. Sie herrschen nie allein, sondern stets mittels williger Helfer.

In diesem Zusammenhang spielen auch die Lügen des Tyrannen eine wichtige Rolle. Bei Shakespeare sind die meist gar nicht dafür da, dass sie jemand glaubt. Denn oft weiß jeder, dass es schamlose Lügen sind. Sie scheinen also eine andere Funktion zu haben.
Nicht nur eine. Manche Menschen widersprechen Lügen schlicht deshalb nicht, weil sie Angst haben, sonst Probleme zu bekommen. Andere glauben, dass sie aus der Herrschaft des Tyrannen Vorteile ziehen können, dass für sie etwas abfällt, sodass sie über alles hinwegsehen, von dem sie wissen, dass es unwahr ist. Wieder andere verspüren ein regelrechtes Vergnügen darin, durch eine Affirmation der Lüge Aggressionen ablassen zu können. Sobald man nämlich Teil der Lüge wird, ist man nicht ihr Opfer. Und manche Menschen sehen in den Lügen des Tyrannen schließlich eine Erlaubnis für ihre eigenen. Man kennt das von Silvio Berlusconi, der vielen seiner Wähler das Gefühl gab, seine großen Betrügereien seien eine Lizenz für die kleinen Betrügereien im Alltag. Nach dem Motto: Wenn der Präsident Millionen von Euro stiehlt, ist es auch okay, wenn ich im Bus schwarzfahre. Es gibt in diesem Zusammenhang aber auch noch einen wichtigen Aspekt, der mit dem Medium des Theaters selbst zu tun hat.

Inwiefern?
Shakespeare war sich sehr bewusst, dass beim Theater jenes eigenartige Prinzip vorherrscht, das der Dichter und Philosoph Samuel Taylor Coleridge später die „willentliche Aussetzung der Ungläubigkeit“ nannte. Um die Aufführung genießen zu können, muss man sich für deren Dauer den fiktionalen Vorgaben der Bühnenfiguren unterwerfen. Im Theater werden Leute also darin trainiert, etwas Inszeniertes zum Zwecke der Unterhaltung für einen Moment lang als wahr zu nehmen, etwas für real zu halten, von dem sie wissen, dass es das nicht ist. Den Puritanern um Oliver Cromwell war das ein Graus, weshalb sie 1642 auch alle Theater schließen ließen. Shakespeare sah das naturgemäß anders. Gleichzeitig war ihm klar, welche erschreckende Macht die Fiktion besitzen kann. Er erkannte eine Verbindung zwischen der spielerischen Unterwerfung unter die Inszenierungen des Theaters und der Art und Weise, wie Menschen an Macht gewinnen. Man sieht das etwa an Figuren wie Iago in „Othello“ oder Aaron in „Titus Andronicus“, die verdeutlichen, was es heißt, ein Dramatiker zu sein. Sie sind „Plotter“, Anstifter, die Menschen wie Schachfiguren hin und her schieben und diese dazu bringen, etwas zu sehen, was gar nicht da ist. Mir scheint jedoch, dass Shakespeare davon ausging, eben diese Macht könne auch gegen die Tyrannei eingesetzt werden.

Und wie?
Eines der Gesetze, das noch von Heinrich VIII. erlassen wurde, erklärte es zum Hochverrat, die Ermordung des Königs zu planen – oder sich diese auch nur vorzustellen. Die Funktion dieses Gesetzes lag letztlich darin, dass man theoretisch jeden verfolgen konnte, den man wollte. Nun war es aber Shakespeares Beruf, täglich 2000 bis 3000 Leuten beizubringen, sich den Tod eines Königs vorzustellen. Er wurde aber nicht verfolgt, weil das Theater als spielerischer, nicht ernst zu nehmender Ort galt. Vor diesem Hintergrund ist ein möglicher Zusammenhang bemerkenswert, den ich freilich nicht beweisen kann, der mir aber bedenkenswert erscheint: Seit dem Bau erster eigenständiger Schauspielhäuser in den 1570er-Jahren bis zur ihrer Schließung durch die Puritaner 1642 wurde mehreren Generationen englischer Theaterbesucher beigebracht, sich die Ermordung des Königs vorzustellen. Nach der Ausrufung der Republik und dem Ende des Bürgerkriegs wurde der König nicht einfach umgebracht. Nein, die Puritaner um Cromwell machten etwas gleichermaßen Erstaunliches wie Revolutionäres: Sie machten dem König den Prozess. Sie stellten ihn wegen Missachtung des Gemeinwohls vor Gericht und exekutierten ihn danach. Wie kamen sie darauf? Für solch eine „Aufführung“ gab es historisch immerhin kein wirkliches Vorbild. Ein Grund – wenn auch sicher nicht der einzige – mag darin liegen, dass Shakespeare etwas Ähnliches im Theater bereits für Generationen von Engländern vorgemacht hatte.

Was die Frage aufwirft, ob Shakespeare das Volk letztlich für ähnlich manipulierbar hielt wie das Publikum. In seinen Stücken passiert es ja eher selten, dass Figuren ohne Rang und Namen sich gegen die Brutalität der Tyrannen aussprechen. Meist werden Letztere durch andere Eliten zu Fall gebracht.
Shakespeare scheint in der Tat davon ausgegangen zu sein, dass Menschenmassen beeinflussbar und manipulierbar sind. In seinen Stücken ist es jedoch nicht nur, ja vielleicht nicht einmal hauptsächlich die Elite, die den Tyrannen am Ende stürzt. Die gleichermaßen schreckliche, aber nicht seltene Art, wie der Tyrann zu Fall kommt, besteht im Bürgerkrieg. Und der bezieht Elite und Volk gleichermaßen ein, man denke hier etwa an „Coriolanus“. Ein anderer Aspekt, der die Masse wiederum in ein positiveres Licht rückt, betrifft abermals das Theater selbst. Shakespeare war natürlich sehr daran interessiert, dass die Vorstellungen voll waren. Die Aufführungen mussten den Leuten gefallen, damit sie diese per Mundpropaganda weiterempfahlen. Shakespeare scheint deshalb ungewöhnlich offen gegenüber der Idee gewesen zu sein, dass es eine große amorphe Masse ist, bestehend aus Elite und Mittelklasse, Frauen und Männern, Prostituierten und Taschendieben, die jenen Ort bilden, an dem die wichtigen Entscheidungen getroffen werden. Das mögen dann im Zweifelsfall auch die falschen sein, aber er akzeptierte, dass er kein Drama für Höflinge machte, sondern für eine große, bunte Mischung an Menschen. Und viel näher kann man der Vorstellung eines demokratischen Staates ja kaum kommen.

Überhaupt scheinen Theater und Politik gar nicht so unterschiedlich zu sein. Gerade Autokraten lieben ja inszenierte Auftritte.
Shakespeare hatte in jedem Fall erkannt, welch bedeutende Funktion seinem Medium zukam. Man muss zunächst bedenken, welch neues Phänomen Theater damals waren. Wie bereits erwähnt, wurde in England erst in den 1570er-Jahren damit begonnen, eigenständige Schauspielhäuser zu bauen. Plötzlich gab es dann jedoch gleich mehrere eigene, frei stehende Theater, die mitunter Platz für 2000 bis 3000 Menschen boten. Zumindest in London machte also eine große Menge Menschen eine Erfahrung, die sie zuvor nicht kannten. Sowohl Shakespeare als auch die damalige Elite verstanden, dass das eine interessante, neue Machtquelle war. Mary Tudor, Eduard VI. oder Heinrich VIII. reisten bereits durch die verschiedenen Teile des Landes, um ihre Herrschaft zu inszenieren. Bei Elisabeth I. vollzog sich die Theatralisierung des Hofes selbst. Das scheint mir kein Zufall zu sein.

Kannte Shakespeare eigentlich die Klassiker der Machttheorie? Etwa Machiavelli?
Genau wissen wir es leider nicht, aber es ist anzunehmen, dass er Machiavelli gelesen hat. Ebenso Jean Bodin, Thomas Morus und Tacitus, der damals stark rezipiert wurde. Wie weit er jedoch wirklich an dieser theoretischen Ebene interessiert war, ist nicht zu sagen.

Der Vergleich zwischen Shakespeares Tyrannen und unserer heutigen Zeit stößt aber auch an Grenzen. Allein schon deshalb, weil die Diktatur der Zukunft anders funktioniert als die der Vergangenheit. Die Herrschaft Xi Jinpings in China ist zwar ebenfalls brutal, aber durch den totalen Einsatz digitaler Überwachungstechnologien gleichzeitig auch „leise“ und effizient.
Was mich an Xi Jinping fasziniert, fasziniert mich im Grunde auch an Trump, auch wenn sie so komplett unterschiedlich wirken: Sie haben beide verstanden, dass die Zukunft der Tyrannei nicht im shakespeareschen Weg liegt, nicht darin, Menschen in ein Konsulat zu locken und dort mit einer Knochensäge zu zerteilen. Die Tyrannei der Zukunft besteht eher darin, Medien und Menschen auf neue Art zu kontrollieren. Die chinesische Variante ist dabei „eleganter“, sie zeigt sich etwa in dem allumfassenden Social-Credit-System. Trumps Variante besteht hingegen darin, konstant so viel Lärm zu machen, dass man am Ende taub wird und nichts mehr hört. Beides ist ziemlich erfolgreich.

In Ihrem Buch schreiben Sie, der Traum des Tyrannen liege darin, nicht nur die Gegenwart zu vergiften, sondern auch künftige Generationen. Was heißt das konkret?
Wenn ich mir Trump angucke, fallen einem direkt zwei Beispiele ein. Zum einen die Ernennung von Betsy DeVos zur Bildungsministerin, einer Frau, die sich gegen die Universitäten stellt, gegen das öffentliche Schulsystem, ja eigentlich gegen die Idee von Bildung selbst. Zum Zweiten Trumps Ausstieg aus dem Pariser Klimaabkommen und die damit verbundene Gleichgültigkeit gegenüber dem Planeten. Gibt es klarere Anzeichen dafür, ein Feind der Zukunft zu sein?

Anzeige
Tag - Body

Weitere Artikel

Essay
8 min

William James und die radikale Hoffnung

Wolfram Eilenberger

Was tun angesichts einer fundamental ungewissen Lage wie der derzeitigen Pandemie? Der Begründer des Pragmatismus William James riet: Nicht zaudern, sondern sich in radikaler Hoffnung, im „Willen zum Glauben“ üben.

William James und die radikale Hoffnung

Impulse
2 min

Mike Leigh - Der Lebensnahe

Eva Maria Gerstenlauer

In seinen Filmen fängt der britische Regisseur das Menschsein ein. Hart leuchtet Mike Leigh seine Figuren aus, lässt ihre existenziellen Krisen scharf hervortreten. Für sein Werk „Lügen und Geheimnisse“ erhielt er 1996 die Goldene Palme. Sein neuer Film „Mr. Turner – Meister des Lichts“ zeichnet das bewegte Leben des englischen Malers William Turner nach 


Impulse
5 min

Putins Lügen und Kants Irrtum

Geert Keil

Mit ihren Lügen untergraben Putin und Lawrow nicht die regelbasierte internationale Ordnung, sondern ihre eigene Macht. Ein Impuls von Geert Keil.

Putins Lügen und Kants Irrtum

Artikel
4 min

Was weiß mein Körper?

Svenja Flasspoehler

Die Frage irritiert. Was soll mein Körper schon wissen? Ist das Problem denn nicht gerade, dass er nichts weiß? Weder Vernunft noch Weisheit besitzt? Warum sonst gibt es Gesundheitsratgeber, Rückenschulen, Schmerztabletten, viel zu hohe Cholesterinwerte. Und wieso gibt es Fitness-Tracker, diese kleinen schwarzen Armbänder, die ihrem Träger haargenau anzeigen, wie viele Meter heute noch gelaufen, wie viele Kalorien noch verbrannt werden müssen oder wie viel Schlaf der Körper braucht. All das weiß dieser nämlich nicht von selbst – ja, er hat es bei Lichte betrachtet noch nie gewusst. Mag ja sein, dass man im 16. Jahrhundert von ganz allein ins Bett gegangen ist. Aber doch wohl nicht, weil der Körper damals noch wissend, sondern weil er von ruinöser Arbeit todmüde und es schlicht stockdunkel war, sobald die Sonne unterging. Wer also wollte bestreiten, dass der Körper selbst über kein Wissen verfügt und auch nie verfügt hat? Und es also vielmehr darum geht, möglichst viel Wissen über ihn zu sammeln, um ihn möglichst lang fit zu halten.



Impulse
10 min

Wo beginnt Täter-Opfer-Umkehr?

Svenja Flasspoehler

Der Vorwurf einer „Täter-Opfer-Umkehr“ hat in gegenwärtigen Debatten Konjunktur. Oft stimmt er, aber bei Weitem nicht immer. Wo also verläuft die Grenze? Ein Klärungsversuch von Svenja Flaßpöhler.

Wo beginnt Täter-Opfer-Umkehr?

Gespräch
16 min

„Wir haben die Pflicht, Sinn zu stiften“

Kilian Thomas

Reinhold Messner ist einer der letzten großen Abenteurer der Gegenwart. Mit seiner Ehefrau Diane hat er ein Buch über die sinngebende Funktion des Verzichts geschrieben. Ein Gespräch über gelingendes Leben und die Frage, weshalb die menschliche Natur ohne Wildnis undenkbar ist.

„Wir haben die Pflicht, Sinn zu stiften“

Gespräch
10 min

Stanley Cavell: „Der Kampf zwischen Hoffnung und Verzweiflung motiviert das Denken“

Juliette Cerf

Stanley Cavell gehörte zu den einflussreichsten amerikanischen Philosophen der Gegenwart. Abseits von den traditionellen Wegen beruht sein Werk auf den Arbeiten Wittgensteins, dem Theater Shakespeares und Hollywoodkomödien. Als Suche nach dem Alltäglichen schlägt seine Philosophie eine Neubegründung des Skeptizismus vor, der sich mehr an der Erfahrung als an der Erkenntnis orientiert. Am 19.06.2018 ist Stanley Cavell im Alter von 91 Jahren verstorben. Aus diesem traurigen Anlass veröffentlichen wir dieses 2012 geführte Interview das erste Mal in deutscher Übersetzung.

Stanley Cavell: „Der Kampf zwischen Hoffnung und Verzweiflung motiviert das Denken“