Unglück oder Ungerechtigkeit?
In welchem Verhältnis stehen bei einer Katastrophe wie dem Erdbeben in der Türkei und Syrien natürliches Geschehen und menschliches Versagen? Antworten auf diese Frage finden sich in Judith N. Shklars Essay Über Ungerechtigkeit aus dem Jahr 1990.
„Wann ist eine Katastrophe ein Unglück und wann eine Ungerechtigkeit? Intuitiv scheint uns die Antwort offensichtlich zu sein. Sind äußere Naturgewalten Ursache des furchtbaren Ereignisses, handelt es sich um ein Unglück, und wir müssen uns in unsere Leiden fügen. Sollte es jedoch ein menschliches oder übernatürliches Wesen mit üblen Absichten herbeigeführt haben, dann handelt es sich um eine Ungerechtigkeit und wir dürfen unsere Empörung und unseren Zorn zum Ausdruck bringen. So wie die Dinge liegen und wir sie erfahren, besagt diese Unterscheidung, an der wir so hartnäckig festhalten, nicht sehr viel. Die Gründe dafür werden deutlich, wenn wir uns daran erinnern, dass es häufig eine Frage der Technik und der Ideologie oder Interpretation ist, ob wir etwas für unvermeidlich und natürlich oder für kontrollierbar und gesellschaftlich halten. Die Wahrnehmungen der Opfer und derjenigen, die – wie direkt oder indirekt auch immer – Täter sein mögen, neigen dazu, sehr unterschiedlich auszufallen. Die Betroffenen erfahren weder die Tatsachen noch ihre Bedeutung auf dieselbe Weise wie bloße Beobachter oder diejenigen, die das Leiden hätten abwenden oder lindern können. Diese Menschen sind zu weit voneinander entfernt, um die Dinge auf dieselbe Weise zu sehen. […]
Ein Erdbeben ist ohne Frage ein natürliches Ereignis, aber wenn großer Schaden entstanden ist und viele Menschen umgekommen sind, dann ist das nicht alles, was darüber gesagt werden kann oder tatsächlich gesagt wird. Man wird es auch als eine Ungerechtigkeit betrachten und zwar aufgrund ganz unterschiedlicher Gründe. Religiöse Menschen werden Gott die Schuld geben. ‚Warum wir?‘, klagen sie. ‚Wir sind nicht gottloser als andere Städte, warum werden wir allein bestraft?‘ Oder noch spezifischer: ‚Warum mein Kind?‘ Von den weniger religiösen Opfern mögen einige schlicht sagen, ‚die Natur ist grausam.‘ Es dürften allerdings nicht viele sein, die so denken, denn eine Welt voller Zufall und Willkür ist schwer zu ertragen und die Verzweifelten werden sich nach verantwortlichen, menschlichen Urhebern umschauen. Sie zu finden wird ihnen nicht schwerfallen. Mit Sicherheit trugen viele zur Katastrophe bei und verschlimmerten ihre Auswirkungen. Es stürzten etwa viele Gebäude ein, weil Unternehmer gegen Sicherheitsnormen verstoßen und die Bauaufsicht bestochen haben. Die Bevölkerung wird vor solchen Gefahren, die sich mittels technisch hochentwickelter Apparate voraussagen lassen, selten ausreichend gewarnt. Die Behörden treffen darüber hinaus nicht immer ernsthafte Vorbereitungen für das Eintreten derartiger Ereignisse, sodass dann keine effizient organisierten Hilfsmaßnahmen, keine ausreichende medizinische Hilfe und keine schnellen Transportmöglichkeiten für Verwundete zur Verfügung stehen. Viele, die man hätte retten können, werden sterben.“
Judith N. Shklar: Über Ungerechtigkeit. Erkundungen zu einem moralischen Gefühl (2021 [1990])
Judith N. Shklar (1928–1992) war eine lettische Politologin und Philosophin. Ihr Anliegen war ein Liberalismus, der Grausamkeit und Ungerechtigkeit verhindert. In ihren Büchern entwirft sie weder große Systeme noch liefert sie letzte Antworten, sondern verfolgt einen skeptischen Denkstil. „Über Ungerechtigkeit“ ist in neuer Übersetzung bei Matthes & Seitz erschienen (2021).
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