Vive la Frallemagne!
Während Großbritannien möglicherweise vor dem Abschied aus der EU steht, haben Deutschland und Frankreich sich nicht nur erfolgreich ausgesöhnt, sondern dominieren auch die europäische politische Arena. Nun gälte es den nächsten Schritt zu wagen, hin zu einer vollständigen Vereinigung!
Warum eine Vereinigung? Und warum jetzt? Deutsche und Franzosen meinen, sie seien unterschiedlich. Das ist falsch. In Wirklichkeit sind wir einander, philosophisch gesehen, auf drei grundlegenden Ebenen ähnlich geworden. Erstens sind wir zwei Völker von Denkern, Forschern und Ingenieuren. Wir bewerten die Abstraktion übermäßig hoch, im Unterschied zu den Engländern, die weitaus empirischer und skeptischer handeln. Oft stellt man das französische, kartesianische Denken, das sich auf die Vorstellung der Klarheit des Ausdrucks stützt („was gut durchdacht ist, lässt sich klar ausdrücken“, sagte Nicolas Boileau), dem deutschen, dialektischen und auf der Schwierigkeit der Argumentation gegründeten Denken gegenüber. Dabei handelt es sich in Wirklichkeit um das gleiche Denken. Franzosen und Deutsche haben nämlich einen gemeinsamen Glauben an die abstrakte Vernunft. Ein Glaube, der technische und mathematische Möglichkeiten eröffnet. Wir sind zwei Länder von Planern. Und unsere intellektuelle Vergangenheit stützt sich auf eine gegenseitige Stimulation bei der Suche nach Abstraktion. Die Geschichte der modernen Philosophie von der französischen Aufklärung bis zur deutschen Romantik ist ein ununterbrochener Dialog zwischen unseren beiden Völkern rund um die Macht der Vernunft. Und auch die Erfindung der Humboldt’schen Universität durch Deutschland im 19. Jahrhundert kommt daher: Deutschland etabliert die Einheit von Forschung und Lehre als Reaktion auf den Erfolg der französischen Wissenschaft durch welche die ersten napoleonischen Siege ermöglicht wurden. Noch heute glauben unsere beiden Völker an diese Macht der Abstraktion. Und nun zur zweiten Gemeinsamkeit: Wir haben die gleiche Vorstellung von Staatlichkeit. Sicher, Deutschland ist ein dezentral in verschiedene Bundesländer untergliederter föderaler Staat, während Frankreich stark auf seine Hauptstadt und seinen Einheitsstaat hin zentralisiert ist. Doch jenseits dieses unterschiedlichen Organisationsmodus’ teilen wir eine gemeinsame politische, auf die Idealisierung des Staates fokussierte Philosophie. Das unterscheidet uns deutlich von den Engländern mit ihrem Kult der „Civil Society“, die sie als wahren Motor ihrer Geschichte ansehen. Und die dritte Parallele: Deutsche und Franzosen sind gespalten durch den tiefen christlichen Antagonismus von Katholiken und Protestanten, bei den Deutschen zwischen Katholiken und evangelisch-lutherischen Protestanten; bei den Franzosen zwischen Katholiken und calvinistisch geprägten Protestanten. Diese Kultur des religiösen Konflikts hat sich zu einer durchaus fruchtbaren Kultur des politischen Konflikts entwickelt. Somit lebt in der Brust des Monotheismus eine Form von Polytheismus. Es ist ein Zeichen der Öffnung hin zu anderen, von außerhalb gekommenen Kulturen.
Tiefe gegenseitige Faszination — gewachsen seit Jahrhunderten und allen Reibungen zum Trotz
Was unterscheidet denn dann Franzosen und Deutsche überhaupt noch voneinander?
Die Franzosen sind von Deutschland fasziniert. Und die Deutschen … sind von den Franzosen fasziniert. Das geht auf Voltaire, auf die Brüder Grimm und Madame de Staël zurück. Und es erstreckt sich gleichermaßen auf die von den Franzosen bewunderten deutschen Autos wie auf den Lebensstil oder die Küche der Franzosen, wofür sich wiederum die Deutschen begeistern. Allerdings ist es nicht gerade einfach, mit dieser gegenseitigen Faszination umzugehen. Denn sie beinhaltet eben auch heftige gegenseitige Kritik. Wir verabscheuen das Obrigkeitsdenken der Deutschen, die wiederum unsere Disziplinlosigkeit verabscheuen. In die Faszination mischen sich also Anziehung und Ablehnung. Im Grunde genau wie bei allen großen Liebesgeschichten …
Beide sind stolz, beide bedroht: Nur im Verbund ist die Zukunft zu meistern
Doch jetzt geht es darum zu begreifen, dass Frankreich-Deutschland nicht nur machbar, sondern sogar notwendig ist. Denn beide Länder sind in Gefahr, wenn auch nicht aus denselben Gründen. Frankreich steckt in großen wirtschaftlichen Schwierigkeiten: Wir haben keine Ahnung, was Mittelstand bedeutet, sondern haben alles auf die Karte der großen Konzerne gesetzt, die nun die Knute der Entindustrialisierung des europäischen Kontinents heftig zu spüren bekommen. Dagegen ist Deutschland ein ökonomischer Koloss: Es hat die Situation vorausgesehen, unterstützt kleine und mittelständische Betriebe, hat seine Exporte vorangetrieben und so weiter. Allerdings steht der Koloss auf tönernen Füßen und wird von einem anderen Übel bedroht: der sinkenden Geburtenrate. So stößt jeder an die Grenzen der Auflösung, wenngleich wir das nur ungern zugeben. Wir sind jeweils überzeugt von der Überlegenheit des eigenen Modells: die Deutschen vom wirtschaftlichen Modell, die Franzosen vom kulturellen Modell. Beide Modelle sind hervorragend, und doch werden sie von ihrem eigenen Erfolg bedroht: Sie gleichen perfekten Systemen, die bald keine Ressourcen mehr haben, um aktuell zu bleiben. Ihre Schöpferkraft hat sich selbst erschöpft. In Frankreich ist das ganz offensichtlich in Bezug auf unser Verhältnis zur Erinnerung. Statt die Zukunft anzugehen, betreiben wir eine unaufhörliche Nabelschau: Revolutionen sollen ablaufen wie die Französische Revolution, Laizität nach französischem Modell, Erziehung à la française …
So wird Frankreich nach und nach zu einem Museum seiner selbst. Wie lange noch? Allerdings, so negativ betrachtet, unterhält auch Deutschland ein pathologisches Verhältnis zur Erinnerung, im Sinne des ewigen Wiederkäuens der Verbrechen der Vergangenheit. Deutschland pflegt eine negative Leidenschaft, und wir pflegen eine positive Leidenschaft des Erinnerns. In der Realität aber ist die Vergangenheit für jeden von uns eine Last, die uns am Handeln hindert. Unsere Leidenschaft für die Erinnerung lässt mich an die Gestalt der Andromache bei Jean Racine denken. Man macht oft aus Hektors Witwe eine Heldin ehelicher Treue. Ich sehe sie allerdings eher als Spinne, als schwarze Witwe, die sich so intensiv an jene grausame Nacht erinnert, in der sie Hector verloren hat und in der Troja niedergebrannt wurde, dass sie allen Menschen ihrer Umgebung den Tod bringt. Das ist der Punkt, an dem sich die Pflicht zur Erinnerung in Gewalt verkehrt. Und das ist es auch, was mich an unserer ewigen Erinnerungsleier heute beunruhigt. Man kann natürlich gedanklich immer beim Zweiten Weltkrieg bleiben, doch ist er seit sechzig Jahren vorbei. Wir bürden unseren Kindern eine Last der Gewalt auf, indem wir ihnen ständig vom Krieg erzählen, so wie er bei Arte allabendlich über den Bildschirm flimmert. Nein, jetzt ist die Zeit gekommen zu vergessen. Die einzige Möglichkeit für unsere beiden Länder, dem Risiko, von der Weltbühne abtreten zu müssen, zu begegnen, ist, dass sie der Vergangenheit den Rücken zuwenden. Jetzt ist keine Zeit mehr, weiter unaufhörlich den Krieg durchzuspielen oder auf unseren Unterschieden herumzureiten. Es ist höchste Zeit für einen Zusammenschluss. Denn der einzige Ausweg für jedes unserer beiden Völker ist, sich gegenseitig zu retten.
Die nächste Generation wird die Revolution vollbringen
Wie kann das konkret ablaufen? Ich habe nicht den Anspruch, diesen neuen Raum konkret zu erschließen. Doch bin ich fest überzeugt, dass die neue Gemeinschaft nicht die Form einer Nation annehmen kann und darf. Denn schließlich hat uns gerade der Nationalgedanke gegeneinander aufgebracht. Ihn also sollten wir besser loswerden. Im Übrigen ist der Konföderationsgedanke, der die Versöhnung von Nationen erlaubt, nicht stark genug. Man müsste also einen neuen Typus von Gemeinschaft erfinden. Und parallel dazu Institutionen, die dieser neuen Gemeinschaft entsprechen. Denn vorhandene demokratische Institutionen wie die Parlamente sind ausgebrannt. Mit ihren Verfassungen, ihren Gesetzestexten, ihren offiziellen Zeitungen, ihren Beschlüssen – alles im Grunde nichts anderes als sich gegenseitig bestätigende Diskurse – stammen sie noch aus dem Zeitalter der Schriftlichkeit. Unsere politische Theorie stammt noch aus der Gutenberg-Ära. Doch pfeift die Zivilisation der Schriftlichkeit auf dem letzten Loch. Und wir sollten lieber von der wunderbaren Beschleunigung der neuen Technologien profitieren, um Institutionen zu schaffen, die dem aktuellen Stadium der Informatik entsprechen. Wir werden uns auch politisch nicht aus der Patsche ziehen, wenn wir nicht begreifen, dass eine Linie überschritten wurde, die so wichtig ist wie der Übergang von der Mündlichkeit zur Schriftlichkeit. Immerhin trifft es sich da gut, dass wir zwei Völker von Planern und Erfindern sind. So rufe ich die Planer beider Länder auf, mit den neuen Technologien neue Möglichkeiten des Zusammenschlusses zu entwerfen. Meine Idee eines Zusammenschlusses ist bisher ein unbeschriebenes Blatt, dem noch der institutionelle Überbau fehlt. Aber vielleicht wird die nächste Generation diese Revolution vollbringen. Der Auftrag dazu wäre jedenfalls vorhanden. Und ist die Idee erst einmal umgesetzt, wird sie gleichsam als „Potenzialtopf“ dienen, als Antriebskraft für alle anderen europäischen Völker.
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