Wann bin ich ganz ich?
Man selbst sein – eine große Sehnsucht in einer Welt der Entfremdung. Doch wann und wie ist das zu schaffen? Jean-Jacques Rousseau, Jean-Paul Sartre und Judith Butler haben da drei Tipps für Sie.
Jean-Jacques Rousseau
(1712–1778)
„Wenn ich mich zurückziehe“
„Der Wilde lebt in sich selbst; der gesellschaftliche Mensch ist immer außerhalb seiner selbst und weiß nur in der Meinung der anderen zu leben.“ Die Zivilisation ist für den Denker des 18. Jahrhunderts eine Geschichte der Entfremdung. Ausgehend von ursprünglicher Freiheit legten wir Menschen uns in gesellschaftliche Ketten. Wie kann man sich befreien und in die natürliche Einheit mit sich selbst zurückkehren? Durch die Abgrenzung von der Gesellschaft und den Rückzug in die Natur. Diese Reise in die Innerlichkeit bedeutet Rousseau jedoch nicht Rücksichtslosigkeit gegenüber den Mitmenschen, sondern die Widerentdeckung einer „angeborenen Liebe zum Guten“. Ganz bei mir bin ich moralisch. Fast zu schön, um wahr zu sein.
Jean-Paul Sartre
(1905–1980)
„Wenn ich meine Freiheit ernst nehme“
Die Entschuldigung, man habe keine andere Wahl gehabt, ist für den französischen Existenzialisten schlichtweg eine freche Unaufrichtigkeit. Der Mensch besitzt keine vorgegebene Natur, sondern formt seine Existenz. Somit geht die Suche nach dem Selbst nicht nach innen oder zurück, sondern zielt immer nach außen und vorn. Authentisch ist, in Sartres Augen, wer seine Freiheit ernst nimmt. Das heißt, sich zu entscheiden, wer man sein möchte, und dafür volle Verantwortung zu übernehmen. Dann nächstes Mal doch lieber zweimal überlegen, bevor man handelt.
Judith Butler
(*1956)
„Nie, aber in diesem Scheitern bin ich individuell“
Identität ist für die Philosophin und Vorreiterin der Gendertheorie das Ergebnis unserer alltäglichen „Performance“. Wir sind, was wir tun – haben darin jedoch keine unbegrenzte Freiheit, sondern orientieren uns etwa an gesellschaftlichen Idealen von Männlichkeit und Weiblichkeit. An diesen Idealen scheitern wir jedes Mal aufs Neue und verändern uns mit dieser Erfahrung. Somit befinden wir uns ständig im Prozess des Werdens – ohne jedoch überhaupt an ein Ziel gelangen zu können. Zeit also, diese beengende Vorstellung von Einheit und Identität zu verabschieden und stattdessen die Lust an der Überschreitung althergebrachter Normen zu entdecken. Klingt nach Freiheit. •
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Nichts scheint natürlicher als die Aufteilung der Menschen in zwei Geschlechter. Es gibt Männer und es gibt Frauen, wie sich, so die gängige Auffassung, an biologischen Merkmalen, aber auch an geschlechtsspezifischen Eigenschaften unschwer erkennen lässt. Diese vermeintliche Gewissheit wird durch Judith Butlers poststrukturalistische Geschlechtertheorie fundamental erschüttert. Nicht nur das soziale Geschlecht (gender), sondern auch das biologische Geschlecht (sex) ist für Butler ein Effekt von Machtdiskursen. Die Fortpf lanzungsorgane zur „natürlichen“ Grundlage der Geschlechterdifferenz zu erklären, sei immer schon Teil der „heterosexuellen Matrix“, so die amerikanische Philosophin in ihrem grundlegenden Werk „Das Unbehagen der Geschlechter“, das in den USA vor 25 Jahren erstmals veröffentlicht wurde. Seine visionäre Kraft scheint sich gerade heute zu bewahrheiten. So hat der Bundesrat kürzlich einen Gesetzesentwurf verabschiedet, der eine vollständige rechtliche Gleichstellung verheirateter homosexueller Paare vorsieht. Eine Entscheidung des Bundestags wird mit Spannung erwartet. Welche Rolle also wird die Biologie zukünftig noch spielen? Oder hat, wer so fragt, die Pointe Butlers schon missverstanden?
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Vergesst Sartre!
Das Verhältnis zwischen Michel Foucault und Jean-Paul Sartre war nicht einfach. In den 1960er-Jahren wurde Sartre für Foucault sogar zum heimlichen Antipoden. Dabei hatte Foucaults Frühwerk ganz anders begonnen.

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Die Sprache – auch die gesprochene – ist ihrer Struktur nach Schrift, so die These Jacques Derridas. Klingt unlogisch? Wir helfen weiter.

Wer ist mein wahres Selbst?
Kennen Sie auch solche Abende? Erschöpft sinken Sie, vielleicht mit einem Glas Wein in der Hand, aufs Sofa. Sie kommen gerade von einem Empfang, viele Kollegen waren da, Geschäftspartner, Sie haben stundenlang geredet und kamen sich dabei vor wie ein Schauspieler, der nicht in seine Rolle findet. All diese Blicke. All diese Erwartungen. All diese Menschen, die etwas in Ihnen sehen, das Sie gar nicht sind, und Sie nötigen, sich zu verstellen … Wann, so fragen Sie sich, war ich heute eigentlich ich? Ich – dieses kleine Wort klingt in Ihren Ohren auf einmal so seltsam, dass Sie sich unwillkürlich in den Arm kneifen. Ich – wer ist das? Habe ich überhaupt so etwas wie ein wahres Selbst? Wüsste ich dann nicht zumindest jetzt, in der Stille des Abends, etwas Sinnvolles mit mir anzufangen?
Und woran zweifelst du?
Wahrscheinlich geht es Ihnen derzeit ähnlich. Fast täglich muss ich mir aufs Neue eingestehen, wie viel Falsches ich die letzten Jahre für wahr und absolut unumstößlich gehalten habe. Und wie zweifelhaft mir deshalb nun alle Annahmen geworden sind, die auf diesem Fundament aufbauten. Niemand, dessen Urteilskraft ich traute, hat den Brexit ernsthaft für möglich gehalten. Niemand die Wahl Donald Trumps. Und hätte mir ein kundiger Freund vor nur zwei Jahren prophezeit, dass im Frühjahr 2017 der Fortbestand der USA als liberaler Rechtsstaat ebenso ernsthaft infrage steht wie die Zukunft der EU, ich hätte ihn als unheilbaren Apokalyptiker belächelt. Auf die Frage, woran ich derzeit am meisten zweifle, vermag ich deshalb nur eine ehrliche Antwort zu geben: Ich zweifle an mir selbst. Nicht zuletzt frage ich mich, ob die wundersam stabile Weltordnung, in der ich als Westeuropäer meine gesamte bisherige Lebenszeit verbringen durfte, sich nicht nur als kurze Traumepisode erweisen könnte, aus der wir nun alle gemeinsam schmerzhaft erwachen müssen. Es sind Zweifel, die mich tief verunsichern. Nur allzu gern wüsste ich sie durch eindeutige Fakten, klärende Methoden oder auch nur glaubhafte Verheißungen zu befrieden.
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Hält der Wecker uns in Unmündigkeit gefangen? Oder ist er die Bedingung für eine selbstbestimmte Existenz? In seinem Werk Das Sein und das Nichts betrachtet Jean-Paul Sartre diesen vermeintlich alltäglichen Gegenstand aus vier Perspektiven.
