Warten auf den Grenzfall
Wäre eine gezielte Infizierung von Krankenhauspersonal, gar eine flächendeckende „Durchinfizierung“ am Ende besser, so fragen sich viele. Nein, meint Eva Weber-Guskar. Zumindest nicht in der jetzigen Situation.
Vor kurzem wurde der Virologe Christian Drosten gefragt, was er von der Idee halte, junges medizinisches Personal gezielt mit dem Virus zu infizieren, damit diese nach symptomloser Quarantäne oder überstandener, leichter Krankheit besser eingesetzt werden könnten. Das heißt: ohne so viel Schutzaufwand wie vorher, mit geringerem Risiko, sich selbst oder andere anzustecken.
In seiner spontanen Reaktion hat Drosten gleich zwei wesentliche Argumente genannt, die man bei einer moralphilosophischen Diskussion des Themas auch vorbringen würde und einer näheren Betrachtung wert sind. Erstens sei es in einem demokratischen Staat undenkbar, dass Bürgerinnen oder Bürger ohne gefragt zu werden mit einer potenziell lebensgefährlichen Krankheit infiziert würden – selbst wenn damit ein sicherer Vorteil für die Gesamtgesellschaft verbunden wäre. Zweitens, so Drosten, sei das gesundheitliche Risiko viel zu hoch. Denn auch junge gesunde Menschen, die sich aus freien Stücken infizieren lassen würden, könnten an dem Virus schwer erkranken, auch wenn das bisher nur vergleichsweise selten der Fall war. Man könne da nicht einfach „durchinfizieren“.
In diesen Bemerkungen drückt sich die moralische Grundüberzeugung aus, dass jedes Individuum gleich viel wert ist, das heißt gleichermaßen berücksichtigt werden muss, verbunden mit der Überzeugung, dass insbesondere die individuelle körperliche Unversehrtheit ein hohes Gut ist, das nicht leicht gegen anderes abgewogen werden kann.
Vor diesem Hintergrund muss die Taktik, die zunächst in England gefahren wurde, umso mehr kritisiert werden. Den größten Teil der Bevölkerung (abgesehen von den vulnerablen Bevölkerungsgruppen) einem hohen Infektionsrisiko auszusetzen, indem man das öffentliche Leben weiterlaufen lässt, anstatt es einzuschränken, ist noch weniger vertretbar. Nur auf den ersten Blick ist es ein wichtiger Unterschied, ob man gezielt infiziert oder den Zufall in der Menge walten lässt. Der Nachteil bei dem „englischen“ Verfahren ist, dass die Infektionen lang nicht so gut überwacht werden können, und so das Risiko, wenn man infiziert wird, zu sterben, höher wäre als beim anderen Verfahren, in welchem die ausgewählten Personengruppen von Anfang an besser überwacht und wenn nötig gleich therapiert werden könnten.
Die Eindämmungsstrategie durch umfassende Maßnahmen zur sozialen Distanz ist folglich derzeit vorzuziehen. Allerdings sind Grenzfälle denkbar, in denen die drohende Gefahr so viel größer wäre, dass eine Herdenimmunisierung ernsthaft erwogen werden – und man also utilitaristischen Überlegungen doch mehr Gewicht zubilligen müsste. Etwa, wenn das Sterben des Großteils aller Kinder auf der Erde zu erwarten wäre. Dann würde es nämlich nicht nur um die gleiche Berücksichtigung aller lebenden Individuen gehen, sondern auch um die Existenz künftiger Generationen. Abzuwägen wäre dann etwa, ob man Testverfahren für Impfstoffe abkürzen müsste, auch wenn damit hohe Risiken verbunden sind. Eine Frage, die uns in der gegenwärtigen Lage zum Glück erspart bleibt.