Warum verlieben wir uns?
Schmetterlinge im Bauch, alles erscheint rosarot, die Umgebung gerät in Vergessenheit. Kurzum: Man ist verliebt. Aber wie kann man den Zustand erklären, in den man da geraten ist? Vier Philosophen antworten auf Ihr Seufzen.
Lukrez
(1. Jahrhundert v. Chr.)
„Aus Blindheit“
Wir verlieben uns, weil wir die Fehler des anderen in Vorzüge umdeuten. „Denn so machen’s die Leute zumeist, wenn die Liebe sie blind macht, dass sie den Lieblingen Reize, die gar nicht vorhanden sind, leihen“, bemerkt Lukrez (De rerum natura). Wir machen aus einer beliebigen Person eine Gottheit: „Redet sie stammelnd, so lispelt sie süß.“ So wie „die Stumme“ einfach „schüchtern“ ist, wird das „knochige, trockne“ Geschöpf kurzerhand zur „Gazelle“ erklärt. Wir lieben, weil wir nach dem Ideal suchen. Aber diese Vergötterung der geliebten Person ist eine Qual: Mit unseren Küssen und Liebkosungen wollen wir über den anderen herrschen und mit ihm verschmelzen. Das ist aber letzten Endes nicht möglich, und so wird die Liebe für die Liebenden zum unheilbaren Wahn, an dem sie letztlich „zugrunde“ gehen.
René Descartes
(17. Jahrhundert)
„Dank früher Prägungen“
Der Eindruck eines Déjà-vu-Erlebnisses ist charakteristisch für die Liebe auf den ersten Blick. Descartes entdeckt dahinter einen Mechanismus: „Als ich ein Kind war, liebte ich ein Mädchen meines Alters, das ein wenig schielte.“ (Brief an Chanut, 6. Juni 1647). Für ihn werden Erfahrungen seit dem frühen Kindesalter mit Gedanken und Gefühlen assoziiert – wer einmal einen Sinneseindruck mit dem Gefühl des Verliebtsein assoziiert, wird das auch später wieder tun. In Descartes Fall war es das Schielen, und als er später einer schielenden Frau begegnete, rief dies eine reflexartige Verliebtheit hervor. Der Körper erinnert sich an das, was ihn beeindruckt hat. Streng genommen ist man also nicht neu, sondern immer wieder verliebt, da man alte Anziehungen aktualisiert. Daher liebt man auch nicht mit der Seele, sondern vor allem mit dem Körper.
Immanuel Kant
(18.-19. Jahrhundert)
„Weil wir Kannibalen sind“
Lieben, das bedeutet, sich den anderen einzuverleiben, Geist und Körper zu reduzieren auf ein Konsumprodukt, einen „Kalbsbraten“, behauptet Kant. „Der Mensch hat zwar keine Neigung des andern Menschen sein Fleisch zu genüssen, (…) aber es bleibt eine Neigung beym Menschen die Appetit heißen kann und auf den Genuss des andern Menschen geht, dieses ist die Geschlechterneigung“ („Vorlesung zur Moralphilosophie“). Die Ehe ist für Kant die einzige Lösung, diese kannibalische Neigung zu bändigen: Sie ist ein Vertrag zweier Menschen, zum „wechselseitigen Besitz ihrer Geschlechtseigenschaften“ (Metaphysik der Sitten), und nur sie stellt sicher, dass dieser Besitz keine Verdinglichung des anderen, sondern ein auf gegenseitiger Anerkennung gründendes sittliches Verhältnis darstellt.
Niklas Luhmann
(20. Jahrhundert)
„Um Komplexität zu reduzieren“
Liebe ist eine Form zwischenmenschlicher Kommunikation, bei der wir dem anderen auf Augenhöhe begegnen. In einer Welt, die von Leistungsdruck, Individualismus und Hierarchien geprägt ist, verspricht die Liebe einen ruhigen Hafen der Zweisamkeit, einen Raum des gegenseitigen Erlebens abseits von Leistung und Gegenleistung. Für Luhmann ist Liebe – systemtheoretisch gesehen – ein Mittel zur Entwirrung der komplexen gesellschaftlichen Beziehungen und funktioniert als Entscheidungshilfe für die kontingenten Möglichkeiten der Partnerwahl (Liebe als Funktion). Die Sexualität geht mit der Liebe ein symbiotisches Verhältnis ein. Während der intime Kontakt „Unmittelbarkeit und Nähe“ herstellt, führt die „Reflexivität des wechselseitigen Begehrens“ zu einer Balance, die wiederum das Gefühl der Liebe verstärkt. •
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Schien die Kommunistische Partei Chinas durch die Corona-Pandemie anfangs ins Wanken zu geraten, ist sie mittlerweile mächtiger denn je. Wie das Regime den totalen Staat weiter ausbaute, warum man dessen Propaganda mit Hannah Arendt verstehen kann und weshalb Xi Jinping die alten chinesischen Philosophen rehabilitiert, erklärt Publizist Kai Strittmatter im Interview.

Gibt es einen guten Tod?
Kein Mensch entgeht dieser Frage. Für die meisten bleibt sie mit Angst behaftet. In den aktuellen Debatten zur Sterbehilfe wird über den guten Tod vor allem im Sinne des guten Sterbens und damit reiner Machbarkeitserwägungen verhandelt. Wo liegen unvertretbare Leidensgrenzen? Hat der Mensch das Recht, selbst über sein Ende zu bestimmen? Gibt es den wahrhaft frei gewählten Suizid überhaupt? Im Zuge dieser Konzentration auf das Sterben geraten die lebensleitenden Fragen aus dem Blick. Wie gehen wir mit der eigenen Endlichkeit und der unserer Nächsten um? Können wir uns mit dem Tod versöhnen? Wie sieht eine menschliche Existenz aus, die ihr Ende stets verdrängt? Oder ist das bewusste Vorauslaufen in den Tod – wie es beispielsweise Sokrates oder Heidegger behaupten – nicht gerade der Schlüssel zu einem gelungenen Dasein? Mit Beiträgen unter anderem von Svenja Flaßpöhler, Reinhard Merkel, Philippe Forest, Thomas Macho und David Wagner
Gibt es einen guten Tod?
Es ist stockdunkel und absolut still. Ich liege auf dem Rücken, meine gefalteten Hände ruhen auf meinem Bauch. Wie zum Beweis, dass ich noch lebe, bewege ich den kleinen Finger, hebe ein Knie, zwinkere mit den Augen. Und doch werde ich, daran besteht nicht der geringste Zweifel, eines Tages sterben und wahrscheinlich genauso, wie ich jetzt daliege, in einem Sarg ruhen … So oder so ähnlich war das damals, als ich ungefähr zehn Jahre alt war und mir vor dem Einschlafen mit einem Kribbeln in der Magengegend vorzustellen versuchte, tot zu sein. Heute, drei Jahrzehnte später, ist der Gedanke an das Ende für mich weitaus dringlicher. Ich bin 40 Jahre alt, ungefähr die Hälfte meines Lebens ist vorbei. In diesem Jahr starben zwei Menschen aus meinem nahen Umfeld, die kaum älter waren als ich. Wie aber soll ich mit dem Faktum der Endlichkeit umgehen? Wie existieren, wenn alles auf den Tod hinausläuft und wir nicht wissen können, wann er uns ereilt? Ist eine Versöhnung mit dem unausweichlichen Ende überhaupt möglich – und wenn ja, auf welche Weise?

Florian Rötzer: „Erst die Heimlichkeit des Heims macht uns zu modernen Menschen“
Dass Sein und Wohnen zusammenhängen, dürfte vielen seit dem Beginn der Pandemie noch deutlicher geworden sein. Im Gespräch erläutert der Philosoph Florian Rötzer, was eine denkfreundliche Umgebung ist, wie ein hygienisches Bewusstsein Einzug in unsere vier Wände hielt und warum private Räume immer mehr zum Cockpit werden.

Flüchtlingskrise: Solidarität ohne Grenzen?
Der Bürgerkrieg in Syrien eskaliert immer stärker, die Lage in Afghanistan droht außer Kontrolle zu geraten und täglich machen sich Tausende Flüchtlinge auf den Weg in den Westen, vor allem nach Deutschland. Noch nie stand die Europäische Union vor einer derartigen Herausforderung. Ein Dialog über das Erbe der Aufklärung, europäische Identität und Verantwortung im Ausnahmezustand.
Solidarität ohne Grenzen?
Der Bürgerkrieg in Syrien eskaliert immer stärker, die Lage in Afghanistan droht außer Kontrolle zu geraten und täglich machen sich Tausende Flüchtlinge auf den Weg in den Westen, vor allem nach Deutschland. Noch nie stand die Europäische Union vor einer derartigen Herausforderung. Ein Dialog über das Erbe der Aufklärung, europäische Identität und Verantwortung im Ausnahmezustand.

Es kam so überraschend wie verheerend.
Das Coronavirus, das die Welt Anfang 2020 erfasste und in vielen Bereichen noch immer unseren Alltag bestimmt, erzeugte vor allem eines: ein globales Gefühl der Ungewissheit. Wurde das soziale Leben in kürzester Zeit still gestellt, Geschäfte, Kinos und Bars geschlossen und demokratische Grundrechte eingeschränkt, blieb zunächst unklar, wie lange dieser pandemische Ausnahmezustand andauern würde. Und selbst jetzt, da sich das Leben wieder einigermaßen normalisiert zu haben scheint, ist die Unsicherheit nach wie vor groß: Wird es womöglich doch noch eine zweite Infektionswelle geben? Wie stark werden die wirtschaftlichen Auswirkungen des Shutdowns sein? Entwickeln sich Gesellschaften nun solidarisch weiter oder vollziehen sie vielmehr autoritären Rollback? Ganz zu schweigen von den individuellen Ungewissheiten: Kann ich im Sommer in den Urlaub fahren? Werde ich im Herbst noch Arbeit haben? Hält die Beziehung der Belastung stand? Kurzum: Selten war unsere so planungsbedürftige Zivilisation mit so viel Ungewissheit konfrontiert wie derzeit.

Wolfram Eilenberger: „Philosophie kann direkt in die Existenz eingreifen“
Hannah Arendt, Simone de Beauvoir, Ayn Rand und Simone Weil: Das sind die Protagonstinnen in Wolfram Eilenbergers neuem Buch Feuer der Freiheit. Schon in Die Zeit der Zauberer, dem zum Weltbestseller avancierten Vorgänger, hatte Eilenberger Leben und Denken von vier Geistesgrößen zusammengeführt. Damals waren es Ludwig Wittgenstein, Walter Benjamin, Ernst Cassirer und Martin Heidegger. Nun also vier Frauen, die ihr Denken in den finsteren 1930er und 40er Jahren entwickeln. Ein Gespräch mit dem Autor über ein Jahrzehnt, in dem die Welt in Scherben lag - und vier Philosophinnen, die die Freiheit verteidigten.
