Wenn aus Grübelei Empfindung wird
Was geschieht eigentlich, wenn theoretische Texte Einfluss auf unser Empfinden nehmen? Und wie kommt es überhaupt zu diesem erstaunlichen Phänomen? Diesen Fragen geht Veronika Reichl in ihrem Erzählband Das Gefühl zu denken nach.
Welche Rolle spielen theoretische Texte in unserem Leben? Sind sie mehr als ein unabdingbarer Begleiter des akademischen Werdegangs? Mehr als unliebsame Pflichtlektüre, die sich für den Lesenden schier endlos und gar unverständlich in die Länge zieht? Veronika Reichls neuer Erzählband lässt daran keinen Zweifel. Unter dem Titel Das Gefühl zu denken widmet sich die Autorin jenen Leseerfahrungen, die in kleinerem oder größerem Maße persönlich bedeutsam sind. In 40 kurzweiligen Erzählungen geht sie den Fragen nach, was Theorie mit uns macht und wie uns bestimmte Lektüren prägen.
Dabei stützt sie sich – wie der Facettenreichtum der Erzählungen durchaus erkennen lässt – auf rund 50 Interviews, die sie mit Leseerfahrenen unterschiedlichster akademischer Bereiche geführt hat. So sind es auch die Lesenden selbst (und nicht die Denker), die den Erzählungen als Protagonisten ihre Form und Ordnung verleihen: Mit jeder Erzählung widmet sich Reichl einer anderen Person sowie deren Lektüreerfahrung, die gleichermaßen auf einen Textausschnitt begrenzt wie auf verschiedene Autoren und Jahre ausgeweitet sein kann. Ist es dabei in dem einen Fall gar die Unabdingbarkeit der Wahrheit, mit der sich Text und Denker dem Lesenden aufdrängen, ist es im anderen Fall gerade die Einsicht in die Unzulänglichkeiten beider, die sich gefühlsgeladen in den persönlichen Erlebnishorizont eingräbt. In jedem Fall zeigen die Erzählungen auf eindrückliche Weise, welche Bedeutsamkeit Hegel, Haraway und Co. auf ganz persönlicher Ebene zu entfalten vermögen.
Bergsteigen mit Kant
Die Denker stammen zum Großteil aus der Philosophie oder benachbarten Gebieten; teilweise sind es klassische Grenzgänger, fast ausschließlich sind es bekannte Namen. Damit besitzen Reichls Erzählungen nicht nur für diejenigen eine gute Zugänglichkeit, die sich selbst in diesen Gebieten bewegen. Auch den Leseneulingen wird mit den bekannten Denkern ein erster Anknüpfungspunkt geboten. Gerade der erste Abschnitt, der mit „Überschwang“ betitelt ist, trifft mit dem Phänomen der ersten Textberührung eine verbreitete Erfahrung: Wer erinnert sich schließlich nicht an den Übermut, den große Denker eben allein aufgrund ihres Namens herauskitzelten, als man sich das erste Mal an ihre Texte wagte? Oder an vielversprechende Überschriften, die einen kopfüber in den Text springen ließen, nur um nach den ersten Seiten ernüchtert wieder aufzutauchen?
Reichl beschreibt treffend, wie aufregend das Lesen manchmal sein kann und wie diese Aufregung, mag sie noch so kurz oder unscheinbar sein, die konkrete Texterfahrung prägt. Ihre bildreiche Sprache, lässt man sich einmal auf sie ein, macht dabei das von Natur aus abstrakte Thema der mentalen Zustände von Lesenden so eindrücklich wie greifbar. So erzählt eines der ersten Kapitel von Roger, der mithilfe Immanuel Kants erst lernen muss, das richtige Lesetempo zu wählen, anstatt sich vom Text einfach mitreißen zu lassen. Dabei wird die Lektüre zum Berg und das durchdringende Verständnis, bei dem man nicht nur den Text, sondern auch ein Stück von sich selbst darin begreift, zum Gipfel. Es gilt hier, den eigenen Leseschritt an das Terrain anzupassen, um nicht aus der Puste, sondern heil oben anzukommen. Doch ist das einmal geschafft, hat man also gemeinsam mit Kant, Derrida oder Heidegger diesen „Berg des Denkens“ erreicht, dann ist die Aussicht, wie Reichl schreibt, majestätisch.
Sich den Text aneignen
Neben Rogers Beschreibung finden sich zahlreiche, in denen man sich selbst als Lesender wunderbar wiederzuerkennen vermag. So können die verschiedenen Erlebniszustände, die in Reichls Erzählung ihre anschauliche Umschreibung finden, zweifelsohne eine gewisse Universalität für sich beanspruchen: Die Anstrengung aufgrund der Komplexität der Lektüre, die erfahrene Notwendigkeit eines gebremsten Lesens Satz für Satz sowie die Erleichterung, die Freude, wenn aus Grübelei Verständnis wird. Wenn eine gewisse Aneignung des Textes geglückt ist. Es sind Erfahrungsdimensionen, die charakteristisch sind für die Arbeit mit bestimmten theoretischen Texten.
Und doch stellt man sich mit Blick auf die eigene Lektüre an der einen oder anderen Stelle die Frage: Ist das gewählte Bild so treffend, wie es zunächst scheint? Gleicht das Lesen von Kants Kritik der Urteilskraft tatsächlich der leiblichen Erfahrung eines Bergsteigers? Wähnt man sich, so wie Reichl es für Roger beschreibt, am Ende der Lektüre wirklich hoch über dem Rest der Welt, auf gleicher Stufe mit dessen Verfasser? Mancher vielleicht, viele andere sicher nicht. Ginge es der Autorin nur um die anekdotische Veranschaulichung individueller Leseerfahrungen – wie sich die einzelnen Erzählungen im Übrigen durchaus lesen lassen –, wäre dies mit Bravour gelungen. Und die Frage der Treffsicherheit hinfällig. Geht es jedoch darum, mit der Gesamtheit der Erzählungen das Gefühl zu denken, zumindest partiell, abzubilden, sind die gewählten Metaphern an der ein oder anderen Stelle sicherlich gewagt. Denn auch wenn die Autorin die grundlegenden Phänomene zielsicher trifft, reduzieren die erzeugten Bilder mitunter das Identifikationspotential der Erzählungen.
Scheitern als Erfolg?
Nichtsdestotrotz gelingt ihr vor allem in den Abschnitten zu den Lese- und Denktechniken („Technik I“ und „Technik II“) eine repräsentative Zusammenstellung. So lässt Reichl ihre Protagonisten zu weit verbreiteten Aneignungsmöglichkeiten von Texten greifen, wie beispielsweise zu einem zweifachen Lesen oder der augenöffnenden Zuhilfenahme von Sekundärliteratur. Diese technikbezogenen Erzählungen sind zugleich Teil diverser erfrischender Einspieler, mit denen Reichl Bedeutsamkeit und Alltäglichkeit in ein ausgewogenes Verhältnis bringt.
Scheinen manche Erzählungen einer leichten Romantisierung zu verfallen oder mit einer existenziellen Schwere aufgeladen, die sicher nur einen Bruchteil der Leseerlebnisse repräsentiert, sind andere Erlebnisse wiederum überraschend pragmatisch, auf vertraute Weise banal und angenehm authentisch, was den unperfekten Leser in uns betrifft: Ein Leser, der bestimmte Denker für „Kitsch“ befindet, der sich mit dicken Büchern schwertut und manchmal einfach aus Trotz gegen den Verfasser anzudenken versucht. Und natürlich einer, der weiß, was es heißt, an der Komplexität eines Textes zu scheitern. Der weiß, wie es sich anfühlt, trotz größter Anstrengung die Gedanken eines anderen nicht vollends zu verstehen. Denn das gehört zweifelsohne zu der Arbeit mit theoretischen Texten dazu; ganz egal ob Neuling oder nicht.
Auf dem Weg zu der Sache selbst
Selbst wenn man sich also an den vereinzelt artifiziell erscheinenden Bildern in Das Gefühl zu denken stoßen mag, gelingt Reichl doch auf gewisse Art, was der Titel verspricht. Vor allem dann, wenn man nicht nur von den individuellen Erfahrungen der Protagonisten, sondern auch von konkreten Denkern abstrahiert. An einigen Stellen sollte man daher die Erzählungen weniger als universelle Erfahrung eines ganz bestimmten Textes verstehen. Sondern stattdessen auf das zugrundeliegende Erleben achten, das Reichl anhand eines Beispiels beschreibt: die verschiedenen Emotionen, der spürbare Einfluss unserer Umgebung beim Lesen, die leiblichen Reaktionen auf wortwörtlich bewegende Lektüre. Es geht dann weniger um das, was Kant mit uns macht (das Phänomen der Kant-Lektüre), als um das, was Denker wie Kant mit uns machen.
Denn mit dieser Lesart gelingt Reichl eine wahrhaft phänomenologische Beschreibung, die über anekdotische Unterhaltung mit guten Lektüreanregungen wertvoll hinaus reicht: Sie schafft durch eine gelungene Auswahl verschiedener subjektiver Perspektiven, sich dem allgemeinen und facettenreichen Phänomen der theoretischen Denkarbeit anzunähern. Und ist damit auf dem besten Weg zu der „Sache […] selbst“, wie Husserl es einst forderte. •
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