Wie lebt sich’s gut?
Besteht das gute Leben im Streben nach Glück? Oder lenkt dies vom Wesentlichen ab? Darüber streiten Philosophen seit jeher. Drei zentrale Konflikte um den Stellenwert des Glücks im Angesicht von Mitleid, Moral und der Absurdität der Welt.
Mitleiden auf Kosten des Glücks?
Arthur Schopenhauer
(1788–1860)
Ja, denn nur in schmerzvoller Anteilnahme können wir ethisch handeln. Für Arthur Schopenhauer gibt es kein törichteres Lebensziel als das Streben nach der „Chimäre des positiven Glücks“. Genuss und Freude sind schlichtweg nicht von Dauer und können jederzeit durch einen Schicksalsschlag zunichtegemacht werden. Doch das Unglück entsteht nach Schopenhauer nicht nur aus der Zerstörung falscher Erwartungen. Es ist zugleich die Konsequenz einer metaphysischen Kraft, die unser Handeln ebenso leitet wie das Walten der Natur. Gemeint ist der „Wille“, die kosmische, Leid bringende Macht, die Baumkronen um das Sonnenlicht kämpfen, Tiere einander zerfleischen lässt und Menschen in stetige Missgunst und Kampfeslust versetzt. Der Wille ist es, der uns zu Egoisten macht, fokussiert auf das eigene Wohlergehen und blind für das Leiden anderer. Eine moralische Lebensführung muss diesem „Willen“ Einhalt gebieten, für den der ethische Mensch nur Abscheu empfinden kann. Der erste Schritt besteht in der Zerstörung des egoistischen Glücks durch den Verzicht auf alle angenehmen Güter von kulinarischen Genüssen bis zu sexueller Hingabe – schließlich ist es der Wille, der uns zur Fortpflanzung treibt. Anstelle des persönlichen Glücks rückt das Mitleid in den Fokus: das „Wohl und Wehe“ der anderen, und zwar von Tier und Mensch. Der moralische Mensch geht dabei sogar so weit, „sein eigenes Individuum zu opfern“. Erst wenn ihm „kein Leiden mehr fremd“ ist, wenn er auf qualvolle Weise sein Selbst vergessen hat, erst dann ist der „Wille“ gebändigt. Dieser Zustand, der den „indischen Heiligen“ vertraut ist, kann mit einer inneren Erfüllung einhergehen. Nach dieser mitleiderfüllten und schmerzvoll erworbenen Gemütsverfassung gilt es zu streben. Wenn diese asketische Haltung überhaupt noch so genannt werden kann – dann ist dieses Glück das einzig wahre.
Epiktet
(50–138)
Nein, niemals darf uns Mitgefühl in unserer sittlichen Grundhaltung stören. Für den griechisch-römischen Stoiker Epiktet entsteht jegliches Unglück aus mangelhafter Einsicht. Nicht die Dinge selbst sind die Ursache unseres Leides, sondern unser Urteil über sie. Wer wirklich versteht, dass Liebe endet, Leben vergeht und jeglicher Besitz nur vorübergehend ist, den kann weder der Tod der Geliebten noch der Verlust von Wohlstand aus der Bahn werfen. Diese Form des Glücks, verstanden als Zustand der Leidenschaftslosigkeit und Seelenruhe (apátheia und ataraxía), ist das Ziel der stoischen Lehre. Wir erreichen es, indem wir unser Wohlergehen nur von jenen Dingen abhängig machen, über die wir wahrhaft verfügen: unser eigenes Begehren, das wir auf den Lauf der Welt, wie er sich wirklich vollzieht, zu richten haben, nicht auf Wunschfantasien darüber, wie wir ihn gerne hätten. Das Mitleid scheidet gleich aus zwei Gründen als Zutat ethischer Lebenspraxis aus: Erstens wühlt derlei Sentimentalität unsere innere Seelenruhe auf und verhindert, dass wir an unserem rational erkannten, „naturgemäßen Grundsatz“ festhalten. Zweitens wissen wir ganz genau, dass unser Mitmensch, an dessen Unglück wir Anteil nehmen, nur deshalb leidet, weil er sich selbst nicht an diese sittlichen Grundsätze hält. Täte er dies, so wüsste er: Nicht der Tod seines Sohnes bereitet ihm Kummer, sondern sein Fehlurteil, dieser sei unsterblich. Mitklagen dürfen wir. Doch innerlich müssen wir Gleichgültigkeit bewahren. Denn das Unglück unserer Mitmenschen liegt in deren Händen, nicht in unseren. Und wer frei sein will, „der darf nichts von dem wollen, was in anderer Leute Macht liegt“. Wer sich nicht daran hält, sondern seinen eigenen Gemütszustand abhängig macht von Leid, Freude oder Anerkennung seiner Mitmenschen, der ist nichts als „ein Sklave“.
Glücklich sein,
ohne moralisch zu sein?
Immanuel Kant
(1724–1804)
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