Zwischen „Sleepy Scholz“ und Ko-Kanzler
Eben noch abgeschrieben, erscheint die SPD nach Jahrzehnten wieder als stärkste Kraft. Während die Union noch gar nicht weiß, wie ihr geschieht, steht das Land womöglich vor einem Machtwechsel. Wie ist das passiert?
Vor fast einem halben Jahr, vor der Entscheidung von CDU und CSU, Armin Laschet zum Kanzlerkandidaten zu küren, kursierte eine Umfrage des demoskopischen Instituts INSA. Gefragt wurde, wie sich die Wähler:innen entschieden, wenn Armin Laschet antrete. Zwar lag im Ergebnis die Union weiterhin vor der SPD, allerdings mit deutlich geringerem Abstand. Die Grünen wurden auf den dritten Platz modelliert.
Solche Rückblenden in die Prognostik von gestern sind hilfreich. Zum einen klappt es mit dem Blick in die politische Zukunft nur dann gut, wenn die Rahmenbedingungen im Wesentlichen dieselben bleiben, kaum Störungen oder sogenannte exogene Faktoren eintreten. So war es beim „Modell Merkel“ lange Zeit. Die letzte wirklich offene Bundestagswahl ist 16 Jahre her. Die Amtszeit der Kanzlerin war hingegen von Wahlen geprägt, die weder eine besondere Polarisierung, noch Aussicht auf ein enges Rennen boten. So ist auch in diesem Jahr schnell wieder die Wahrnehmung gedämpft worden, dass die Karten neu gemischt werden und bestimmte Impulse die Stimmung drehen könnten. Spätestens mit dem Ende des Höhenflugs von Annalena Baerbock schien es fast ausgemacht, dass der Merkelsche Machtkredit ihren eigenen Abgang überdauere.
Zum anderen konnten die vielen Umfragen dieses Jahres den „Minus-Merkel-Faktor“ nie gut genug einrechnen. Es fehlte schlicht an den Mitteln, das kritische Ereignis in die demoskopische Projektion aufzunehmen. Die Krux der Wahlprognostik besteht ja darin, dass sie dynamische Bewusstseinsvorgänge und den daraus resultierenden Stimmungswandel nicht im Verlauf zu antizipieren vermag. Sie muss sich immer auf das verlassen, was Leute heute sagen, das sie morgen vielleicht tun wollen. Die Lücke zwischen Kognition und Aktion ist wie eine Black Box, in die Wahlforscher:innen nicht hineinblicken können.
Das unbekannte Amt
Die verstärkte Präsenz der drei Kanzlerkandidat:innen ab dem Sommer gab für den Wandel der politischen Stimmung gewiss den maßgeblichen Ausschlag; der direkte Vergleich der Köpfe, das Abklopfen aller Beobachtungen auf die Frage hin, wer am ehesten als „kanzlerös“ gelten könnte. Jetzt, als der Bruch zur langen Ära Angela Merkels symbolisch vollzogen wurde, sahen sich immer mehr Wähler:innen veranlasst, mit ihrer Wahlentscheidung Ernst zu machen. Auch die permanent neuen Umfragen haben wohl ihren Gutteil dazu beigetragen. Denn Zahlen stimulieren Stimmungen und Stimmungen stimulieren wiederum Zahlen. So entstehen nicht nur Trends, so kommen sie in die Köpfe.
Wie es nach allen Umfragen scheint, macht Olaf Scholz in diesem Dreikampf als Kandidat des Kompromisses und der Kontinuität keine schlechte Figur. Zunächst in Anlehnung an US-Präsident Biden gerne auch als „Sleepy Scholz“ belächelt, ist es dem amtierenden Finanzminister gelungen, als lachender Dritter beim politischen Sommerschlussverkauf noch ordentlich Kasse zu machen. Aber liegt das nur an der berühmten Raute und den Fehlern der anderen? Eher nicht. Über die Zeit hatte sich Olaf Scholz in das unbekannte Amt eines Ko-Kanzlers entwickelt. Ein Ko-Kanzler ist jemand, der schon mehr Kanzler ist als nur Vize. Jemand, der gar nicht mehr so auftritt, als müsste er groß etwas werden. Jemand, der sich wie ein Amtsinhaber zur Wiederwahl stellt.
Diese Optik scheint zweierlei gut zu bedienen. Erstens schließt sie an das Gewesene an. Der Kandidat profitiert über die Kanzlerschaft Merkels von einem indirekten Amtsbonus. Es ist die Politik der ruhigen Hand – ein beinahe farbloser, aber deshalb nicht notwendig ineffizienter Stil der politischen Exekutive. Zweitens bietet sich sie vielen Wähler:innen aber ebenso eine gewisse Aussicht auf einen Wechsel. Sozialpolitische Themen könnten derzeit mehr Nachfrage finden. Vielleicht war es gerade die Kanzlerschaft Angela Merkels, die das nur überdeckt hat.
Wenn der Dampf verfliegt
Schenkt man den Umfragen Glauben, wird die SPD als die Partei gesehen, der man rund um Arbeit, Wohnen und Gesundheit die führende Kompetenz zuspricht, während die Union klassischerweise in Sachen der inneren Sicherheit und der Wirtschaftskompetenz die Nase vorn hat. Von einem offensiven „Klimawahlkampf“ scheint diese Wahl allerdings inzwischen weit entfernt. Die Grünen mussten einige Prozente an die SPD und vor allem an Olaf Scholz abtreten. Es ist letztlich die Frage, welche Orientierung mit mehr Stimmen bezahlt wird und welches Gesicht dafür am ehesten brauchbar erscheint oder zumindest am wenigsten stört.
Sicher, die letzte Messe ist noch nicht gelesen. Aber wer auch immer am Ende das Rennen um den ersten Platz macht, diese zunächst unspektakulär erwartete Wahl wird wohl als eine der spannendsten in die Geschichte unseres Landes eingehen. Der Zäsur des freiwilligen Verzichts auf die Kanzlerschaft folgt ein Wechselbad der Stimmungen, wie es viele wohl lange schon nicht mehr kannten. Das könnte uns einen Hinweis darauf bieten, sich mit allzu selbstsicheren, apodiktischen Annahmen über die politischen Entwicklungen öfter zurückzuhalten.
Die Möglichkeiten des politischen Systems werden oft viel zu niedrig eingeschätzt. Das liegt vielleicht auch daran, dass gerade professionelle politische Kommentator:innen mit offensiven Prognosen immer auch ihre eigene Weitsicht unter Beweis stellen wollen. Das mag für Talkshows und Leitartikel den richtigen Dampf produzieren, die politische Wirklichkeit ist, wie für alle zu sehen, dann doch viel komplexer. Augen auf also beim Blick in die Zukunft. •
Marcel Schütz ist Organisationsforscher an der Universität Oldenburg. Er lehrt Soziologie an der Universität Bielefeld und Projekt- und Personalmanagement an der Northern Business School Hamburg. Zuletzt erschien von ihm „Die Realität der Reform – Über Wahrnehmung und Wirklichkeit der Veränderung von Organisationen“ (Springer VS, 2021).
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