Wie viele bin ich?
Haben wir einen unveränderlichen Kern, sind wir Autoren unseres eigenen Wandels oder haben wir ein multiples Selbst? Je nachdem, wie wir uns begreifen, denken wir anders nach über verpasste Lebenswege und zukünftige Chancen.
Ich habe nur ein wahres Selbst
Platon
428–348 v. Chr.
Jean-Jacques Rousseau
1712–1778
Gemäß der platonisch-christlichen Perspektive, die das Denken des Westens prägte, hat der Mensch ein einziges Selbst.
Dieses Selbst besteht unabhängig von den äußeren Umständen und wurde traditionell als „Seele“ gedacht. Platon zufolge ist die immaterielle Seele unsterblich: Sie zieht vor unserer Geburt mit den Göttern durch den Himmel, wo sie die Ideen des Wahren, Guten und Schönen schaut, wird dann zeitweise ins „Gefängnis“ des Körpers eingesperrt, bis sie nach dem Tod wieder freikommt. Die Seele bestimmt den Charakter und die Erkenntnismöglichkeiten des Einzelnen. Genau genommen setzt Platon den Wesenskern dabei nicht mit der gesamten Seele gleich, sondern mit ihrem vernünftigen Anteil, der für ihn der höchste ist. Das wahre Selbst eines Menschen liegt also in seiner Vernunft und er wird sich am besten gerecht, indem er sich nach ihr richtet und seine Sinnlichkeit zügelt. Heute herrscht die Auffassung vor, das wahre Selbst liege in unserem von den Forderungen der Vernunft und der Gesellschaft befreiten Gefühlsleben. Nach dieser Vorstellung, die auf Jean-Jacques Rousseau zurückgeht, besteht unser Wesen in einem Charakter, der nicht durch die Zivilisation und deren Rollenerwartungen korrumpiert ist. Das ursprüngliche Selbst ist Rousseau zufolge von Natur aus gut, bestimmt von einem gesunden Selbsterhaltungsstreben und Mitgefühl mit anderen. Erst durch die Gesellschaft verwandle sich dieses Selbsterhaltungsstreben in eine konkurrenzgetriebene Selbstsucht: „Der Wilde lebt in sich selbst; der gesellschaftliche Mensch ist immer außerhalb seiner selbst und weiß nur in der Meinung der anderen zu leben.“ Doch ob das wahre Wesen nun in der vernünftigen Seele oder im natürlichen Gefühlsleben liegt – die Vorstellung eines inneren Kerns bedeutet sowohl Trost als auch eine Aufgabe: Einerseits bleibt dieses Wesen von den Wechselfällen des Lebens unberührt – selbst wenn ich mich jahrelang am falschen Ort, im falschen Körper, umgeben von den falschen Leuten und im falschen Beruf befinde, bleibe ich im Kern dieselbe Person. Zugleich fordert diese Vorstellung auf, dem eigenen Selbst gerecht zu werden und sich aus den entfremdenden Umständen zu befreien.
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Kommentare
Warum könnte man nicht unterscheiden -zwischen einem sich wandelnden Ich und einem essentiellen Selbst?