Gibt es eine Grenze der Solidarität?
Bernd Stegemann befürwortet die Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine. Svenja Flaßpöhler lehnt sie ab. Der Streit reicht tief hinein in philosophische Fragen. Ein Gespräch über Ideologien, falsche Rücksichten und den Wert der Empathie.
Bernd Stegemann: Ich kann nicht verstehen, dass du diesen Brief um Alice Schwarzer unterschrieben hast. Mein Unverständnis kann ich an ganz konkreten Textstellen festmachen. So seht ihr beispielsweise einen zentralen Irrtum darin, „dass die Verantwortung für die Gefahr einer Eskalation zum atomaren Konflikt allein den ursprünglichen Aggressor angehe und nicht auch diejenigen, die ihm sehenden Auges ein Motiv zu einem gegebenenfalls verbrecherischen Handeln liefern.“ Wer sind diejenigen, die sehenden Auges ein Motiv liefern? Und was könnte denn ein Motiv für einen Krieg sein?
Svenja Flaßpöhler: Wenn die Amerikaner Luftaufnahmen zur Verfügung stellen, damit die Ukrainer ein russisches Militärschiff abschießen können, dann liefert man sehenden Auges ein Motiv, das diesen Krieg eskalieren lassen könnte.
Bernd Stegemann: Du meinst, es geht in diesem Krieg tatsächlich darum, dass Putin irgendein juristisch belastbares Motiv braucht, um zu eskalieren?
Svenja Flaßpöhler: Nein, er kann durchaus auch ohne juristisch belastbares Motiv eskalieren, dafür braucht es nur einen dummen Zufall. Aber das Beispiel zeigt doch, dass der Westen sich, je länger der Krieg dauert, sukzessive weiter vorwagt und die Ukraine immer stärker und entschiedener unterstützt, wodurch wiederum die Kriegsziele der Ukraine immer höher angesetzt werden, was eine Verhandlungslösung mit Russland unwahrscheinlicher werden lässt. Das heißt: Wir befinden uns bereits in einer Steigerungsdynamik, deren militärisches Ziel völlig im Nebel liegt. Unser Brief ist aus der Sorge heraus formuliert worden, dass uns diese Dynamik nicht dem Frieden, sondern der Gefahr eines dritten Weltkriegs näherbringt. Die zweite Sorge, die wir in dem Brief artikulieren, lautet: Wenn das Kriegsziel überhaupt nicht klar ist und ein sehr langer, sehr blutiger Stellungskrieg droht, steht nolens volens die ethische Frage im Raum, ab welchem Punkt die Opfer, die dieser Krieg fordert, nicht mehr zu rechtfertigen sind.
Bernd Stegemann: Es gibt aber einen eklatanten Widerspruch in eurem Brief. Auf der einen Seite führt ihr eine universalistische Argumentation an, die besagt, dass die moralische Verantwortung für Tun und Unterlassen nicht nur bei den Ukrainern liegt, sondern hier allgemeingültige Normen greifen, die auch uns etwas angehen. Auf der anderen Seite aber ist die Grundlage für diesen universalistischen Anspruch nur eine Vermutung. Wir wissen nicht, was Putin antreibt, was er will, wann er eskaliert. Das heißt, es wird eigentlich ein Gefühl – nämlich eure Angst vor Putin – zur Grundlage einer ethischen Regel gemacht. Das ist ein großes Problem.
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Kommentare
Danke für das Gespräch, das meiner Ansicht nach die diametralen Standpunkte zum Thema zusammenbringt. Ich tendiere zu Frau Flaßpöhlers Seite. Denn ich meine, dass man die NATO-Osterweiterung nicht unterschätzen sollte. Man sollte sich das Denken der russischen Führung (und vieler Russen) bewusst machen, wenn man die andere Seite verstehen will (Putin war für mich nie ein Irrer, sondern ein kühl berechnender Mann). Wenn man die Schmach des Versailler Vertrages als Mitgrund für den Nationalsozialismus gelten lässt, muss man auch die NATO-Osterweiterung als Vertrauensbruch anerkennen.
Natürlich wollten die Polen oder die Balten in die NATO. Aber nicht jedem Aufnahmeantrag muss willfährig stattgegeben werden. Die NATO hätte auch eine andere Lösung anstreben können: eine Vertrauens- oder militärischer: eine Pufferzone.
Putin machte in seiner Bundestagsrede und später in einem SZ-Beitrag – in meinen Augen glaubwürdige und ernstgemeinte – Angebote zu einer europäisch-russischen Kooperation, die nur halbherzig aufgegriffen wurden. Diese Halbherzigkeit stieß viele Russen – ob berechtigt oder nicht – vor den Kopf.
Der Kampf der Ukraine ist ein Stellvertreterkrieg, bei dem Europa auch ohne Atomkrieg als Verlierer hervorgehen wird. Nutznießer sind die USA. Brzezinski nannte schon 1996 die Ukraine einen „Brückenkopf“ auf dem „Grand Chessboard“ und 2014 wiederholte George Friedman, dass die USA kein Interesse an einem mit Europa vereinten Russland haben könnten, weil die Konkurrenz zu mächtig wäre.
Bernd Stegeman sagt, der Umgang mit der ukrainischen Wehrpflicht sei Sache der Ukraine. Und unsere Sache ist es, ob und wie wir in einen Konflikt, der meines Erachtens vor dreißig Jahre gelegt wurde, eingreifen. Nichts verpflichtet uns dazu. Oder etwa doch die Moral? Dann hätten wir beim völkerrechtswidrigen US-Irakkrieg die USA sanktionieren müssen oder derzeit ihre Teilnahme am Krieg im Jemen oder ihr Drohnenprogramm unter Obama.
Nein, ich will nicht aufrechnen und Russlands Invasion legitimieren. Mir scheint jedoch, ein ungleiches Maß vorzuherrschen und die Moral immer dann angeführt zu werden, wenn es einem passt.
Wenn ich Lösungen anstrebe, muss ich mich in die andere Seite hineindenken und mir ihre Motive bewusst machen – auch wenn sie ungerechtfertigt sein mögen.
Reflektierter Leserbeitrag von Quirin Pusch. Zusätzlich zu betonen wäre hier die Unübersichtlichkeit vieler Entscheidungen in einem laufenden Krieg, die das globale Risiko ausmachen und die schreckliche Assoziation mit Clarks "Schlafwandlern" nahelegen Niemand weiß, wie der Krieg um die Ukraine ausgeht. Niemand weiß, wie die Eskalation durch die Lieferung modernster zielgenauer Waffensysteme den Charakter des Krieges verändern wird. Aber wir ahnen, was "Abnutzungskrieg" bedeutet.
Argumentativ ist es ein sehr spannender Text, in dem die Streitenden versuchen, die Argumente der/des anderen zu dekonstruieren, sie leugnen jedoch gemeinsame Positionen nicht.
Mir sind allerdings einige Punkte aufgefallen, die in der Diskussion, die von Philosoph*innen und / oder aus einer universalistischen Perspektive geführt wird, zu kurz kommt.
Wenn man schon in Bezug auf die Ukrainekrieg universalistisch argumentieren will, dann wäre es lohnenswert, die universalistischen Aussagen und Forderungen auf alle Parteien gleichsam zu beziehen. Z.B. wenn es um ethisches Handeln geht, warum wird dies in der Argumentation nur von der Ukraine und von Deutschland (dem Westen) verlangt, von Putin / Russland aber nicht?
Ich bin allerdings der Meinung, dass das Argumentieren mithilfe universalistischer Kategorien (Ethik, Moral, Freiheit...) die konkrete kulturelle, gesellschaftliche, politische und geschichtliche Situation nicht bedenkt. Diese Kategorien existieren nämlich immer nur in ihren sozio-kulturell und geschichtlich bedingten Auffassungen, die sich auch in den unterschiedlichen politischen Logiken, Diskursen usw. widerspiegeln. Ich widerspreche daher vehement, dass man Putins, Scholz' oder eben die polnische, ungarische, lettische usw. Haltung NUR mit Hegel oder Habermas erklären kann. Bei allem Respekt gegenüber den Intellektuellen, die Putin, Selenskyj, die (sic!) Russen oder die (sic!) Ukrainer durch philosophische Argumenten erklären zu können glauben, muss ich sagen: Es tut mir leid, aber diese Art von Argumentation ohne den kulturellen Blickwinkel funktioniert einfach nicht, weil das Regionalwissen fehlt. Darunter verstehe ich Kultur, Sprache, Gesellschaft, Geschichte und Politik einer bestimmter Region, in diesem Fall von Russland, der Ukraine, der ostmittel- und südosteuropäischen Länder. Zu argumentieren, was ethisch richtig, was paternalistisch, patriotisch, heldenhaft oder eben nicht ist, ohne zu wissen, wie diese Begriffe in diesen Ländern verstanden werden, ignoriert einfach die Wirklichkeit, die keineswegs universalistisch ist. Nicht einmal das internationale Recht ist das, was gerade Putin einprägsam zeigt.
Deswegen wirkt für mich die universalistische Argumentation sogar verachtungsvoll und zynisch gegenüber der Ukraine und den osteuropäischen Ländern, weil sie ihre historischen und gegenwärtigen Erfahrungen komplett ignoriert, aus denen ihre politischen Handlungen und Argumente abzuleiten sind. Ausdrücke wir "Stellvertreterkrieg", die "NATO-Osterweiterung als Provokation" gehören auch zu dieser Art von Argumentation. Und ja, in diesem Fall würde uns die Geschichte wohl weiterhelfen, und wir müssten uns dringend mit der Geschichte dieser Regionen und Länder beschäftigen, um in der jetzigen schrecklichen Situation tatsächlich gültige Argumente für oder gegen die Waffenlieferung liefern zu können. Nur ein paar symbolträchtige Jahreszahlen als Argument meinerseits: 1953, 1956, 1961, 1968. Oder anders gesagt: Wer weiß von den Unterschreiber*innen des offenen Briefes, welche Assoziationen z.B. die russische Sprache quer durch die Generationen in Prag, Budapest, Belgrad, Tirana, Bukarest, Vilnius oder Kiew hervorruft? Was bedeuten für diese Länder die Fahnenworte "Demokratie", "Freiheit", "Krieg", und ja: "NATO-Osterweiterung"? Ich würde wetten, nicht das Gleiche, was für die Unterzeichner*innen des offenen Briefes um Alice Schwarzer. Deswegen, obwohl ich solche in universellen Kategorien argumentierende Debatten für intellektuelle Hochleistungen halte, möchte ich die Diskutant*innen auf die zweifelhafte Belastbarkeit ihrer Argumente hinweisen und ihren Argumenten die der Regionalwissenschaftler*innen gegenüberstellen. Ohne Regionalwissen bleibt jegliche Debatte eine intellektuelle Hochleistung, die jedoch mit der Wirklichkeit, dort im Osten, nicht in Berührung kommt. Vor allem, wenn mit deutschen Kriegsüberlebenden des Zweiten Weltkriegs argumentiert wird, währenddessen (argumentativ) kaum wahrgenommen wird, dass niemand momentan besser wissen mag, was Krieg heißt, als die Ukrainer*innen selbst, die alles dafür tun, um ihre physische und kulturelle Existenz vor der vollkommenen Vernichtung zu beschützen.