Wer sind die Feinde der Öffentlichkeit?
Die einen halten die Political Correctness für das Problem, die anderen die Arroganz privilegierter Gruppen. Die Soziologin Paula-Irene Villa Braslavsky und der Autor Bernd Stegemann im Streitgespräch.
„Die Öffentlichkeit und ihre Feinde“, so heißt das Buch von Bernd Stegemann, das soeben erschienen ist. Darin zeichnet der Philosoph und Dramaturg insbesondere die Identitätspolitik für die Begrenzung des Sagbaren verantwortlich, mit der Folge, dass Personen, die diese Grenze überschreiten, gecancelt, also boykottiert würden. Paula-Irene Villa Braslavsky widerspricht energisch. Die Identitätspolitik habe Stimmen erst hörbar und im öffentlichen Raum präsent gemacht, so die Soziologin, die aus München zugeschaltet ist. Bernd Stegemann sitzt in einem Radiostudio in Berlin und verfolgt konzentriert die Kritik an seiner Position. Das folgende Gespräch ist eine Koproduktion zwischen rbbKultur Radio und dem Philosophie Magazin.
Philosophie Magazin/rbbKultur: Frau Villa Braslavsky, Herr Stegemann, wo beginnt Cancel Culture? Fängt es schon damit an, dass mir gesagt wird, ich dürfe bestimmte Begriffe nicht verwenden?
Bernd Stegemann: Mit Cancel Culture haben wir es dann zu tun, wenn eine subjektive Meinung oder ein ästhetisches Erleben den Anspruch erhebt, allgemeingültig zu werden. Also wenn zum Beispiel jemand sagt: Ich fühle mich von dem N-Wort gekränkt, und deshalb verlange ich jetzt, dass man das N-Wort aus dem Theaterstück streicht und auch kein anderer der 700 Zuschauer dieses Wort hören muss beziehungsweise hören darf.
PM/rbbKultur: In Ihrem Buch erwähnen Sie das Berliner Theatertreffen 2017: Die Regisseurin Claudia Bauer wurde kurz vor Beginn der Aufführung vom Leitungsteam der Festspiele aufgefordert, das N-Wort aus der Inszenierung von Peter Richters Wenderoman 89/90 zu nehmen.
Stegemann: Diese Anweisung deutet auf eine problematische Haltung gegenüber ästhetischen Ereignissen hin, aber vor allem hat sie eine falsche Auffassung davon, was man unter Öffentlichkeit versteht. Öffentlichkeit ist ihrem Wesen nach eine großartige zivilisatorische Errungenschaft. Menschen kommen in öffentlichen Räumen zusammen, um sich über Dinge zu verständigen, die sie alle betreffen. Dort hat man die Freiheit, über alles zu sprechen, über alles nachzudenken und sich mit anderen Meinungen ins Verhältnis zu setzen. Wenn in diesem weiten, emphatischen Freiheitsraum plötzlich eine Einzelstimme fordert: Ich fühle mich von X oder Y verletzt und verlange deshalb, dass man es unterlässt, so zu sprechen, und wenn dann eine Autorität diese Forderung durchsetzt, dann ist das ein massiver Eingriff in den öffentlichen Raum.
Paula-Irene Villa Braslavsky: Ich habe bei Ihren Ausführungen ein großes Unbehagen. Das sogenannte N-Wort ist keine Sache des individuellen Fühlens, sondern die Problematisierung dieses Ausdrucks basiert auf systematischen Demütigungs- und Ausschlussdynamiken. Kamala Harris ist vor ein paar Wochen zur Vizepräsidentin der USA gewählt worden. Bis vor einigen Jahrzehnten hätte sie als freie, mündige Bürgerin überhaupt nicht existieren können im öffentlichen Raum. Dass wir alle eine freie, gemeinsame Öffentlichkeit hatten und jetzt kommen einige, die diesen Raum infrage stellen, ist eine falsche Wahrnehmung vom öffentlichen Raum selbst. Dort kamen viele Stimmen bis vor Kurzem schlicht gar nicht vor. Es ist doch eher so: Die Öffentlichkeit dehnt sich aus und verändert sich, indem mehr Stimmen hörbar werden. Daraus ergibt sich auch mehr Kritik und Diskussion, mehr Konflikt und Widerspruch. In Ihrer Sicht steckt eine autoritäre Geste, wenn Sie im Grunde sagen: Ich habe die Vernunft auf meiner Seite, die anderen haben nur ein Gefühl. Sie sprechen doch auch aus einer bestimmten Position heraus.
Stegemann: Es macht doch einen Unterschied, ob ich meine Gekränktheit zum Maßstab erhebe, oder ob ich versuche, meine Aussagen durch Argumente zu stützen. Wenn Sie die rationale Argumentation als autoritäre Geste ablehnen, so möchte ich dem widersprechen. Es ist die bisher zivilisierteste Art, Konflikte auszutragen. Und wenn ich mir die Öffentlichkeit ansehe, dann fällt auf, dass sie sich durch die Verlagerung in den digitalen Raum stark verändert. Während es in der traditionellen Öffentlichkeit wie zum Beispiel im Theater so ist, dass auf der Bühne gesprochen und im Zuschauerraum geschwiegen wird, ist in den sozialen Netzwerken jeder zugleich Sender und Empfänger. Es ist also völlig richtig, wenn Sie sagen, dass wir mehr Stimmen hören, und es ist auch richtig, dass das zunächst einmal ein Gewinn ist. Gleichzeitig aber passiert im öffentlichen Diskurs dadurch viel mehr Ungerichtetes, Chaotisches. Man sieht in kürzester Zeit den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr, weil jeder sich irgendwie zu Wort meldet und auch seine Meinung kundtut. Um dieser Tendenz entgegenzuwirken, gibt es dann wieder Einhegungsstrategien. Zu den machtvollsten und darum gefährlichsten Methoden, mit denen eine neue Übersichtlichkeit hergestellt werden soll, zählen für mich Political Correctness, Cancel Culture, Identitätspolitik und Populismus.
PM/rbbKultur: Können Sie das präzisieren?
Stegemann: Beim Populismus geht es um sehr übersichtliche Freund-Feind-Unterscheidungen: Hier das gute „Wir“, da die „bösen anderen“. Die Identitätspolitik überträgt diese Vereinfachung auf einzelne Gruppen und sagt: Aus der Position X heraus ist die Stimme berechtigt zu sprechen, aus der Position Y heraus nicht. Political Correctness macht es dann noch einfacher. Sie behauptet, dass es Worte gibt, die böse sind. Das ist zeichentheoretisch ganz schön schrill, denn damit sind wir wieder im Mittelalter angekommen: Bestimmte Worte sollen eine dämonische Kraft haben. Wer sie ausspricht, kann verfluchen oder ist verflucht. Mit Cancel Culture wird dann eine Überschrift für diese Methoden gefunden. Denn alle diese Methoden sind falsche Einhegungsversuche der neuen Unübersichtlichkeit. Sie gefährden den mühsam erreichten Stand der Öffentlichkeit.
Villa Braslavsky: Ich finde das zu einseitig. Nehmen wir die Identitätspolitik. Was mich interessiert, ist die Dialektik zwischen dem Universalen und dem Partikularen. Es geht eben nicht nur darum, die eigene Position in Richtung des Allgemeingültigen zu überschreiten, sondern auch darum, die eigene Standortgebundenheit überhaupt erst einmal zu erkennen. In diesem Sinn ist Identitätspolitik eben gerade nicht der Feind der Öffentlichkeit, sondern es geht darum, sichtbar zu machen, wer spricht oder genauer: als wer jemand spricht und als wer jemand gehört wird. Ich kann ja nicht so tun, als wäre ich irgendwie gottgleich, wir sind keine frei flottierenden Vernunftwesen. Gleichzeitig sehe ich durchaus auch die Gefahr, das „Wer“ zu verabsolutieren. Ich nenne das „positionalen Fundamentalismus“, womit ich meine, dass von einer sozialen Positionierung auf die inhaltliche Position kurzgeschlossen wird. Also: Wer als weiß oder als weiblich positioniert ist, denkt und spricht weiblich, denkt und spricht weiß. Diese Annahme halte ich für ein Problem. Genauso halte ich es aber für ein Problem, die Frage nach dem „Wer“ von vornherein zu diskreditieren. Das „Wer“ hat schon immer eine entscheidende Rolle gespielt, wurde nur seltener zum Thema des „Was“.
PM/rbbKultur: Kommen wir noch einmal auf einen konkreten Fall zu sprechen. Will Knowland, ein Lehrer am britischen Eton College, wurde suspendiert, weil er gegen das Gleichstellungsgesetz verstoßen haben soll. Er hat nämlich einen genderkritischen Vortrag gehalten und verlor seine Anstellung dort. Ist das ein neues Phänomen?
Stegemann: Mir fällt da sofort der Radikalenerlass der 1970er-Jahre ein, als Lehrer und Dozenten wegen linksradikaler Umtriebigkeit nicht eingestellt oder sogar entlassen wurden. Insofern haben Sie recht, Frau Villa Braslavsky, dass die Geschichte eine Geschichte der Ausschlüsse ist: Wer darf überhaupt wo mitmachen? Auch die Theatergeschichte ist voll von Exklusionen. Begonnen hat sie vor zweieinhalbtausend Jahren, und die meiste Zeit davon unterlag sie rigidesten Zensurvorschriften. Frauen war der Zugang zur Bühne verboten, so wurden alle Frauenrollen bei Shakespeare und auch die tragischen Heldinnen der Antike, wie Antigone, Medea oder Kassandra, von Männern gespielt. Und als endlich Frauen auftreten durften, setzte man die Schauspielerinnen mit Prostituierten gleich. Kurzum, das Theater war beherrscht von Cancel Culture, die der herrschenden Moral folgte. Diese Geschichte haben wir erst seit Kurzem überwunden. Die Freiheit der Kunst ist ein hoher und mühsam erkämpfter Wert. Darum habe ich wenig Verständnis, wenn Intendanten einer neuen Reinheitsmoral folgen und fünf Minuten vor Vorstellungsbeginn anordnen, dass auf der Bühne keine bösen Worte gesprochen werden dürfen.
Villa Braslavsky: Diesen Punkt kann ich unterstützen. Manche Diskussionen an den Universitäten formulieren auch dieses Begehren nach Reinheit. Doch auch hier würde ich stärker differenzieren. Wir haben es ja heute nicht mit Gesetzen zu tun, die dieses oder jenes verbieten würden, sondern womit wir es zu tun haben, sind inhaltliche Auseinandersetzungen, die doch auch ausführlich ausgefochten werden. Nehmen wir den Fall des entfernten Eugen-Gomringer-Gedichts, der ja oft als Fall von Cancel Culture gehandelt wird. 2018 entschied die Alice-Salomon-Hochschule in Berlin nach ausführlicher und kontroverser Diskussion, dass sie das Gedicht Avenidas nicht länger an ihrer Fassade stehen haben möchte. Im Ergebnis wurde das Gedicht in seiner Riesengröße von der Fassade entfernt; das Gedicht ist aber nach wie vor ganz in der Nähe der Hochschule und weiter entfernt an anderen Fassaden zu sehen. Hier ist also genau das passiert, was in einer aufgeklärten Öffentlichkeit passieren sollte: Es wurde gestritten und diskutiert und dann ein Entschluss gefasst. Ich persönlich finde das Ergebnis nicht richtig. Aber ich sehe hier auch nicht die freie Öffentlichkeit bedroht.
PM/rbbKultur: Schaut man sich die Philosophiegeschichte an, wurde die Meinungsfreiheit vor allem von Denkern eingeklagt, die ihrer Zeit voraus waren. Heute kommt der Vorwurf einer Cancel Culture aber auffälligerweise eher von konservativer Seite. Wie ist das zu erklären?
Stegemann: Es gibt ein wachsendes Unbehagen an der Unbehaustheit. In Zeiten von Relativismus und Neoliberalismus fühlen sich immer mehr Menschen psychologisch und materiell ungehalten. Aus gesicherten Verhältnissen heraus kann man dieses Beharren auf Sicherheit, Einfachheit und Tradition als regressiv betrachten. Aber als materialistischer Denker sollte man versuchen, die gesellschaftlichen Verhältnisse im Blick zu behalten, die zu diesem rückschrittlichen Begehren geführt haben. Die meisten werden durch ihre prekäre Lebenslage zu regressiv denkenden und fühlenden Menschen gemacht. Wenn man in unsicheren Verhältnissen lebt oder sich vom Abstieg bedroht fühlt, ist es eben schwerer, für Diversität und Offenheit zu sein. An dieser Stelle muss Politik ansetzen, anstatt einfach nur zu sagen: Ihr denkt regressiv und darum drehen wir euch jetzt mal den Zugang zur Öffentlichkeit ab.
Villa Braslavsky: Aber das stimmt ja so nicht. Schaut man sich Pegida oder die Querdenker an, dann laufen da nicht einfach die Abgehängten mit, sondern auch Leute aus sehr gut gebildeten, gut verdienenden Schichten.
PM/rbbKultur: Die sich aber dennoch beklagen, im öffentlichen Diskurs, auch im öffentlich-rechtlichen Rundfunk, zu kurz zu kommen. Corona- oder impfskeptische Haltungen zum Beispiel würden nicht angemessen repräsentiert. Eine berechtigte Klage?
Villa Braslavsky: Ich finde, dass diese Positionen sehr wohl weithin präsent sind. Da wird sich beklagt, man kommt nicht zu Wort, und gleichzeitig schallt die Klage aus dem Radio und allen Zeitungen, ist in den Social Media und im Fernsehen präsent. Ich halte das wirklich für eine falsche Einschätzung – was allerdings nicht heißt, dass die Positionen, die Sie erwähnen, in angemessener Weise vorkommen. Es gibt durchaus ein problematisches Framing im Journalismus und auch in manchen intellektuellen Debatten. Ja, wir hören diese Stimmen, aber die sind immer schon als falsch und dumm gelabelt. Die Querdenker, das sind die Doofen, die, die es nicht checken. Diese Art der Verachtung ist eher das Problem und nicht die schiere Quantität von Sendezeit oder Zeichenumfang. Eine ernsthafte Auseinandersetzung, die auch klar Position bezieht, die ist nicht immer gegeben.
Stegemann: Wenn ich versuche, die Gründe für die Regression zu verstehen, muss ich zugleich einräumen, dass es einen Moment von Radikalisierung gibt, der nicht mehr anschlussfähig ist. Ab einem gewissen Maß an Fanatismus kann man den Dialog nicht mehr suchen. Aber gerade diese radikalen Positionen, die sich beklagen, nicht mehr zu Wort zu kommen, sind eine weitere Variante von Identitätspolitik. Linke und rechte Identitätspolitiker bedienen sich der gleichen Rhetorik: Wir sind die Opfer, wir kommen nicht genug vor und müssen endlich gehört werden. Das ist eine Klage, die man bei Querdenkern genauso findet wie beim Hashtag Aufschrei. Durch den Empörungsfuror erhitzen sich Debatten so stark, dass eine Verständigung über die Inhalte immer schwieriger wird. Die gesellschaftliche Erhitzung macht mich zusehends besorgt, denn wir steuern in eine Zeit, in der wir mit den zuspitzenden, radikalisierenden Umgangsformen auf etwas reagieren müssen, von dem noch keiner weiß, was es eigentlich ist...
Stegemann: Ich meine das Anthropozän, also ein neues Erdzeitalter, in dem das Tun des Menschen zur Naturgewalt wird. Diese Gewalt verändert die Bedingungen auf der Erde in einer so komplexen Weise, dass wir sie noch nicht einmal ansatzweise verstehen. Darum frage ich mich: Wie müsste eine Öffentlichkeit aufgestellt sein, die sich einem globalen, noch unverstandenen Problem widmet? Fridays for Future sind leider nur die halbe Antwort. Deren kommunikative Methoden kommen noch aus dem 20. Jahrhundert, wenn sie so tun, als wäre Wissenschaft eine Glaubensfrage und als ließe sich die Komplexität des Problems in einer Weise reduzieren, dass man es mit Demonstrationen belagern und durch Proteste verändern könnte.
PM/rbbKultur: In Ihrem Buch bringen Sie die Religion ins Spiel.
Stegemann: Ja, denn die Religion versucht mit etwas umzugehen, was die menschliche Vernunft übersteigt. Früher nannte man den Bereich das Transzendente. Mit der Betonung des Transzendenten will ich verhindern, dass das Anthropozän eine neue Klimareligion wird, denn das wäre eine weitere falsche Vereinfachung. Ich versuche im Gegenteil zu sagen: Wir müssen lernen, Transzendenz – in diesem Fall: ökologische Transzendenz – im Sinne des Noch-nicht-Verstandenen zuzulassen und zu denken.
Villa Braslavsky: Möglicherweise sehe ich die Religion zu stark von der empirischen Seite her, aber sie ist für mich ganz klar zu dogmatisch und sektiererisch, auch zu gewaltvoll, als dass sie zum Fluchtpunkt meines Nachdenkens über Öffentlichkeit und gelungene Kommunikation werden könnte.
Stegemann: Religionen reduzieren das Unheimliche der Transzendenz, um es innerweltlich lebbar zu machen. Das war ein wichtiger Weg für Gesellschaften vor der Moderne. Mir geht es aber um etwas anderes. Die Transzendenz zuzulassen, müsste uns so verunsichern, dass wir zu einer Diskurshaltung der Demut finden. Was für eine Öffentlichkeit entsteht, wenn sie sich Fragen zumutet, auf die es noch keine Antworten gibt?
Villa Braslavsky: Den Begriff der Demut finde ich schon interessant. Ich würde ihn nur nicht in Verbindung mit Transzendenz bringen. In unserem Buch Unterscheiden und herrschen sprechen meine Kollegin Sabine Hark und ich von einer Ethik des Zuhörens, einer Ethik des Diskurses und auch einer Ethik des Zusammenlebens, des sogenannten „Konvivialismus“: ein Konzept, das aus Lateinamerika stammt und interessante Bewegungen hervorgebracht hat. Auch hier geht es um Offenheit, um das Hinterfragen von Gewissheiten, auch um Erfahrungen von Gewalt und Verletzlichkeit – und um politische Solidarität.
PM/rbbKultur: Schlagen wir von hier aus den Bogen noch einmal zurück zur Cancel Culture: Wenn wir kommunikativ eine Haltung der Demut einüben und also eher wieder zu Suchenden werden müssen – was heißt das konkret für unseren Umgang mit Meinungsfreiheit?
Stegemann: Wir sollten den anderen und die andere Meinung nicht zur handhabbaren Identität reduzieren, sondern den Mut aufbringen, Widersprüche auszuhalten. Nur wenn wir lernen, mit der Vielfalt zu leben, können wir unsere geistigen Fähigkeiten auf Augenhöhe mit unserer technischen Zerstörungskraft bringen. Wir sind als Menschheit im Moment nur in der Lage, die Welt kollektiv zu zerstören. Sie kollektiv in der Balance zu halten, gelingt uns nicht.
Villa Braslavsky: Haltung der Demut heißt, dass wir klüger werden im Umgang mit der Differenz zwischen Person und Position. Dass wir über alles diskutieren können – Folter, Massenmord, Antisemitismus, Esoterik, Faschismus und so weiter – dafür aber nicht denjenigen eine Bühne geben müssen, die diese Positionen selber vertreten. Zugleich aber auch, dass wir ernst nehmen, dass vielfach bestimmte inhaltliche Positionen ausgeschlossen werden, eben weil wir die Erfahrungen, Stimmen und Perspektiven von ganzen Personengruppen missachten und zu gefühligen Lappalien erklären. •
Paula-Irene Villa Braslavsky ist Professorin für Soziologie und Gender Studies an der Ludwig-Maximilians-Universität München und publizierte u. a. zu Anti-Genderismus, Körperbildern, Rassismus, Feminismus, Sexismus. Zuletzt erschien von ihr (zus. m. Sabine Hark): „Unterscheiden und herrschen“ (transcript, 2017).
Bernd Stegemann ist studierter Philosoph, Dramaturg am Berliner Ensemble sowie Professor für Theatergeschichte und Dramaturgie an der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“. Er veröffentlichte u. a. zur Moralisierung des öffentlichen Diskurses. Sein Buch „Die Öffentlichkeit und ihre Feinde“ erschien jüngst bei Klett-Cotta.
Eine Koproduktion von Philosophie Magazin und rbbKultur Radio. Der Dialog wurde in der Sendung Der zweite Gedanke am 11.03. um 19 Uhr ausgestrahlt. Im Podcast und online abrufbar unter: rbbkultur.de/derzweitegedanke
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