Irène Fernandez: „Prüfungen erlauben uns, ein höheres Sein zu erlangen“
Tolkiens Werk zeichnet eine Theorie der Verantwortung und des Muts. Jede Figur, erklärt die Philosophin Irène Fernandez, steht vor aufopferungsvollen Entscheidungen, die Verzicht fordern und Schmerz verursachen.
Frau Fernandez, in Der Herr der Ringe sagt Frodo an einer Stelle: „So geht es oft zu, Sam, wenn etwas in Gefahr ist: Der eine muss es aufgeben, es verlieren, damit die anderen es behalten können.“ Ist die Idee der Opferbereitschaft charakteristisch für Tolkiens Universum?
Das Schicksal stellt die Figuren unablässig vor „Aufopferungssituationen“, wie es Tolkien in einem Brief formuliert, die von ihnen Verzicht und Selbstlosigkeit verlangen; die verlangen, dass sie das, was sie lieben, verlieren, vielleicht unwiederbringlich, um es zu bewahren. Frodo wird sein vorheriges Leben nie wieder finden, selbst nach der Vollendung der Heldenreise. „Ich wünschte, der Ring wäre nie zu mir gekommen“, sagt Frodo im Film. Doch er kann nicht umhin, die Verantwortung zu verspüren, die aus seiner Situation erwächst. Das ist es, was Aragorn bedeutungsschwer „den Aufruf zu einer Entscheidung“ nennt, der die gesamte Existenz durchzieht. Für Tolkien gibt es keine ein für alle Mal getroffene Entscheidung, sondern eine ganze Reihe von Entscheidungen, die an Ereignisse, Situationen, Begegnungen geknüpft sind. Sie sind, was Tolkien über den Glauben sagt: ein „beständig und unbegrenzt oft wiederholter Akt“.
Die Figuren entdecken durch diese Entscheidungen, wozu sie wirklich imstande sind?
Ja. Wenn das Schicksal die Protagonisten in Entscheidungssituationen bringt, die sie sich nie hätten vorstellen können, sind das für sie – besonders für die Hobbits – auch Gelegenheiten, um Kräfte zu entdecken, von denen sie nicht geglaubt hatten, dass sie in ihnen steckten. In Prüfungen zeigt sich, wer wir sind. Das Übel, dem wir begegnen, ist freilich zunächst etwas, das uns kleiner macht. Doch der Versuch, es zu überwinden, erlaubt uns, ein höheres Sein zu erlangen. „Das Wesen einer gefallenen Welt“, so schreibt Tolkien, sei, „dass das Beste nicht durch freien Genuss erlangt werden kann, durch die ,Selbstverwirklichung‘“, sondern, so meint er, „durch Leiden und Entsagung“. Das Beste kommt über das Opfer, das die Liebe reicher macht. Auch die Freundschaft gedeiht durch Prüfungen. Das ist der Ursprung der Gemeinschaft des Rings: das Bündnis einer Vielzahl von Völkern gegen die Hegemonie des Einen. Doch die Bande, die die Gefährten durch die Prüfungen hindurch untereinander knüpfen, gehen weit über die ihnen aufgetragene Mission hinaus. Der Elbe Legolas und der Zwerg Gimli, die zwei Völkern angehören, zwischen denen jahrtausendealtes Misstrauen herrscht, werden zu echten Freunden.
Sie betonen den Wert der Prüfung. Aber haben die Figuren überhaupt die Freiheit zu entscheiden, ob sie diese Verantwortung annehmen oder nicht?
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