Enrico Spadaro: „Dem technophilen Enthusiasmus setzt Tolkien einen ‚Verzicht‘ entgegen“
Tolkiens Erzählungen sind durchzogen von Nostalgie und Naturliebe. Lässt sich dahinter eine politische Haltung ausmachen? Wie sah Tolkien die Gesellschaft seiner Zeit? Ein Gespräch mit Enrico Spadaro über Maschinen, Natur und Anarchismus.
Herr Spadaro, welches Verhältnis hatte Tolkien zur Natur?
Tolkiens Naturauffassung reicht in seine Jugendjahre zurück. Als kleiner Junge ging er gern an der Südwestküste Englands spazieren und fertigte von den Landschaften und Wäldern Zeichnungen an. Ein häufig wiederkehrendes Motiv waren große Bäume und detailliert wiedergegebene Blätter. Um diesen Zeichenstil zu verstehen, muss man die ästhetische Bewegung kennen, der Tolkien sich verbunden fühlte: das Arts and Crafts Movement, das vom englischen Künstler und Schriftsteller William Morris in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gegründet wurde. Morris wandte sich gegen die Industrialisierung und wollte die individuelle Handwerkskunst aufwerten. Arts and Crafts entwickelte sich zu einer kunstgewerblichen Bewegung, die sich auf die Natur bezieht, die kleine Sachen dem großen Ganzen vorzieht und Bücher, Fenster oder Schaufensterscheiben mit Ornamenten verziert.
Was verband Tolkien mit der Bewegung und ihren Ideen?
Tolkien wurde in Südafrika geboren, ist aber kurz darauf in ein kleines Dorf nahe Birmingham gezogen, eines der industriellen Zentren des Landes. Er lebte auf dem Land, konnte aber die schwarzen Wolken über der Stadt und den Rauch aus den Fabriken beobachten. An dieser Stelle kommt in Tolkiens intellektuellem Weltbild das Werk von William Morris ins Spiel, in dem das Mittelalter gegen die industriellen Neuerungen wieder zur Geltung gebracht wird, was Tolkiens eigene Aversion gegenüber dieser Maschinenmoderne vorwegnimmt. 1914 las er Morris’ Roman The House of the Wolfings, der ihn einerseits zur literarischen Schöpfung von Rohan mit seinem Krieger- und Reitervolk der Rohirrim inspirierte; andererseits prägte er auch seine Vorstellungen der Natur, die sich in Der Herr der Ringe ebenso deutlich zeigen wie im Hobbit – vor allem in den Schilderungen des Auenlands. Davon zeugen seine Illustrationen und Aquarelle.
Geht diese Liebe zur Natur mit einer Ablehnung des Artifiziellen einher?
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