Aufstand der Armen
Der Krieg in der Ukraine treibt die Preise für Grundnahrungsmittel weltweit in die Höhe. Die daraus entstehende Notlage vieler Menschen sah Hannah Arendt noch als Hürde für gelingende Revolutionen an. Doch die Vorzeichen haben sich geändert.
Der Weg zur Arbeit muss jetzt mit dem Bus statt mit dem Auto bestritten werden, mit dem 9-Euro-Ticket fährt nun halb Deutschland nach Sylt und im Supermarkt wird sich an der Kasse um das letzte Sonnenblumenöl gestritten. Der Krieg zwischen Russland und der Ukraine zeigt seine Auswirkungen auch in Westeuropa, doch während sich dieser hier für die allermeisten auf eine Unannehmlichkeit im Alltag beschränkt, bedeutet der Krieg für viele Menschen auf der ganzen Welt die absolute Katastrophe: eine Hungerkrise in einem noch nie dagewesenen Ausmaß.
Der Gouverneur der britischen Zentralbank Andrew Bailey prophezeite Mitte Mai apokalyptische Zustände infolge der steigenden Lebensmittelpreise und er ist nicht der einzige. Die G7, Annalena Baerbock, der UN-Generalsekretär António Guterres – sie alle warnen vor den Folgen, die die kommende weltweite Hungerkrise mit sich bringen wird: Hunderte Millionen Menschen unterernährt, Millionen Hungertote. Denn auf eine neue Hungerkrise ist niemand vorbereitet, so warnte ein hochrangiger Mitarbeiter des U.S. Senats: „We see the storm coming and we feel underprepared to deal with this.“ Was dabei stets in allen Reden oder Pressemitteilungen erwähnt wird, sind Warnungen vor den Aufständen und Proteste der hungernden Menschen gegen die Regierungen, die die existierende Weltordnung zu bedrohen scheinen.
Eine Welt in Aufruhr
Russland und die Ukraine exportieren zusammengenommen rund ein Drittel des weltweit gehandelten Weizens und Ölsamen. Aus Angst vor eigenem Mangel haben bereits viele weitere große Weizenexporteure wie Indien einen Exportstopp in Kraft gesetzt. Das Resultat sind explodierende Preise für Brot, das vielerorts eines der wichtigsten Grundnahrungsmittel darstellt. Russland ist zudem einer der größten Exporteure für Düngemittel, das durch die Wirtschaftssanktionen nicht mehr von anderen Ländern importiert werden darf. Immer mehr Experten rechnen mit einem jahrelang anhaltenden Krieg, doch spätestens in diesem Herbst, wenn die Reserven schrumpfen, wird sich die Düngemittelknappheit auf der ganzen Welt bemerkbar machen. Hinzu kommt, dass Probleme, wie Missernten durch den Klimawandel oder die wirtschaftlichen Folgen der Corona-Pandemie, durch die Ukraine-Krise extrem verstärkt wurden.
Die Kombination aus einem Mangel an Benzin und Nahrung, steigenden Preisen und wiederkehrenden Stromausfällen hat nach zwei sehr schwierigen Pandemiejahren in Sri Lanka bereits im Frühling zu Aufständen geführt, in deren Folge Premierminister Mahinda Rajapaksa zurücktrat. In Pakistan musste der Premier Imran Khan im April sein Amt niederlegen, nachdem es durch die drastisch gestiegene Inflationsrate zu Protesten kam. Seit Anfang Mai demonstrieren tausende Menschen im Iran, denn die Preise für Mehl sind um 300 % angestiegen. In Peru und Sierra Leone kam es ebenfalls schon zum Aufruhr der Massen und auch in Kuba, im Libanon oder auf den Philippinen bahnen sich ähnliche Aufstände an.
In allen Ländern sind die gestiegenen Lebensmittelpreise lediglich ein Auslöser. Die repressiven und korrupten Regime, wie auch die dort schon lange anhaltenden ökonomischen Probleme, sowie Menschenrechtsverletzungen sind bereits seit geraumer Zeit der Bevölkerung zur Last gefallen. Doch ähnlich wie bereits bei den arabischen Revolutionen 2011 oder dem Sturz der Regime in Haiti und Madagaskar, gingen den Protesten steigende Preise infolge einer ökonomische Krise voraus. Die Friedrich-Ebert-Stiftung fasst die Sorgen vieler Politiker und Organisationen hierzulande zusammen: „As we said in the days of the French Revolution, if the population has no bread, those in power are threatened with disaster.“
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Kommentare
Danke für diesen wichtigen Artikel, der mir sehr hilft bei der Bewertung und Einordnung der aktuellen Vorgänge!