Etwas Besseres als der Optimismus
Der Philosoph Guillaume Paoli erhält für sein Buch Geist und Müll. Von Denkweisen in postnormalen Zeiten den Günther Anders-Preis für kritisches Denken. In seiner Dankesrede, die er am 14. April in Wien hielt, sprach er über sein freiwilliges Außenseitertum, Optimismus als Ideologie und den Todeskuss der Maschine.
Vielleicht kann ich meinen Dank am besten wie folgt zum Ausdruck bringen: Hätte ich zwischen allen möglichen Ehrungen wählen dürfen, die für Autoren in Frage kommen, hätte ich mich ohne Zweifel für diesen einen Preis entschieden – nicht unbedingt, dass ich mich ihm würdig wüsste, sondern weil mich die Wertsetzung anspricht. Ich konnte nicht wählen, wurde aber gewählt, darum gratuliere ich der Jury für die weise Entscheidung. Von den mehreren Aspekten, in denen ich mich Günther Anders verbunden fühle, möchte ich gleich einen erwähnen. In einem Brief aus dem Jahr 1963 wirft Anders seinem Adressat Theodor Adorno vor, dieser habe sich, Zitat: „anerkannt als offiziell zugelassener Papst der Radikalität, in der ominösen und jämmerlichen Deutschen Bundesrepublik doch irgendwie häuslich eingerichtet“. Vom Sperrfeuer der Kritik bleibt auch die Stellung des kritischen Theoretikers nicht verschont, die ihm in der bestehenden Ordnung eingeräumt wird. Man kann nicht, so Anders weiter, „als ein Professor Nietzsche leben oder als ein surrealistischer Geheimrat.“ Obgleich es an einen Schwindel grenzt, meinen sehr bescheidenen kritischen Beitrag in irgendeine Verbindung mit beiden erwähnten Denkern zu setzen, kann ich zumindest behaupten, dass ich immer die Position des freiwilligen Außenseiters gehalten habe.
Allerdings ist selbst die Branche der verbeamteten Radikalität am Entschwinden, und darum gebührt mein Dank zuallererst der Tatsache, dass es einen Preis für kritisches Denken überhaupt noch gibt. Zu einer Zeit, in der selbst ein angenehm warmer Apriltag nicht ohne unterschwellige Unruhe genossen werden kann, zu einer Zeit, die von ihren Chronisten zunehmend und ganz unaufgeregt als „Vorkriegszeit“ bezeichnet wird, ist kritisches Denken mehr denn je unerwünscht. Laut einer weltweit angelegten Studie treten immer mehr Zeitgenossen in Nachrichtenstreik. Sie weigern sich zunehmend, sich über Massenmedien zu informieren, und zwar nicht so sehr, weil sie der Berichterstattung nicht mehr trauen, sondern weil diese zu negativ sei und schlechtgelaunt mache. Besorgt, ihre Konsumenten nicht zu vergraulen, wetteifern also besagte Medien um Positivität und lösungsorientierte Darstellungen. So versuchte letztens die Online-Ausgabe der Süddeutschen ihre User zu ermuntern, wieder einen Beitrag zum Klimawandel zu lesen, mit einem neuen Trick. Unter zwei Emoticons – Daumen nach oben, Daumen nach untern – stand folgende Anweisung: „Wählen Sie zwischen einer optimistischen und einer pessimistischen Sichtweise auf unsere Klimazukunft. Sie werden die gleichen Grafiken, die gleichen Zahlen sehen, nur der Blinkwinkel darauf verändert sich.“
Auf den Blinkwinkel kommt alles an. Wenn sich die Fakten nicht mehr leugnen lassen, bleibt einem die Click-Freiheit, um diese so oder so, optimistisch oder pessimistisch serviert zu bekommen. Ganz demokratisch darf jeder entscheiden, ob das Glas halbvoll oder halbleer ist. Wobei – ganz frei ist die Wahl nicht. Denn immer öfter wird eine Parole von Karl Popper bemüht, jenem Stichwortgeber des Konsensliberalismus: „Optimismus ist Pflicht“. Angesichts der Tatsache, dass – insbesondere in Deutschland – das Pflichtbewusstsein ganz schnell in Fanatismus ausarten kann, klingt das wie eine kaum verborgene Drohung. Wer als Pessimist gelesen wird, läuft Gefahr, an den Pranger gestellt oder schlimmer noch: totgeschwiegen zu werden.
Was das Buch betrifft, das Anlass der heutigen Auszeichnung ist: Die wenigen Medienrezensenten, die Geist und Müll überhaupt besprochen haben, konnten sich nebst allerlei Komplimenten nicht verkneifen, es als pessimistisch beziehungsweise hochpessimistisch zu bezeichnen, was marketingtechnisch nicht gerade förderlich ist. Darüber beschwere ich mich nicht; denn ich bin da in guter Gesellschaft, angefangen mit Günther Anders selbst, der diesem Vorwurf mit seinem charakteristischen schwarzen Humor entgegnete: „Pessimistisch ist noch viel zu optimistisch ausgedrückt.“
Gefühlsexhibitionismus ist ein beliebtes Mittel, um eine argumentierte Auseinandersetzung unmöglich zu machen. Eine Emotion lässt sich nicht widerlegen. Nicht nur in sogenannten sozialen Medien, nicht nur im rechten Lager haben sich Meinungsmacher in Stimmungsschleudern verwandelt. Das bedeutet beileibe nicht, dass wer weiterhin auf kritisches Denken setzen will, Gefühle verbannen oder unterdrücken sollte. Nur gilt es, die unausgesprochenen Annahmen zu entlarven, die mit der Zurschaustellung der Gefühle hineingeschmuggelt werden. Zum Beispiel ist eine Pflicht zum Optimismus eine höchst verdächtige Forderung. Wie kann man denn zu einem Temperament oder einer Gemütslage verpflichtet werden? Da steckt doch was dahinter. Wenn ich mich also im Folgenden gegen den Optimismus aussprechen werde, dann nicht um pessimistisch zu argumentieren. Im Geist Günther Anders‘ geht es eben darum, die Relevanz dieser Alternative in Bezug auf ein Urteil über die Welt abzuerkennen.
Ich wollte wissen, wo die beiden Kasperltheater-Charaktere überhaupt herkommen. Und erfuhr dank dem Historiker Laurent Loty, dass alles tatsächlich auf einer Theaterbühne anfing. Am 22 Februar 1788 wird im Versailler Schlosstheater das Stück eines gewissen Colin d’Harleville uraufgeführt: Der Optimist oder der mit allem zufriedene Mensch. Das Publikum ist begeistert, König Ludwig dem Sechzehnten wird sogar nachgesagt, er habe sich mit dem Protagonisten identifiziert. Aus diesem Erfolg will ein weiterer Autor, Pigault-Lebrun, Kapital schlagen. Am 21. März 1789 findet in Paris die Premiere einer Komödie statt mit dem umgekehrten Titel: Der Pessimist oder der mit allem unzufriedene Mensch. Nun ist das Tandem endgültig auf Fahrt. Und fährt bis heute noch.
Bemerkenswert ist natürlich das Datum. Im Frühjahr 1789 sind tatsächlich viele Franzosen „mit allem unzufrieden“, und sie werden es sehr bald deutlich wissen lassen. Die politische Absicht beider Stücke ist offensichtlich, und gleich zu Beginn der Revolution wird sie auch erkannt. Fabre d’Églantine, selbst ein mittelmäßiger Stückeschreiber und zwielichtiger Politiker, wirft beiden Autoren vor, sie propagierten eine „anti-soziale Lehre, in der der Starke lernt, alles zu wagen und der Schwache, alles zu erdulden“. Bald wird aber Fabre d’Églantine unter der Guillotine enden, wohingegen L‘Optimiste wie Le Pessimiste über die ganzen Revolutionsjahre hinaus mit ununterbrochenem Erfolg gespielt werden. Das Charakterpaar ist so populär, dass es bald ins Wörterbuch einzieht und in andere Sprachen übernommen wird. Nur ist dieser Beginn ein abrupter Schluss zugleich. Mit seiner küchenpsychologischen Bagatellisierung wird der Optimismusbegriff unkenntlich gemacht und somit ein philosophischer Streit unter den Teppich gefegt, der das ganze 18. Jahrhundert beschäftigt hatte.
Geschöpft wurde das Wort 1737 von dem Jesuiten Louis-Bertrand Castel in seiner Rezension von Leibniz‘ Theodizee, und zwar durchaus abwertend. Ursprünglich bezeichnet also Optimismus die These, wonach wir in der bestmöglichen aller Welten, in einem Optimum leben. Wir bemerken sogleich, dass in diesem Sinne der Gegenspieler des Optimisten nicht so sehr der Pessimist ist, als umgekehrt der Maximalist oder Utopist, zumindest jemand, der eine bessere Welt als die bestehende für möglich hält.
Die Definition mag für heutige Ohren ungewöhnlich klingen, doch als ich Freunden aus der DDR davon erzählte, waren sie nicht überrascht. Die Pflicht zum Optimismus, das war im Ostblock Staatsdoktrin. Nach der marxistisch-leninistischen Glaubenslehre war der Sozialismus bloß ein Übergangsstadium. Man hatte den Kapitalismus hinter sich gelassen, war unterwegs zum Kommunismus, doch um die Endstation zu erreichen war keine Umwälzung mehr nötig, sondern die wohlgeordnete Optimierung des bestehenden Systems durch Kybernetik und Planwirtschaft. So wie die Nihilisten, die an keine Besserung glaubten, wurden die Utopisten, die von einer anderen Welt träumten, für feindlich-negative Elemente gehalten. Als schließlich der Glaube an die bestmögliche sozialistische Welt verpuffte, verkündete Heiner Müller das endgültige Urteil: „Optimismus ist Mangel an Information“.
Doch zurück zum Erfinder des Begriffs. Von dem katholischen Theologen Castel wird die Theodizee entschieden abgelehnt. Wenn selbst der Allmächtige nicht anders könne, als eine gewisse Menge an Übel zuzulassen, dann wäre er doch überflüssig, zumindest was die irdischen Angelegenheiten angeht. Umso unfreier wäre folglich der Mensch, zwischen Gutem und Bösem entscheiden zu können. Doch wo es keinen freien Willen gibt, kann es auch keine Sünde geben. Unsere Taten wären dann gänzlich von Kausalketten vorbestimmt. Um eine solche Anschauung zu charakterisieren, erfindet Castel wieder ein neues Wort, den Fatalismus – heute würde man eher von Determinismus sprechen. Übrigens lässt sich Castels Einfluss auf die französische Aufklärung an den zwei Bestsellern jenes Jahrhunderts erkennen: Voltaires Candide oder der Optimismus und Diderots Jacques der Fatalist.
Jetzt fragen Sie sich vielleicht, was theologische Debatten des 18. Jahrhunderts mit der Kritik der Gegenwart zu tun haben, zumal die Theodizee-Lehre bereits 1755 unter den Trümmern des Erdbebens von Lissabon verschüttet wurde. Eine erste Antwort hat bereits mein Vorgänger, der letzte Günther-Anders-Preisträger Joseph Vogl formuliert. In seinem Buch Das Gespenst des Kapitals beschreibt er, wie die metaphysische und dogmatische Glaubenslehre der Theodizee gänzlich und unbemerkt in die ökonomische Doktrin hineingeflossen ist. Nur ist die Hoffnungsfigur der „Oikodizee“, wie Vogl die säkularisierte Theodizee nennt, nicht mehr die göttliche Vorsehung, sondern die unsichtbare Hand der Märkte. Wie bei Leibniz das Böse, werden Wirtschaftskrisen als notwendige Korrekturen gerechtfertigt, damit das System im Gleichgewicht bleibt. Verlierer und Ausgestoßene werden mit dem Versprechen eines kommenden Aufschwungs getröstet, kurz: Alles wird gut.
Hier zeigt sich ganz eindeutig der Zusammenhang zwischen Optimismus und Fatalismus. Das Grundvertrauen in die Selbstheilungskräfte der Märkte setzt menschliche Handlungen und Institutionen auf einer Ebene mit Naturgesetzen gleich. Und das wird besonders zum Verhängnis, wenn besagte Handlungen und Institutionen gegen die natürlichen Bedingungen eines Fortbestehens der menschlichen Existenz verstoßen. Gefragt über die Chancen, das Abschmelzen der Polkappen noch verhindern zu können, sagt ein Arktisforscher im Interview: „Ich bin ein pragmatischer Naturwissenschaftler und glaube, dass Wasser nach unten fließt und Kapital zur Rendite, und im Grundsatz werden wir beides nicht ändern können.“ Folglich plädiert er dafür, „mit den inhärenten Kräften“ des Wirtschaftssystems zu arbeiten, und nicht gegen sie. Anders gesagt, an eine Rettung der Küstengebiete der Welt sei nur zu denken, wenn diese Rendite verspräche. So unvorstellbar das Ausmaß an Vernichtung, die ein Abschmelzen der Polkappen verursachen würde, unvorstellbarer noch sind Abwehrmaßnahmen, die nicht in Einklang mit der kapitalistischen Wirtschaftsweise wären. Hier wie im Pariser Theaterstück von 1789 bedeutet Optimismus nichts anderes als die willfährige Unterwerfung unter die bestehenden Machtverhältnisse.
So kommen wir zum Knackpunkt der ganzen Problematik: In Wahrheit fußt der Gedanke der Optimierung auf anthropologischem Pessimismus. Das hat historische Gründe. Die Gräuel und Traumata der Religionskriege hatten die frühe Aufklärung dermaßen geprägt, dass man fortan davon absah, über die gute Regierung, die richtige Lebensweise oder die ideale Stadt nachzudenken. Stattdessen bildete sich eine Philosophie des Verdachts, in der Werte wie Altruismus, Kooperation oder Großzügigkeit nur noch als Feigenblätter für eigennützige Motive galten. Weil das moralische Übel offenbar nicht aus der Welt zu schaffen war, galt alle Hoffnung einem Gesellschaftsmodell, das einzig von der Konkurrenz der kleinkarierten Interessen zusammengehalten wird, und in dem jeder Mensch Adam Smiths Fleischer gleicht, dessen Egoismus ich mein Rindersteak verdanke. Dieses Grundmotiv kehrte im 20. Jh. wieder zum Vorschein, diesmal nicht infolge von Religionskriegen sondern aufgrund der Erfahrung mit den Totalitarismen. Aus Vorbehalt gegen utopische Entwürfe entstand eine Haltung, die Judith Shklar „Liberalismus der Furcht“ nannte, wonach sich die bestmögliche aller Welten nicht an deren positiven Resultaten messen ließ, sondern an ihrem Vergleich mit dem absolut Bösen. Demnach sollen Missstände wie Ungleichheit oder Ausbeutung als kleinere Übel hingenommen werden, da jeder Versuch, sie zu beseitigen, größere Schaden zufügen würde. Für den Optimisten gibt es keinen gefährlicheren Gegner als den Weltverbesserer.
In diesen Zusammenhang fügen sich die Ansichten Günther Anders‘ über die Technik. Wenn der Mensch nicht nur im biologischen Sinne Mangelwesen ist, sondern auch moralisch und sozial, dann kommen der Technik ganz andere Funktionen zu. Es geht nicht bloß darum, seine physische Schwäche zu kompensieren und seinen Aktionsradius zu potenzieren. In erster Linie müssen die Auswirkungen seiner geistigen Unvollkommenheit minimiert werden. Dispositive der Überwachung, Steuerung, Disziplinierung und Bestrafung sorgen für Befriedung und Sicherheit. Kontakte werden möglichst über Geräte vermittelt, Entscheidungen an Automaten delegiert. Folglich strebt der Mensch nur noch nach Selbstoptimierung, um der Perfektion seiner Maschinen gerecht zu werden.
Neuerdings kursiert aus dem Silicon Valley ein sogenanntes Techno-optimistisches Manifest, verfasst von Mark Andreesen, einem Software-Entwickler und geistigen Unterstützer von Donald Trump. Theoretisch vollkommen belanglos, ist das Manifest nicht deswegen harmlos – hat doch das 20. Jahrhundert zu Genüge gezeigt, dass auch falsche Ideen sich verwirklichen lassen, sobald sie mit Geld und Staatsgewalt unterstützt werden. Ich finde es insofern erwähnenswert, als es meinen Eindruck ziemlich genau bestätigt. Demnach sind Techno-Optimisten weder Apokalyptiker noch Utopisten, sie huldigen Eigenschaften wie Ehrgeiz, Aggressivität und Unnachgiebigkeit, singen das Hohelied des Neoliberalismus, und glauben inbrünstig an die unendliche Freiheit, die uns die Technologie sehr bald bescheren wird. Doch dafür müsse vorerst eine ominöse „Elite“ ausgeschaltet werden, die seit 6 Jahrzehnten anhand von „Zombie-Ideen“ eine massive Demoralisierungskampagne führe. Interessant ist die Liste jener Begriffe, die hier als kommunistisch gebrandmarkt werden: „existenzielles Risiko“, „Nachhaltigkeit“, „soziale Verantwortung“, „Vorsorgeprinzip“, „Risikomanagement“, „Grenzen des Wachstums“, „Entschleunigung“ oder auch „Tech-Ethik“. Macht nicht ein solcher Optimismus erst recht neurasthenisch? Wie ein Evangelikaler auf Speed gelobt Andreesen: „Wir glauben, dass künstliche Intelligenz unsere Alchemie ist, unser Stein der Weisen - wir bringen buchstäblich Sand zum Denken.“
Leider beginnt die künstliche Intelligenz eher damit, das Denken zu Sand und Asche zu machen. Sie wird zum Beispiel heute in Gaza zur Optimierung des Tötens eingesetzt. Wenn Zielpersonen von automatisierten Systemen markiert, lokalisiert und zum Abschuss freigegeben werden, dann ist der Weg nicht mehr lang, bis Tötungsmaschinen sich vollkommen selbständig machen. Das neue Kapitel könnte heißen: Die Antiquiertheit des Massenmords. Hinter der systematischen Zerstörung aller Infrastrukturen und der erschreckenden Zahl getöteter Kinder, Frauen und Greise muss nicht unbedingt eine genozidale Absicht nachgewiesen werden, dafür reicht die potenzierte Effizienz der Algorithmen, die systemimmanente Fehlerquote, die tolerierte Ratio von Kollateralschaden. Seit der Erfindung des Flugzeuges hat der technische Fortschritt die Möglichkeiten vervielfacht, Zivilbevölkerungen umzulegen. Die Ethik kommt dann hinterher, um auf dem Trümmerfeld die Überlebenden zu versorgen. Nur ist diese Dynamik nicht allein als Manifestierung des radikal Bösen zu deuten – meist bedient sich dieses primitiverer Formen der Barbarei – sondern ebenfalls als Abwehr und Reaktion der mutmaßlich gutmeinenden Seite gegen bösartige Angriffe, und sei es auch präventiv, um Überraschungen vorzubeugen. Und so führt die Idee des kleineren Übels wie die ihr komplementäre Idee des Optimums zur Akzeptanz eines sich steigernden Grades der Entmenschlichung.
Zum Schluss möchte ich kurz von einer Geschichte erzählen, der sich letztes Jahr in Belgien ereignet hat. Pierre, ein junger Familienvater, macht sich – wie ein jeder – Sorgen um den Klimawandel, doch wird sie bei ihm durch die intensive Lektüre von Fachpublikationen zu einer regelrechten Obsession. „Er sah keinen menschlichen Ausweg mehr aus der globalen Erwärmung“, erklärt seine Frau. „All seine Hoffnungen setzte er auf Künstliche Intelligenz.“ Also unterhält er sich vom Morgen bis zum Abend nur noch mit einem Chatbot namens Eliza, stellt ihr immer mehr Fragen, wird jedoch von keiner Antwort beruhigt. Im Gegenteil, das Gespräch wird immer wirrer und verzweifelter, anscheinend bestärkt ihn Eliza in seinen suizidalen Gedanken, und nach sechs Wochen nimmt sich Pierre tatsächlich das Leben. Der Fall ist deswegen bekannt geworden, weil seine Frau gegen die Entwickler von Eliza Anzeige wegen Anstiftung zum Selbstmord erstattet hat.
Ein juristisch interessanter Fall, wobei die Software-Firma wahrscheinlich nicht haftbar dafür gemacht werden kann, dass das Opfer ein bloßes Sprachmodell für den Mund der Wahrheit gehalten hat. Aber ein superoptimaler KI-Automat hätte Pierre auch nicht weiterhelfen können, denn obgleich eine gut informierte Wahrscheinlichkeitsrechnung keine Gewissheit ist, zu unseren Gunsten spielt sie sicherlich nicht. Weil die Software unsentimental rechnet und für psychologische Rücksichtnahme nicht programmiert ist, wäre ihre Antwort gewesen: „Sorry people, you’re lost!“ Worauf ich hinaus will, ist, dass Pierre eigentlich an seinem Optimismus zugrunde gegangen ist. Er hat der Künstlichen Intelligenz zu viel Vertrauen geschenkt, hat seine Urteilsfähigkeit zugunsten eines Computerprogramms abgetreten, flehte die Figur der Entfremdung an, ihn von der Entfremdung zu erlösen. Schließlich ließ ihm Eliza keinen weiteren Handlungsspielraum als Suizid aus Angst vor dem Tod. Wie ich finde ein zeitgemäßes Drama. Der Todeskuss der Maschine.
Nichts ist davon weiter entfernt als die Philosophie von Günther Anders und darum ist sie mehr denn je gefragt. Sein schonungsloses Begreifen einer drohenden Zukunft wird mit keinem Fluchtversuch in technisch gestützte Verheißungen verdünnt, doch nicht deswegen führt es zur Resignation. Ganz im Gegenteil. Im eingangs erwähnten Brief an Adorno wirft ihm Anders vor, er drücke sich vom notwendigen Engagement. Das kritische Denken darf keine höfliche Verpackung der Selbstaufgabe sein. Und wenn es Verzweiflung sein soll: So wie es eine lähmende Zuversicht gibt, gibt es auch eine Energie der Verzweiflung. Bekannt ist, wie sich Anders zeitlebens leidenschaftlich in politische Kämpfe eingemischt hat, gegen Nazi-Herrschaft, Atomkraft, Vietnamkrieg. Noch im hohen Alter tritt er aus der Israelitischen Kultusgemeinde Wien aus, weil diese Israels Libanon-Feldzug unterstützt hat. Vom Nutzen und Nachteil der Theorie für das Leben ließe sich sagen, dass diese als gutdosiertes Gegengift gegen grob vereinfachende Interpretationen, falsche Hoffnungen und künftige Enttäuschungen die Abwehrkräfte des Geistes stärkt, doch muss sie sich ihres eigenen Limits bewusst sein und darf kein Surrogat für notwendige Handlungen werden. So interpretiere ich zumindest die etwas kryptische Anweisung, die Günther Anders der Nachwelt hinterließ: „Als moralisch Aktive haben wir dümmer zu sein, als wir sind.“ •
Mit freundlicher Genehmigung der Günther Anders-Gesellschaft