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Bild: © Wüstenrot Stiftung

Gespräch

Die Kunst der Zuversicht

Saba-Nur Cheema, Meron Mendel, Irina Scherbakowa, im Interview mit Thea Dorn veröffentlicht am 17 Juni 2025 14 min

Was lässt uns in düsteren Zeiten auf Besseres hoffen? Wie gewinnen wir Zuversicht – auch in Hinblick auf aktuelle Kriege und Konflikte? Thea Dorn im Gespräch mit Saba-Nur Cheema, Meron Mendel und Irina Scherbakowa über ein rares Gut.

Das Gespräch fand am 16.12.2024 im Rahmen der Gesprächsreihe „Zukunftsfragen der Gesellschaft“ der Wüstenrot Stiftung unter dem Titel „Zuversicht“ in Stuttgart statt. Interview-Fassung von Karin Janker.


Thea Dorn: Vor 20 Jahren hätte ich es, nach dem Begriff „Zuversicht“ gefragt, vermutlich schicker gefunden, Pessimist zu sein. Und realistischer sowieso. Das war aber, wie sich jetzt herausstellt, eine Luxushaltung. Ich konnte sie mir leisten, weil ich das Privileg hatte, in einer freien, demokratischen Gesellschaft geboren zu sein. Irina Scherbakowa, bei Ihnen ist das anders. Sie haben ein wunderbares Buch geschrieben über Ihre Vorfahren, Ihre jüdische Großmutter, die Pogrome in Russland erlebt hat, die Oktoberrevolution, den Bürgerkrieg. Ihr Vater war Offizier bei der Roten Armee im Zweiten Weltkrieg. Ihre Eltern haben im legendären Hotel Lux in Moskau die Zeit des großen Stalin-Terrors überlebt. Sie selbst sind 1949 in Moskau geboren. Inwiefern prägte da Zuversicht Ihre Familiengeschichte? 

Irina Scherbakowa: Ich war seit meiner Kindheit umringt von Menschen, die überlebt haben. Meistens waren das Frauen, die oft selbst im Gulag waren und deren Männer und Söhne erschossen wurden. Ich stellte mir immer die Frage, wie kann man danach überhaupt leben? Diese Frage war keine theoretische. Das System, in dem ich lebte, war keines von Menschenfressern mehr, sondern ein vergleichsweise lahmer Totalitarismus. Aber es war von Stalin geschaffen worden. Deshalb beschäftigte mich die Frage nach Zuversicht und Hoffnung schon immer. Die Idee war: Wenn man die Wahrheit über den Terror kennt, wenn man die Menschen von der Lüge befreit, dann wiederholt sich Geschichte nicht. Aufklärung, das war die Hoffnung. Die wichtigste Parole der Perestroika-Zeit war Offenheit, Glasnost, wir wollten die Wahrheit erfahren. Wir hatten also eine große Hoffnung, fast schon Zuversicht. Die Frage, die ich mir heute stelle, ist: Wie haben wir das alles verloren?

Dorn: Herr Mendel, Sie sind 1976 in Ramat Gan geboren und in einem Kibbuz im Süden Israels, in der Negevwüste, aufgewachsen. Die israelische Nationalhymne heißt haTikwa, die Hoffnung. Würden Sie sagen, dass Sie in einem Geist großer Zuversicht groß geworden sind? 

Meron Mendel: Während meiner Jugend befand sich die Kibbuzbewegung bereits im Niedergang. Sie wurde kleiner und zunehmend verunsichert. Für mich persönlich war jedoch die Zuversicht meiner Großmutter prägend. Sie wuchs in der Slowakei als älteste Tochter mit sechs jüngeren Geschwistern auf. Im Zweiten Weltkrieg verlor sie ihre gesamte Familie – Geschwister, Eltern, Großtanten, Onkel. Ganz allein schlug sie sich durch Europa bis nach Palästina, wo sie als 16-jähriges Mädchen bei null anfing. Mit einer solchen Person aufzuwachsen und zu sehen, dass sie nie ihren inneren Kompass verlor, hat mich tief beeindruckt.
Eine zweite prägende Erfahrung waren die 1990er Jahre: 1992, nach langen Jahren konservativer Regierung, kam mit Jitzchak Rabin ein Hoffnungsträger der Arbeitspartei an die Macht – mit dem Versprechen: „Ich werde diesen endlosen Krieg mit den Palästinensern beenden.“ Zwei Jahre später wurde Yasser Arafat, der frühere Erzfeind aus Tunis, zum Verhandlungspartner. Dann kam das Friedensabkommen, Arafat kehrte nach Ramallah zurück. Ich kann kaum beschreiben, was das für mich als Schüler bedeutete. Ich war damals in der neunten Klasse, als Rabin im Weißen Haus stand und sagte: „No more war, no more bloodshed.“ Es fühlte sich unumkehrbar an – als würde es von nun an nur noch vorwärtsgehen. Umso bitterer war es, als Rabin am 4. November 1995 ermordet wurde. Das war für mich der wohl tiefste Bruch in meiner Zuversicht.

Dorn: Saba-Nur Cheema, Sie sind die Jüngste hier in der Runde. 1987 in Frankfurt am Main als das Kind zweier Eltern geboren, die als Mitglied einer religiösen Minderheit aus Pakistan vertrieben wurden. Wie stehen Sie zur Zuversicht?

Saba-Nur Cheema: Vermutlich bin ich hier diejenige mit der größten Zuversicht. Ich bin mit einer tiefen Dankbarkeit aufgewachsen. Meine Eltern flohen Ende der 1970er- und Anfang der 1980er-Jahre aus Pakistan nach Deutschland. Als Angehörige einer muslimischen Minderheit waren sie staatlicher Verfolgung ausgesetzt. Die beiden Brüder meines Vaters wurden grundlos monatelang inhaftiert. Meine Mutter und ihre fünf Schwestern versteckten sich über Monate hinweg bei Familien, die nicht der Minderheit angehörten. Unsere gesamte Verwandtschaft ist heute über die Welt verstreut – Kanada, USA, England, die Philippinen –, denn in Pakistan gibt es für uns keine sichere Zukunft.
Diese Verfolgungsgeschichte hat unsere Kindheit in Deutschland stark geprägt. Wir lebten stets mit dem Bewusstsein: Zum Glück sind wir hier, wir können zur Schule gehen, ein normales Leben führen. Trotz der rassistischen Anschläge in Mölln und Solingen, die geschahen, als ich vier oder fünf Jahre alt war, bewahrten meine Eltern stets eine optimistische Haltung.

Dorn: Frau Scherbakowa, Sie erzählen in einem Ihrer Bücher von einer Begegnung: Als junge Frau trafen Sie die Witwe des großartigen Dichters Ossip Mandelstam, der 1938 im Gulag gestorben ist, verhaftet wegen angeblicher konterrevolutionärer Tätigkeiten. Und von Nadeschda Mandelstam haben Sie den Satz aufgefangen: „Niemand hat uns Glück versprochen." Mich hat dieser Satz erschüttert, als ich ihn gelesen habe. Was bedeutet er für Sie? 

Scherbakowa: Dass man sich keine Illusionen machen sollte, was Regime und Macht angeht. Nadeschda Mandelstam hatte eine Lebensaufgabe: Sie wollte das Archiv von Ossip Mandelstams bewahren, seine Manuskripte, Gedichte, vieles davon kannte sie auswendig. Diese Erinnerung hat sie in einem unglaublich wichtigen Buch niedergeschrieben: Erinnerungen an das Jahrhundert der Wölfe. Das Niederschreiben und Bewahren von Erinnerung war ein ganz wichtiges Motiv bei Nadeschda Mandelstam. Und als sie dann am Ende ihres Lebens gemerkt hat, dass sie erfolgreich war, dass Mandelstam wieder gelesen wurde, dass er zu einer wichtigen Figur in der russischen Literatur des 20. Jahrhunderts wurde, war es das, was ihr trotz aller Krankheiten und Gebrechlichkeit Mut gemacht hat. Es gibt aber noch einen Satz, der mir wichtig ist, den Trinkspruch der Dissidenten aus jener Zeit: „Trinken wir auf den Erfolg unserer hoffnungslosen Sache!“

Dorn: Der ist gut. Den sollten wir uns merken!

Scherbakowa: Das war zum Teil ein Witz und zum Teil überhaupt keiner. Nadeschda Mandelstam war geprägt von diesem Mut angesichts der Mutlosigkeit. Sie hat aber meiner Generation auch gesagt: „Jetzt sind keine Menschenfresserzeiten, das müsst ihr ausnützen!“

Dorn: Ist es nicht auch manchmal so, dass die Zeiten, die eben keine Menschenfresserzeiten sind, zu einer diffusen Angst und Lähmung führen, weil es keine konkrete Gefahr gibt, die Mut und Kräfte mobilisieren könnte?

Scherbakowa: Ja, das ist eine Erfahrung. Ich habe lange und viele Gespräche geführt, vor allem mit Frauen, die den Gulag überlebt haben. Eine von ihnen war ab ihrem 17. Lebensjahr, also seit 1927, die ganze Zeit entweder verhaftet oder in Verbannung bis 1957. Ich habe sie als unglaublich lebensgierig erlebt. Und ich habe sie direkt gefragt: Worauf haben Sie denn gehofft? Wie konnten Sie das überleben? Und sie schaute mich einfach an und sagte nur: Weißt du, wir haben gehofft.

Dorn: Meron Mendel, Sie haben vorhin von Ihrer Hoffnung spendenden Großmutter erzählt – klingt das vertraut für Sie? 

Mendel: Zunächst einmal gibt es einen fundamentalen Unterschied zwischen Israel, wo ich aufgewachsen bin, und der Sowjetunion. Israel ist nach wie vor ein demokratischer Staat. Dennoch stellt sich die Frage, welche Kräfte Menschen mobilisieren können. Ich denke an Alexei Nawalny: Obwohl er wusste, dass es wohl seinen baldigen Tod bedeuten würde, kehrte er nach Russland zurück. Auch im Nahen Osten sehen wir, dass Menschen oft mehr Kraft besitzen, als sie selbst vermuten. Familien, die am 7. Oktober 2023 überfallen wurden, die ihr Zuhause und Angehörige verloren haben, gehen trotzdem jeden Samstag auf die Straße, um gegen die israelische Regierung zu protestieren.

Dorn: Saba-Nur Cheema, würden Sie sagen, dass Ihr Glauben eine Rolle spielt bei der Zuversicht, die Sie in Ihrer politischen Arbeit brauchen?

Cheema: Bei dem Massaker am 7. Oktober wurden auch enge Freunde von uns ermordet. Was mich danach gestärkt hat, war mein Glaube. Ich bin in einer sehr religiösen Familie aufgewachsen, heute vielleicht etwas weniger gläubig als früher, aber ich kann mir nicht vorstellen, nicht zu glauben. Das würde nicht funktionieren – denn mein Glaube gibt mir Halt und Hoffnung. Gerade in Zeiten der Krise ist er ein Rückzugsort. Mit Gleichgesinnten in Moscheen oder anderen Gemeinschaftsräumen zusammenzukommen, miteinander zu sprechen, gemeinsam zu trauern – das ist unglaublich wertvoll. Ich sehe, dass vielen Menschen heute genau das fehlt. Auch in Europa, das zwar nach wie vor privilegiert ist, aber zunehmend eine diffuse Bedrohung für seinen Frieden und Wohlstand empfindet. Ich wünsche mir manchmal etwas mehr Demut in dieser Hinsicht.

Dorn: Martin Luther King sagte in seiner Weihnachtspredigt 1967, wenige Monate bevor er ermordet wurde: „Wenn du die Hoffnung verlierst, verlierst du auf eine Weise jene Lebenskraft, die das Leben in Bewegung hält. Du verlierst den Mut zu sein, die Eigenschaft, die dir hilft, trotz allem weiterzumachen.“ Es gibt also eine direkte Verbindung zwischen einem christlichen, transzendenten Hoffnungsbegriff und einem ganz pragmatischen, immens wirkungsmächtigen politischen Aktivismus. Auf der anderen Seite stand in der US-Bürgerrechtsbewegung Malcolm X, der einen sehr viel unversöhnlicheren Diskurs führte und den weiterhin existierenden strukturellen Rassismus seiner Zeit anprangerte. Für ihn war Zuversicht schon fast so etwas wie Verrat, eine Schwäche. Mir kommt es vor, als hielten heute viele diese letztere Deutung für zeitgemäßer.

Mendel: Kürzlich bin ich auf einen alten Gedichtband von Jehuda Amichai gestoßen, der in Würzburg geboren wurde und nach Israel floh. Ein Gedicht von ihm heißt An dem Ort, wo wir Recht haben – es beginnt mit den Worten: „An einem Ort, wo wir Recht haben, werden keine Blumen wachsen.“ Diese Logik begegnet uns heute überall – in politischen Debatten, in den sozialen Medien, wo Algorithmen für eine künstliche Homogenität sorgen. Ich würde deshalb sagen, dass der binäre Malcolm-X-Gedanke heute weit verbreitet ist: Man ist entweder pro Israel oder pro Palästina, es gibt kaum noch Grauzonen. Genau hier müssen wir dringend ansetzen – wir brauchen Räume für Stimmen, die sich dieser binären Logik entziehen.

Dorn: Irina Scherbakowa, wie gehen Sie mit diesem Zwiespalt um, dass man einerseits einen klaren Kampf gegen Putins System kämpfen und gleichzeitig versuchen muss zu verhindern, dass diese Freund-Feind-Logik die Diskurse in den freien Gesellschaften vergiftet, weil man hier eine gewisse Offenheit braucht? 

Scherbakowa: Was Putins Regime betrifft und diesen Krieg in der Ukraine, ist für mich absolut eindeutig und frei von Zwischentönen. Es ist ein Angriffskrieg, der mit archaischen Mitteln geführt wird. Die deutsche Öffentlichkeit weiß, welche Verbrechen dort begangen wurden und weiter geschehen, wie die ukrainischen Kriegsgefangenen behandelt werden. Das geschieht im Namen des Landes, in dem ich geboren wurde und in dem ich mein ganzes Leben verbracht habe. Das ist unerträglich. Wir erleben gerade die größte politische Emigration aus Russland seit 1917, Hunderttausende von Menschen. Schuld und Verantwortung ist für uns natürlich ein großes Thema, die große Streitfrage: Was haben wir falsch gemacht, wo gab es noch Möglichkeiten, zu verhindern, dass Russland eine Diktatur wird? Diese Frage zermürbt einen – auch wenn sie im Vergleich zu dem, was die Ukrainer seit Beginn des Krieges erleben, nichts ist. Ich versuche, mich auf meine Aufgabe zu konzentrieren, der europäischen Öffentlichkeit die Illusionen über Putins Regime zu nehmen. Ich will keine Angst machen, denn Angst lähmt.

Dorn: Im Falle des russischen Angriffskrieges hätte auch ich eine ganz klare Position. Im Falle des Gaza-Kriegs sehe ich eher Züge einer Tragödie. Saba-Nur Cheema und Meron Mendel, Sie beide sind seit Monaten im Dauereinsatz bei Veranstaltungen wie Podiumsdiskussionen und immer wieder ging es auch darum, allzu eindeutige Positionen zu verhandeln. Ich denke an den Fall der US-amerikanischen Fotokünstlerin Nan Goldin, die eine Ausstellung in der Neuen Nationalgalerie in Berlin geplant hatte. Sie ist durchaus BDS-nah, positioniert sich sehr klar propalästinensisch, antiisraelisch. Der Direktor der Nationalgalerie hat, was ich vernünftig finde, beschlossen, dass die Ausstellung stattfindet. 

Cheema: Der Direktor der Neuen Nationalgalerie bat uns damals, die klare antiisraelische, antizionistische Position von Nan Goldin zu kontextualisieren. Goldin war eine der prominentesten Unterstützerinnen eines offenen Briefes, der wenige Tage nach dem 7. Oktober im Artforum veröffentlicht wurde. 8.000 Künstlerinnen und Künstler unterschrieben ihn – und mit keinem Wort wurde das Massaker der Hamas erwähnt. Stattdessen war die Rede von Gaza, von einem Genozid, von ethnischer Säuberung.
Aber Nan Goldin ist nur ein Beispiel aus dem Kunstbetrieb – man denke an die Documenta. Immer wieder taucht der Nahostkonflikt auf, dann gibt es heftige Feuilleton-Debatten – und das war’s. Wir wollten das diesmal anders machen und haben in der Neuen Nationalgalerie ein Symposium organisiert, um über Polarisierung in Kunst und Kultur zu sprechen. Wir luden israelische und palästinensische Künstler ein – die meisten sagten ab. Die Boykott- und Gegenboykott-Logik ist heute allgegenwärtig.
Am Ende fand das Symposium statt – trotz massiver Anfeindungen gegen die Teilnehmenden. Vor Ort gab es Proteste, aber um ehrlich zu sein: Wir waren mit unserem sieben Monate alten Baby dort, und es hat nicht geweint. Man konnte diese Proteste also durchaus überleben. Protest ist legitim, die Frage ist nur: Wie wird er geführt? Persönliche Hetze gegen Einzelne ist inakzeptabel – aber dass Menschen demonstrieren, gehört zur Demokratie.

Dorn: Meron Mendel, sind Sie beide da immer einer Meinung oder gibt es manchmal Ehekrach wegen solcher Debatten? 

Mendel: Zu Hause diskutieren wir leidenschaftlich – nicht nur über den Nahostkonflikt, sondern auch über Kindererziehung oder die Frage, was heute gekocht wird. Uns verbindet die Überzeugung, dass es darum geht, Argumente sprechen zu lassen – nicht darum, von vornherein Bedingungen zu setzen, unter denen überhaupt ein Gespräch möglich ist. Genau das aber verhindern Boykott und Gegenboykott. Wenn Menschen ausgeladen werden, nur weil ihr Geburtsort nicht passt, dann zerstört das die Möglichkeit des Dialogs. Das ist nicht nur eine Gefahr für die Nahost-Debatte – es gefährdet unsere gesamte Demokratie.

Dorn: Darin drückt sich die Zuversicht aus, dass solche Gespräche etwas bringen könnten. Frau Scherbakowa, wenn Sie jetzt auf den Krieg zwischen Russland und der Ukraine schauen, teilen Sie dann diese Position, die ja eigentlich sehr demokratisch ist: den Gegner bis zuletzt nicht als Feind zu betrachten? Oder würden Sie sagen, in diesem Konflikt muss man nicht mit allen Positionen reden?

Scherbakowa: Es ist sehr schwer, mit  Menschen zu diskutieren, die dir erzählen wollen, dass die Erde flach ist. Ich denke an diese schreckliche anti-ukrainische Propaganda in Russland. Und an die große Unwissenheit. Ich denke, es muss schon eine gewisse Grundlage für eine offene Diskussion gegeben sein. Wenn es sie gibt, dann kann und sollte diskutiert werden.

Dorn: Gerade das Beispiel Russland zeigt ja auch, dass Hoffnungen im politischen Feld durchaus gefährlich sind, weil sie zu Illusionen führen. Die deutsche Politik etwa, so sagten Sie es einmal, habe zu lange gehofft, dass Putin schon nichts Böses im Schilde führe. Diese falsche Hoffnung ist natürlich etwas anderes als die Zuversicht, die man braucht, um weiterhin an die Aufklärung zu glauben und daran, dass man Gesellschaften nicht verloren geben darf. Wie gehen Sie mit genau dieser Ambivalenz um? Sehen Sie, bei aller Zuversicht, die Gefahr, sich Dinge politisch schönzureden? An Möglichkeiten zu glauben, wo vielleicht schon längst keine mehr sind? Von Antonio Gramsci, einem italienischen Marxisten, den die Faschisten weggesperrt haben, stammt der Satz, es gehe im politischen Kampf um den Pessimismus des Verstandes und den Optimismus des Willens. Können Sie damit etwas anfangen?

Mendel: Natürlich gibt es viele Gründe, pessimistisch zu sein. Insofern würde ich Gramsci Recht geben. In Bezug auf die heutige Situation bin ich eigentlich ein hoffnungsloser Pessimist. Auch weil die eigenen Leute sich immer weiter auseinanderdividieren. Es kostet viel Überwindung, zu sagen: „Diese Leute kotzen mich so an und trotzdem: Wir müssen zusammenhalten, denn die wirkliche Gefahr kommt von woanders.“ Wie schaffen wir es, zu diesen Leuten, die uns so nerven und die so falsch liegen, dennoch Brücken zu bauen, damit wir am Ende gemeinsam resilienter sind und es schaffen, die Faschisten zu stoppen? Das ist die große Frage für mich.

Dorn: Meine jüngste Erkenntnis ist auch: Man wird den Laden nicht zusammenhalten können, wenn nur noch die Radikalinskis die großen Wortführer sind. Meine Parole der Zuversicht lautet daher: Gemäßigte aller Länder, vereinigt euch! Aber jetzt zu Ihnen, Saba-Nur Cheema, was machen Sie, um morgen wieder aufzustehen – und im Zweifel in die nächste, partiell hässliche Diskussionsrunde zu gehen? 

Cheema: Die kurze Antwort wäre: Beten. Ich bin sehr gläubig, Meron ist Hardcore-Säkularer – und das wird sich wohl nicht ändern. Was mich ebenfalls optimistisch stimmt, sind unsere Veranstaltungen und Debatten. Meistens bleiben wir nachher noch und reden mit den Leuten. Die überwältigende Mehrheit hat keine Lust auf Polarisierung. Die wenigsten wollen sich eindeutig positionieren – für oder gegen Israel, für oder gegen Boykott.
Gerade die sozialen Medien vermitteln oft ein falsches Bild. Die lautesten Stimmen sind nicht unbedingt die Mehrheit. Wir müssen raus aus der binären Debattenlogik. Unsere Erfahrung der letzten Monate zeigt: Die meisten Menschen ticken ganz anders.

Dorn: Liebe Irina Scherbakowa, ich traue mich fast nicht, die Frage zu stellen, weil ich die Antwort ahne. Haben Sie Hoffnung für Russland?

Scherbakowa: Ich will hier niemandem etwas vormachen. Ich gehöre zu einer Generation, die wenig Hoffnung hat, noch einmal nach Russland zurückzukehren. Ich glaube auch nicht , dass ich erleben werde, dass sich in meinem Land wirklich etwas ändert. Nicht in der baldigen Zukunft. Ich habe allerdings die Hoffnung, zu erleben, dass die Ukraine ihre Staatlichkeit doch noch schützen und in diesem Krieg bestehen kann. Das ist das eine, aber es gibt auch einfach sehr viel konkrete Arbeit, jeden Tag. Es gibt sehr viele politische Gefangene in Russland. Die brauchen Hilfe und Unterstützung. Aber zurück zur Hoffnung: Meine Großmutter hat immer gesagt, man solle die Hoffnung nicht verlieren. „Schau, wie viel ich schon überlebt habe“, sagte sie immer, „Nikolaus den Zweiten, Lenin, Stalin, Breschnew – es gibt immer die Hoffnung, dass sie irgendwann alle verschwinden.“ Diktaturen und jetzt der Putinismus, die leben ja davon, den Menschen den Eindruck zu vermitteln, sie seien ewig da. Das hatten wir mit dem Tausendjährigen Reich und mit dem Kommunismus, der in der ganzen Welt siegen wollte und die goldene Zukunft der Menschheit versprach. Wir haben das erlebt mit der Berliner Mauer, die eigentlich sehr klein war: Wenn man auf den Fernsehturm stieg, hat man sie kaum noch gesehen. Aber in den Köpfen der Menschen war sie riesig. Gorbatschow sagte im Sommer 1989, die Mauer sei von den Menschen gebaut worden. Das war eigentlich schon genug – denn der Satz bedeutet auch: Wenn sie von den Menschen erbaut wurde, kann sie auch von den Menschen wieder eingerissen werden. Wenigstens diese eine Sache kann man aus der Geschichte lernen: Dass Diktaturen nicht ewig sind, auch wenn Sie darauf bestehen und bei den Menschen dieses Gefühl erzeugen wollen. Und das gibt doch Hoffnung.• 

Seit 2018 veranstaltet die Wüstenrot Stiftung gemeinsam mit Thea Dorn die Reihe „Zukunftsfragen der Gesellschaft“. Zu den öffentlichen Gesprächsabenden im Theaterhaus in Stuttgart, werden in der Regel zwei Gästen aus Gesellschaft, Politik oder Wissenschaft eingeladen, um aktuelle Themen zu erörtern. Die Wüstenrot Stiftung arbeitet seit 1990 ausschließlich und unmittelbar gemeinnützig in den Bereichen Denkmalpflege, Wissenschaft, Forschung, Bildung, Kunst und Kultur. Als operativ tätige Stiftung initiiert, konzipiert und realisiert sie selbst Projekt und fördert darüber hinaus die Umsetzung herausragender Ideen und Projekte anderer Institutionen durch finanzielle Zuwendungen. Weitere Informationen zur Reihe „Zukunftsfragen der Gesellschaft“ finden sich unter diesem Link.

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