Karl Popper und die AfD
AfD-Vertreter planen die Vertreibung von Menschen aus Deutschland. Muss eine pluralistische Gesellschaft das ertragen? Der Philosoph Karl Popper hat mit seinem „Toleranz-Paradoxon“ schon vor fast 80 Jahren eine klare Antwort gegeben.
An den Enthüllungen kommt kaum jemand vorbei: Laut Recherchen der Investigativplattform Correctiv planten hochrangige AfD-Politiker auf einem Geheimtreffen im vergangenen November gemeinsam mit Rechtsextremisten und finanzstarken Unternehmern die massenhafte Vertreibung von Millionen Menschen aus Deutschland. Personen mit Migrationsgeschichte wären betroffen, deutsche Staatsbürger:innen und Andersdenkende. Auch um Gewalt gegen politische Gegner soll es dort gegangen sein. Gegen diese Pläne der Rechtsaußenpartei sind nun Hunderttausende in der ganzen Republik auf die Straße gegangen. Überraschen freilich können die neusten Enthüllungen kaum.
Über Jahre hinweg hat die AfD alles für die Verrohung des gesellschaftlichen Diskurses getan. Der heutige Ehrenvorsitzende der Partei, für den der Nationalsozialismus nur ein „Vogelschiss“ deutscher Geschichte ist, wollte eine ihm unliebsame Politikerin „entsorgen“. Andere AfD-Vertreter fabulieren von „regierenden Verbrechern“ und bezeichnen Brandanschläge auf Flüchtlingsheime als „Akt der Verzweiflung“. Und der Thüringer Landeschef, der laut einer Gerichtsentscheidung als Faschist bezeichnet werden darf, droht seinen Gegnern offen mit „wohltemperierter Grausamkeit“. All das ist Nazi-Sprech. Und aus Worten werden Taten – das haben die rechtsextremen Terroranschläge der letzten Jahre auf mörderische Weise gezeigt.
Die AfD, das muss man so deutlich sagen, ist die größte Gefahr für die deutsche Demokratie seit Hitlers Nationalsozialismus. Es ist höchste Zeit, dem Einhalt zu gebieten. Natürlich ist Toleranz eine wichtige Errungenschaft, wie wir spätestens seit den Philosophien von John Locke und Voltaire wissen. Eine aufgeklärte, pluralistische Demokratie muss die Glaubens- und Gewissensfreiheit, aber auch die Redefreiheit gewährleisten. Wir, die Demokratinnen und Demokraten, „erdulden“ also, was wir eigentlich falsch finden – weil wir die Toleranz für ein hohes Gut halten. Doch diese Toleranz hat Grenzen.
Grenzen des rationalen Diskurses
Dies brachte wohl niemand so auf den Punkt wie der Philosoph Karl Popper. 1945, im Angesicht der Barbarei des Nationalsozialismus, vor dem Popper aus Österreich fliehen musste, veröffentlichte er sein Werk Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. Es ist eine Abrechnung mit Hitlers Nationalsozialismus und Stalins Sowjetkommunismus – und es erlangt aufgrund der weltweiten Bedrohung ebenjener offenen Gesellschaften eine traurige Aktualität.
Die zentrale Aussage seines Werkes bezeichnete Popper als „Paradox der Toleranz“, das er wie folgt beschrieb: „Uneingeschränkte Toleranz führt mit Notwendigkeit zum Verschwinden der Toleranz. Denn [...] wenn wir nicht bereit sind, eine tolerante Gesellschaftsordnung gegen die Angriffe der Intoleranz zu verteidigen, dann werden die Toleranten vernichtet werden und die Toleranz mit ihnen.“
Karl Popper hat das schlimmste Kapitel deutscher Geschichte überlebt. Trotzdem trat er für Toleranz ein. Den von ihm begründeten kritischen Rationalismus bezeichnete er als eine Art Grundhaltung, „die zugibt, dass ich mich irren kann, dass du recht haben kannst und dass wir zusammen vielleicht der Wahrheit auf die Spur kommen werden“. Zugleich aber kannte Popper die Grenzen des rationalen Diskurses. Er wusste: Die Weimarer Demokratie war nicht wehrhaft genug, weil sie ihre Feinde tolerierte – bis Hitler die Wahlen gewann, aus der Demokratie eine Diktatur machte und Europa in Schutt und Asche legte. Im Grundgesetz von 1949 sollten dann die richtigen „Lehren“ aus Weimar gezogen werden: Die bundesdeutsche Demokratie soll wehrhaft sein, sie will den Feinden der Freiheit keine Freiheit gewähren. Dem sind wir verpflichtet: „Nie wieder“.
Verbotsantrag als Zeichen der Wehrhaftigkeit
Natürlich muss eine offene Gesellschaft, die nicht selbst ins Autoritäre fallen will, ihre Intoleranz mit aller Vorsicht dosieren – denn leicht kann der Kampf gegen das vermeintlich Intolerante zu einem Kampf gegen alles Kritische werden. So wie der umstrittene „Radikalenerlass“ in den 1970ern vom Staat teils dazu benutzt wurde, unliebsame Beamte loszuwerden. Und so schrieb Karl Popper bereits 1945 in weiser Voraussicht, dass die Unterdrückung totalitärer Ideen und Bewegungen „sicher höchst unvernünftig“ sei, „solange wir ihnen durch rationale Argumente beikommen können und solange wir sie durch die öffentliche Meinung in Schranken halten können“.
Doch dies ist heute nicht mehr der Fall. Die AfD vergiftet die politische Kultur durch Menschenverachtung und Falschinformationen. Karl Poppers Worte könnten in Bezug auf diese sogenannten Alternative also kaum treffender sein: „[D]enn es kann sich leicht herausstellen, dass ihre Vertreter nicht bereit sind, mit uns auf der Ebene rationaler Diskussion zusammenzutreffen“, schreibt der Denker. „Sie können ihren Anhängern verbieten, auf rationale Argumente – die sie ein Täuschungsmanöver nennen – zu hören, und sie werden ihnen vielleicht den Rat geben, Argumente mit Fäusten und Pistolen zu beantworten.“ Zu lange schon kann die AfD, gefördert mit Steuergeldern und Privilegien, diese Demokratie unter Dauerbeschuss nehmen. Dagegen muss sich die Demokratie nun endlich wehren – mit ihrem „schärfsten Schwert“, wie das Bundesverfassungsgericht ein Parteienverbot 2017 treffend umschrieb. Die demokratischen Parteien sollten nun einen Verbotsantrag gegen die AfD stellen.
Ob solch ein Antrag Erfolg hätte? Zumindest wäre es mehr als ein Zeichen für eine wehrhafte Demokratie. Genügen freilich würde dies nicht. Denn mit einem Verbot der AfD könnten zwar ihre Struktur zerschlagen, die Finanzierung der Partei mit Steuergeldern unterbunden und die Radikalisierungsspirale gestoppt werden – Vorurteile und antidemokratische Denkweisen wären damit aber nicht verschwunden. Sie sind in Deutschland weit verbreitet, wie die Mitte-Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung im vergangenen Herbst erneut gezeigt hat. Laut der Untersuchung lehnen fast 30 Prozent der Befragten eine Diktatur nicht eindeutig ab. Mehr als jede:r Fünfte tendiert dazu, den Nationalsozialismus zu verharmlosen. Und nur gut die Hälfte der Befragten spricht sich klar gegen Rassismus aus.
Prinzip der Fehlbarkeit
Dabei müsse man feststellen, „dass die Zustimmung zum Vorurteil oft die Beibehaltung des eigenen Privilegs verspricht“, wie Andreas Zick, Co-Autor der Mitte-Studie berichtet. Zum Kampf gegen eine antidemokratische und rassistische Partei gehört also auch der Kampf gegen ebensolche, historisch gewachsenen Stereotype – in uns selbst und in der Mitte der Gesellschaft. Das wiederum hieße, auch eigene Privilegien abzugeben. Wer mit dem Finger hingegen nur auf andere zeigt, leugnet eigene Vorurteile. Dabei werden alle Menschen rassistisch, sexistisch und klassistisch sozialisiert – dies anzuerkennen würde dabei helfen, Diskriminierung weder für ihre Opfer noch für ihre Profiteure zu individualisieren, sondern als das anzuerkennen, was sie ist: ein historisch gewachsenes, strukturelles Problem. Uns selbst immer wieder kritisch zu hinterfragen war übrigens auch ein Grundpfeiler von Karl Poppers kritischem Rationalismus. Er nannte es das Prinzip der Fehlbarkeit: „Vielleicht habe ich unrecht und vielleicht hast du recht. Aber wir können auch beide unrecht haben.“
Was es für den Kampf um die Demokratie außerdem noch braucht, sind Räume, in denen sich unterschiedliche Menschen möglichst diskriminierungsfrei begegnen können. Nur so lässt sich Empathie stärken – sie ist die Grundbedingung des Zusammenhalts. Ebenso braucht es greifbare Identitätsangebote: Welche Rolle können ältere Menschen in einer alternden Gesellschaft spielen? Wieso ist ein gutes Leben nur möglich, wenn wir Migration konstruktiv gestalten? Und wie wollen wir miteinander klimagerecht leben? Es braucht also solidarische Zukunftsvisionen. Und natürlich Investitionen in Bildung sowie Infrastruktur. Vor allem aber braucht es Menschen, die gegen den Hass aufstehen. Sonst gewinnt die Intoleranz. •
Timo Reuter, Journalist, Autor und Gärtner aus Frankfurt. Er schreibt für verschiedene Tages- sowie Wochenzeitungen über politischen Stillstand, soziale Bewegungen und über Philosophie. Im Mai 2023 erschien beim Westend-Verlag sein Taschenbuch „Warten. Eine verlernte Kunst“.
Kommentare
Wenn ich ehrlich bin, dann, schätze ich, wäre für Deutschland eher oft mehr rechte Politik gut. Und auch oft mehr linke. Unterscheidbar, von zwei Parteien gemacht, welche entweder allein regieren oder allein in der Opposition kontrollieren. Ein Zweiparteienwahlrecht ist größtenteils eine Konsequenz der Bedingung "relatives Mehrheitswahlrecht in Einerwahlkreisen", zusammen mit zwei guten Parteikonzepten. Dann könnte die rechte Partei rechte Ideen entwickeln, aber eben nur so rechts, dass die Mehrheit der Wähler sie gut findet oder zumindest toleriert. Ebenso links. Dadurch wird ein besonders großer Teil des politischen Spektrums an der Regierung oder der geeinten Opposition beteiligt, während in der Mitte der intensivste Wettbewerb allerlei Minderheiten umwirbt und so integriert.
Für Russland und die Ukraine, Israel und Palestina, Nord- und Südkorea, um einige Konflikte erträglicher zu machen, schätze ich dies Wahlrecht mit den genannten Konsequenzen ebenso hilfreich.
Ich danke für den Artikel und die Möglichkeit, zu kommentieren.
Zum erwähnten „Radikalenerlass“ der 1970er Jahre: Was die Sache besonders heikel machte, war der Umstand, dass mit dem Erlass nun auch die alten Feinde der Demokratie (sowie ihre Schüler), die sich aus dem NS in Ämter und Würden der neuen Republik hinübergerettet hatten, ein effektives Grabwerkzeug für deren Aushöhlung in der Hand hielten. Gleichwohl bestand damals Handlungsbedarf. Man denke nur an den Fall Guillaume, um zu erfassen, dass die östlichen Geheimdienste, die ausgerechnet dem Kanzler der Ostverträge einen Spion ins Büro setzten, natürlich auch versuchten, die Linke in der BRD mindestens stark zu beeinflussen, in Teilen auch aktiv steuerten. Das wollen bis heute die wenigsten wahrhaben (besser gesagt zugeben).
Helmut Schmidt hat sich immer auf Karl Popper berufen, mit dem er auch befreundet war, und ich erinnere mich, dass er genau deswegen, natürlich, von links angegriffen wurde. Es bleibt festzuhalten, dass sich die BRD damals in einem „Ausnahmezustand“ befand, in dem Sympathien für links- und rechtsextremes Denken weit in die Gesellschaft hineinreichten. Ganz so weit sind wir heute nicht, aber auf „bestem“ Wege: Karl Popper bleibt aktuell.
Als bereits ältere Bürger gratuliere ich dem Autor für seine scharfsinnige, konzise und klare Anamnese unserer Demokratie - Defizite.
Die Analyse ist mehr als stimmig - bleibt die Frage, welche Politiker bereit sind, unabhängig ihrer Couleur, diese Werte ruhig, parteiübergreifend und mit Empathie zu vertreten.
Wir brauchen mehr Menschen die Kraft ihrer inneren Überzeugung für unsere Demokratie einstehen.