Mit Kant zur digitalen Mündigkeit
Bereits weit vor dem Internet sah Immanuel Kant im Missbrauch von Medien einen entscheidenden Grund für Unmündigkeit. Gerade deshalb ist es in Zeiten von TikTok wichtig, an die Gedanken des Königsberger Philosophen anzuschließen und über eine digitale Aufklärung nachzudenken, meint Jörg Noller.
Digitale Herausforderung
Künstliche Intelligenz, Big Data, virtuelle Realität und Computerspiele – das Digitale durchdringt immer mehr unsere Arbeitswelt und unseren Alltag. Der Informations-Ethiker Luciano Floridi spricht gar davon, dass wir ein „Onlife“ leben, dass wir also online und offline gar nicht mehr streng voneinander trennen können und wollen. Wir existieren immer mehr vernetzt – nicht nur miteinander, sondern auch mit Technologien wie Künstlicher Intelligenz. So aufregend und disruptiv die neuen digitalen Medien auch sind, sie bedürfen einer kritischen Reflexion: Werden wir durch ihren Gebrauch wirklich freier, oder machen wir uns nicht vielmehr von ihnen abhängig? Machen uns die digitalen Technologien am Ende gar zu ihren eigenen Hilfsmitteln? In jüngster Zeit mehren sich die Stimmen jener, die warnen, dass unser Umgang mit KI & Co in eine „digitale Demenz“ münden oder gar zu „Cyberkrankheiten“ führen könnte. Sollten wir dann nicht besser ganz die Finger von den digitalen Medien lassen und uns digital entgiften („digital detox“) oder asketisch einen „digitalen Minimalismus“ kultivieren? Andere hingegen, die sich der Position des „Transhumanismus“ oder gar „Posthumanismus“ zurechnen, prognostizieren eine nicht mehr ferne Verschmelzung von Mensch und Maschine, einer virtuellen digitalen Existenz. Der alte Menschheitstraum, sein Schicksal selbst in die Hand zu nehmen, nicht mehr auf den sterblichen Leib angewiesen zu sein, scheint zum Greifen nah.
Kants kritische Einsicht
Wie immer ist dort Vorsicht und eine nüchterne Analyse geboten, wo Neues quasi-religiös gehypt oder schlicht verteufelt wird. Und gerade hier kann uns die Philosophie und ihre reiche Tradition helfen, einen kritischen Mittelweg zu eröffnen, jenseits von Utopie und Dystopie. Erstaunlicherweise ist es gerade die Philosophie Immanuel Kants, der in diesem Jahr seinen 300. Geburtstag feiert, die uns einen solchen Weg eröffnen kann, indem wir seinen Begriff der Aufklärung auf die Digitalisierung übertragen. Zugegeben: Unser Mediengebrauch ist in der heutigen Zeit viel komplizierter als damals bei Kant, denn wir haben neben Büchern auch das Internet, Künstliche Intelligenz und Virtuelle Realität. Immanuel Kant hatte vor über 200 Jahren Aufklärung als „Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit“ bestimmt. Inwiefern ist jedoch Kants Begriff der Aufklärung für die gegenwärtigen Entwicklungen und Probleme der Digitalisierung noch relevant? Inwiefern unterliegen wir einer „digitalen Unmündigkeit“ und bedürfen deswegen einer „digitalen Aufklärung“?
Interessant mit Blick auf diese Fragen, dass Kant unsere Unmündigkeit gerade auch durch Verweis auf unseren Mediengebrauch diagnostiziert und kritisiert hatte. Formen der Unmündigkeit erblickt Kant in der Medialität, also der Vermittlung unserer vernünftigen Vermögen: Ein Buch ersetzt meinen Verstand, ein Seelsorger ersetzt mein Gewissen, und ein Arzt meine Urteilskraft. Als zwischen diesen Medien vermittelndes Medium macht Kant das Geld aus: „Ich habe nicht nötig zu denken, wenn ich nur bezahlen kann; andere werden das verdrießliche Geschäft schon für mich übernehmen“. Nach Kant ist diese Medialität unserer Vernunft so tief in unseren Alltag und unsere Lebenswelt eingedrungen, dass uns diese selbstverschuldete Unmündigkeit „beinahe zur Natur“ geworden ist. Unmündigkeit hängt nach Kant also untrennbar mit unserem Mediengebrauch und Medienmissbrauch zusammen. Wir erliegen nach Kant dieser medial bedingten Unmündigkeit jedoch nicht einfach so, sondern sind selbst die Ursache dafür, dass wir in eine mediale Unmündigkeit geraten sind. Was aber sind die Gründe für diese selbstverschuldete Unmündigkeit? Kant macht vor allem „Satzungen und Formeln“, also Vorschriften und Anleitungen des Menschen als „mechanische Werkzeuge eines vernünftigen […] Mißbrauchs seiner Naturgaben“ aus und beschreibt sie als „Fußschellen einer immerwährenden Unmündigkeit“. Wir folgen diesen Satzungen blindlings, ohne sie kritisch zu reflektieren und ihnen auf den Grund zu gehen. Die Gesetze, denen wir folgen, haben wir uns nicht selbst gegeben. Deswegen verhalten wir uns in der Unmündigkeit heteronom und nicht autonom.
Diese von Kant kritisierte Tendenz, uns selbst durch unseren Mediengebrauch unmündig zu machen, können wir auf die aktuelle Entwicklung der Digitalisierung übertragen. Denn insbesondere das Internet und Künstliche Intelligenz werden immer mehr als Ersatz für unser eigenes Denken gebraucht, etwa dann, wenn wir glauben, nur Suchanfragen oder Sprachbefehle äußern zu müssen und uns daraufhin die scheinbar objektiven Antworten automatisch vorgegeben zu werden scheinen. Künstliche Intelligenz automatisiert und ersetzt immer mehr unsere Urteilskraft, und Algorithmen ähneln jenen von Kant kritisierten „Satzungen und Formeln“, die im schlimmsten Fall zu „Fußschellen einer immerwährenden Unmündigkeit“ werden. Auf diese Problematik einer digitalen Unmündigkeit hat in jüngster Zeit Jürgen Habermas in seiner Schrift Ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit und die deliberative Politik hingewiesen. Habermas spricht von einer „halböffentlichen, fragmentierten und in sich kreisenden Kommunikation […], die deren Wahrnehmung von politischer Öffentlichkeit als solcher deformiert.“ Eine solche digitale Blasenbildung, in welcher Illusion, Fiktion, Simulation und Realität verschwimmen, wird durch die Verbreitung von fake news weiter verschärft. Wie aber können wir der digitalen Unmündigkeit entgehen, d.h. kritisch zwischen bloßer Illusion, Simulation, Fiktion und Realität unterscheiden? Wie können wir vermeiden, auf bloße Datenobjekte kommerzieller Interessen reduziert zu werden?
Kant hatte unsere Freiheit als Ausgang aus unserer selbstverschuldeten Unmündigkeit bestimmt, und zwar im Sinn eines „öffentlichen“ Gebrauchs unserer Vernunft. Wie aber können wir Kants Einsicht in die Gründe unserer Unmündigkeit und den Ausgang aus dieser Unmündigkeit auf die heutige Situation der Digitalisierung übertragen? Worin besteht die „digitale Unmündigkeit“ und worin der „(digitale) Ausgang“ aus ihr? Und schließlich: Worin kann ein öffentlicher Gebrauch unserer digitalen Vernunft und eine digitale Öffentlichkeit bestehen?
Was ist digitale Unmündigkeit?
Wir werden dadurch digital unmündig, dass wir abhängig von den Strukturen, Gesetzen und Inhalten werden, die die neuen Medien uns anbieten, und wir werden zugleich abhängig von der Technik, die nicht selten rein ökonomisch interessiert ist, und der wir in unserer passiven Haltung ausgeliefert sind. Die digitale Unmündigkeit ist gegenüber der von Kant namhaft gemachten Unmündigkeit wesentlich potenziert, denn es handelt sich dabei in noch viel stärkerem Sinne um Medialität – eine Medialität, welche durch Blasenbildung, Simulation und Reibungslosigkeit gegenüber der Medialität der gedruckten Schrift wesentlich verschieden ist. Die digitale Unmündigkeit besteht darin, dass wir alle Informationen im Internet für bare Münze nehmen, uns immersiv in simulierten Welten verlieren und sie mit der Wirklichkeit verwechseln, indem wir die Digitalisierung nur als passives Konsummedium verstehen. Digitale Filterblasen versorgen uns mittels ausgeklügelter Algorithmen mit Informationen, die wir immer schon lesen wollten oder immer schon für wahr gehalten hatten. Wir verlieren damit zunehmend die Möglichkeit, einen kritischen Blick von außen auf uns zu werfen.
Was ist digitale Aufklärung?
So wie nach Kant Aufklärung im öffentlichen Gebrauch der Vernunft bestehen muss, so muss eine digitale Aufklärung im digital-öffentlichen Gebrauch unserer Vernunft bestehen. Wie aber können wir uns diesen digitalen öffentlichen Gebrauch der Vernunft konkret denken? Wir sollten das Internet nicht nur als ein bloßes Konsummedium verstehen, sondern als einen virtuellen Handlungsraum, den wir selbst vergrößern oder aber durch fake news und Blasenbildung verkleinern. Unsere Handlungen im Internet sind demnach keine bloßen Simulationen, sondern neue, virtuelle Realitäten, für die wir die volle Verantwortung tragen. Wir sollten Computerspiele nicht nur als Konsummedium und immersive Simulation einer Scheinwelt verwenden, sondern als Form von kritischer Wirklichkeitsreflexion begreifen. Wir sollten die Digitalisierung nicht als uns beherrschende Technik und „mechanische Werkzeuge“, sondern als Ermöglichungsgrund von Freiheit im Sinne eines öffentlichen, vernetzten Gebrauchs unserer Vernunft verstehen. Durch einen öffentlichen Gebrauch der digitalen Vernunft erscheint das Internet nicht mehr als privilegiertes Konsummedium, sondern als Antwort auf unser Grundbedürfnis nach Freiheit, auf welche alle Menschen ein Recht haben.
Digitale Mündigkeit und digitale Tugenden
Worin besteht der öffentliche Gebrauch der digitalen Vernunft? Die bloße Digitalisierung analoger Strukturen und Prozesse bedeutet noch keine digitale Mündigkeit, sie kann gerade dort ein Zeichen digitaler Unmündigkeit sein, wo wir uns Mechanismen unterwerfen, die wir selbst am Ende nicht mehr durchschauen. Digitale Aufklärung muss deswegen als Eröffnung von neuen Handlungsräumen verstanden werden, die raumzeitlich flexible Mitbestimmung und Partizipation ermöglicht. Digitale Mündigkeit muss insofern auch von bloß technokratischer „Medienkompetenz“ unterschieden werden. Es geht demnach nicht um den instrumentellen Gebrauch der Digitalisierung, sondern um ihren öffentlichen Gebrauch. Digitale Mündigkeit bedeutet, dass wir unsere individuelle und kollektive Autonomie durch die Digitalisierung vergrößern, indem wir uns aktiv weigern, zu bloßen Datenobjekten degradiert zu werden. Die Vergrößerung unserer Autonomie besteht in der Vergrößerung des öffentlichen digitalen Raumes, der nicht nur als ein Konsum- oder Informationsraum, sondern als ein Handlungsraum sichtbar wird. Ebenso müssen digitale Tugenden von bloßer Medienkompetenz unterschieden werden. Es geht nicht so sehr darum, die digitale Technik technokratisch zu optimieren, sondern sie in unsere Lebenswelt so zu integrieren, dass sich unser Handlungsraum und damit unsere Autonomie vergrößert. Digitalisierung und Internet werden so als Bedingung der Möglichkeit von Partizipation und als dezentrale, non-kommerzielle Struktur sichtbar, wie sie bereits durch kollaborative, freie Projekte wie Wikipedia angedacht ist. Auch die Blockchain-Technologie kann als eine digitale, dezentrale Struktur verstanden werden, die durch Konsensverfahren eine digitale Öffentlichkeit und Partizipation ermöglicht – als digitaler Gesellschaftsvertrag. Digitale Aufklärung wird also nicht einfach dadurch erreicht, dass wir unsere Lebenswelt vollständig digitalisieren. Vielmehr erfordert sie, dass wir die digitale Technik so einsetzen, dass neue Formen von Autonomie und Mitbestimmung möglich werden, die in der analogen Lebenswelt nicht möglich sind. Dies setzt freilich voraus, dass allen Menschen auf der Welt in gleichem Maße digitale Technik offensteht. Andernfalls droht die Idee einer „digitalen Aufklärung“ selbst zum Produkt einer digitalen Blase zu werden.
Jörg Noller vertritt momentan den Lehrstuhl für Ethik an der Universität Augsburg und ist Privatdozent an der LMU München. Zum 300. Geburtstag Kants erschien sein Buch „Was ist digitale Aufklärung. Mit Kant zur medialen Mündigkeit“ im Verlag Herder.