Orwells Geopolitik
Der Roman 1984 handelt vom Kampf dreier Weltreiche. Die Ähnlichkeit zu heutigen Konfliktlinien ist verblüffend. Leben wir noch immer in der Orwell-Welt? Oder zeichnet sich bereits eine neue Landkarte der Macht ab?
Es dürfte sich herumgesprochen haben, dass George Orwell eine prophetische Gabe hatte. Sein Roman 1984 beschreibt aus der Perspektive eines zweifelnden Regime-Insiders namens Winston Smith Herrschaftstechniken, die uns bedrückend aktuell erscheinen. „Big Brother“ ist längst zur Metapher des Überwachungsstaates geworden, der unter digitalen Bedingungen alptraumhafte Realität anzunehmen droht. Und Orwells „Neusprech“, der den Krieg zum Frieden erklärt und den Frieden zum Krieg, fällt nicht nur dialektisch Ungeschulten als verwirrender Grundzug sicherheitspolitischer Diskurse auf. Weitgehend unbekannt ist hingegen, dass Orwell auch einen Blick für Außenpolitik, für Weltkarten und Geopolitik hatte, der ebenfalls Aktualität für sich beanspruchen kann.
In 1984 ist die Welt aufgeteilt zwischen drei Großmächten: Ozeanien, Eurasien und Ostasien. „Ozeanien“ erstreckt sich über den gesamten amerikanischen Doppelkontinent, von Grönland bis Feuerland. Auch Großbritannien, Südafrika und Australien gehören dazu. Die Konkurrenzmacht „Eurasien“ besteht aus Kontinentaleuropa, Russland, Nordafrika, der Türkei und einigen zentralasiatischen Ländern. Zum Reich „Ostasien“ gehören China, Japan und Teile Indochinas. Zwischen den Imperien, im Loch der Macht, erstreckt sich eine umkämpfte Zone, die von Zentralafrika über den Nahen Osten bis nach Pakistan und Indien reicht. Die drei Großmächte ringen hier um Einfluss, sie befinden sich im permanenten Krieg miteinander; wechselnde Bündnisse und zahllose Stellvertreterkonflikte sorgen bei aller Starrheit der Blöcke für Dynamik im Weltgeschehen.
Erinnert dies nicht an unsere heutige Weltlage? Bilden sich nicht aktuell Machtblöcke, Großräume, Einflusssphären heraus, die der orwellschen Aufteilung verblüffend ähnlich sehen? Trumps Vorschläge, Grönland und Kanada den USA anzuschließen, sein Interesse für Panama und Mexiko sowie seine Drohgebärde gegenüber Venezuela erinnern an den orwellschen Großraum Ozeanien. Putins Russland hingegen träumt von einem Eurasien von Lissabon bis Wladiwostok. Alle sieben Jahre überfällt es ein Land für diesen Traum. Und China hat sich zum Taktgeber Ostasien aufgeschwungen, der neben Hongkong vielleicht bald auch Taiwan und die Spratly-Inseln heim ins Reich holen will. Bei allen Großkonflikten – in der Ukraine, im Nahen Osten, im Iran, im Südchinesischen Meer und auf der koreanischen Halbinsel – kommt es auf diese drei Mächte an. Das ist die geopolitische Realität, mit der sich auch die gerne großen, aber nicht ganz so mächtigen Europäer, Iraner, Brasilianer, Inder und andere Mächte aus der zweiten Reihe arrangieren müssen.
Geopolitischer Prophet?
Orwell – ein geopolitischer Prophet? Er war wohl mehr als das. Als umsichtiger Beobachter erkannte er die Konturen einer Weltordnung, die um ihn herum entstand. Als Sohn eines englischen Kolonialbeamten 1905 in Bengalen geboren, später in England erzogen, lernte er im Spanischen Bürgerkrieg die Schrecken des Franquismus und des Stalinismus gleichermaßen kennen. Später arbeitete er in London für die BBC, die er wegen politischer Differenzen wieder verließ. 1944 wurde sein Haus ausgebombt. Es war also das Wesentliche des Jahrhunderts durch ihn hindurchgegangen, die großen Kriege und ideologischen Kämpfe hatte er aus erster Hand erlebt, als er sich 1946 auf die schottische Insel Jura zurückzog, um 1984 zu schreiben. Das Werk ist weniger Prophetie als Extrapolation, Verlängerung der Gegenwartstendenzen in die Zukunft. Den „Neusprech“ hatte er bei der BBC ebenso kennengelernt wie unter spanischen Kommunisten, den Überwachungsstaat bei Kommunisten, Faschisten und Liberalen studiert. Als Anarchist hielt er zu allen politischen Lagern Distanz. Er beschränkte sich auf die Beschreibung ihrer Mittel. Orwell war ein Beobachter der Macht. So sah er, wie das geopolitische Kräftemessen, der Kampf um Sphären, die Bühne bildete, auf der die Herrschaftstechniken erprobt wurden. Und er sah auch: Die drei Weltreiche Ostasien, Eurasien und Ozeanien gab es tatsächlich. Sie hießen USA, Sowjetunion und China und bestimmten das 20. Jahrhundert.
Diese orwellsche Lesart verschiebt unseren Blick auf die jüngere Weltgeschichte, auf die Weltkriege, den Ost-West-Konflikt und den Mauerfall, auf das Ende der Geschichte und die Multipolarität unserer Tage: Die ideologischen Kämpfe treten zurück hinter das Gerangel der Großräume, die sich bilden, miteinander balgen und en passant die Weltgeschichte vor sich hertreiben. Diese, so die bittere Nachricht für ideologiekritische Antinationalisten, war schon immer postnational. Die Geschichte bevorzugt Imperien, Reiche, Großräume. Als erster nahm der amerikanische Großraum Gestalt an. Seit der Monroe-Doktrin von 1823 haben die USA hier relativ freie Hand, hin und wieder gestört von externen Mächten wie Spanien, das 1898 aus Kuba vertrieben werden musste, Deutschland, das 1902 Kanonenboote nach Venezuela schickte, oder die Sowjetunion, die Kuba 1959 an sich riss. Heute will Trump in allamerikanisches Recht gießen, was sich politisch seit 200 Jahren ankündigt: Ein Amerika von Alaska bis Feuerland, das nach der Pfeife Washingtons tanzt. In Eurasien hingegen war die Frage nach der Vorherrschaft lange ungeklärt. Deutschland hat 1914 bis 1945 versucht, sie für sich zu entscheiden, ist aber gescheitert. Dann übernahm Moskau die Initiative – zunächst in Gestalt der Sowjetunion, heute durch Putin. In Ostasien war es ähnlich: Zuerst griff Japan nach der Hegemonie. Um 1900 riss es sich eine Kolonie nach der anderen unter den Nagel, wurde aber im Zweiten Weltkrieg gestoppt. So war der Weg frei für den Aufstieg Chinas. Maos langer Marsch galt nicht allein der Macht in China, sondern in ganz Ostasien.
Geopolitisches Hauptstück
Damit war 1949 – das Jahr, in dem Orwells 1984 erschien – eine Großraumordnung entstanden, mit der wir es noch immer zu tun haben: Ozeanien, Eurasien und Ostasien, also USA, Sowjetunion und die Volksrepublik China, später: NATO, Warschauer Pakt und die Bewegung der Blockfreien Staaten bestimmten die Weltpolitik der vergangenen Jahrzehnte. Selbst der Kalte Krieg war lediglich das ideologische Hintergrundrauschen zum geopolitischen Hauptstück, das Peking, Moskau und Washington aufführten. Um Kapitalismus und Kommunismus ging es nur am Rande, wichtiger war der Kampf um die Kontrolle der Erde.
Anfangs arbeiteten die beiden kommunistischen Mächte durchaus zusammen. Gemeinsam wollten sie dem schrecklichen Westen Paroli bieten. Doch schon in den späten 1950er-Jahren schlichen sich Misstöne ein. Maos Großer Sprung nach vorn weckte in Moskau böse Erinnerungen an den gerade überwundenen Stalinismus, an Chaos und Gewalt. Außerdem galt Mao als Stimme der Blockfreien Staaten, was für Chruschtschow ebenfalls nach Chaos klang. 1969 wäre es beinahe zum Krieg der Kommunismen gekommen. Nun schwenkte Peking auf die Seite Washingtons. Nixon traf sich 1972 mit Mao. Und Deng Xiaoping öffnete China ab 1978 für die Marktwirtschaft. Als die Sowjetunion 1979 in Afghanistan einmarschierte, fürchtete Peking eine vietnamesisch-sowjetische Einkreisung. Daraufhin unterstützte Deng – zusammen mit Washington – die afghanischen Mudschahedin und boykottierte die Olympischen Spiele 1980 in Moskau. Haben am Ende gar China und die USA gemeinsam die Sowjetunion zu Fall gebracht? Nach dem Fall der Berliner Mauer wechselten jedoch die Bündnisse. China, das sich höchst erfolgreich am Globalisierungsgeschehen beteiligte, war nun der neue US-Hauptkonkurrent. Washington suchte die Nähe zu Moskau. War Jelzin nicht ein Mann der Amerikaner?
Vor der Dernière
Heute sind die Bündnisse erneut in Bewegung geraten. Russland und die USA sind keine Freunde mehr. Einige Trump-Berater mögen am Traum vom gemeinsamen Vorgehen gegen Peking festhalten. Doch China und Russland haben sich längst angenähert und eine Partnerschaft beschlossen, die gegen Washington gerichtet ist. Washington wiederum versucht, die Einheit Eurasiens und Ostasien zu verhindern, indem es einzelne Länder herauslöst und auf seine Seite zieht. Das versuchen Russland und China im US-Hinterhof zwar auch, aber mit mäßigem Erfolg. Washington hat auf dem heimischen Doppelkontinent relativ freie Hand. Und das könnte sein Vorteil im geopolitischen Kräftespiel sein. Als unumstrittene Macht Amerikas hat es zu Hause seine Ruhe. Hier kann es entspannen, Kräfte sammeln, sich zurückziehen, falls der geopolitische Wind mal ein wenig schärfer bläst. Eurasien und Ostasien sind hingegen hart umkämpft. Hier hat man keine Verschnaufpause. Südkorea, Japan oder Vietnam widersetzen sich dem Hegemonialaspiranten China. Und die Europäer wollen mit Russland nichts zu tun haben.
Deutet sich hierin schon etwas Neues an? Zerfällt die Dreiblocklandschaft, die das vergangene Jahrhundert bestimmt hat? Indien tritt durchaus selbstbewusst auf. Europa kann eine Großmacht werden. Brasilien auch. Und dürfte Nigeria, das bald mehr Einwohner hat als die USA, nicht auch ein Wörtchen mitreden wollen bei der Ausgestaltung der Welt? Möglicherweise erleben wir gerade die letzte Aufführung des tripolaren Stücks im Welttheater der Spätmoderne. Erst nach der Dernière gibt es einen neuen Spielplan mit neuen Stücken, anderen Charakteren, und erst dann sind wir im 21. Jahrhundert angelangt, das vielleicht auch ein nach-orwellsches sein wird. Aber noch sind wir mittendrin in der Orwell-Welt. •
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