Peter Sloterdijk: „Europas Vorsprung vor den anderen Weltmächten beruht auf seinem tragischen Erbe“
Der alte Kontinent wirkt müde und zerstritten. Andere geben den Ton an. Wird Europa zum westlichen Zipfel Asiens? Oder gibt es etwas, das bleibt? Ein Gespräch über das Erbe Roms, kulturellen Kannibalismus und die Weisheit der europäischen Institutionen.
Herr Sloterdijk, Sie haben schon einige Bücher über Europa publiziert. Woher kommt Ihr Interesse für diesen „Kontinent ohne Eigenschaften“?
Ich bin seit Jahrzehnten wie ein Handelsreisender in Angelegenheiten Europas unterwegs. Für mein neues Buch verwende ich die Formel: Den Europäern muss ihre Situation in der Welt von Jahrzehnt zu Jahrzehnt neu erklärt werden, und dies seit Langem. Warum? Weil die Entdeckung der „Welt“ durch die Umrundung der Erde vor 500 Jahren von Europas Häfen ausging. Daraus entstand die Notwendigkeit, den hier Lebenden ihren Platz und ihre Aufgabe im Weltgeschehen fortlaufend neu zu explizieren. Dies trifft selbstverständlich auch auf meine Arbeit zu, zumal man es jetzt mit einer Lage zu tun hat, die sich von allen vorangegangenen stark unterscheidet. Man könnte sagen, seit einem halben Jahrtausend durchlebt Europa eine fortwährende Dekonstruktion bisheriger Vorstellungen über das Ganze von Welt und Erde. Die erste dieser Dekonstruktionen fand um 1500 statt, als die Kolumbusfahrt zu einer Verschiebung des Okzidentbegriffs führte. Mit einem Mal waren wir nicht mehr die Bewohner des Landes, wo die Sonne untergeht – wir mussten das Okzident-Prädikat an die später so genannten Amerikaner abgeben. Der „Westen“ wanderte damals weiter über den Atlantik. Seit der Rückkehr des Kolumbus von seiner ersten Fahrt sind wir positionell Alte Welt. Dennoch blieb sie ein halbes Jahrtausend lang das Turbulenzzentrum der Erde.
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