Romantische Wanderlust
16 Summits, das ist die etwas großspurige Bezeichnung für die höchsten Gipfel der deutschen Bundesländer. Ihre „Besteigung“ erfreut sich zunehmender Beliebtheit. Was verbirgt sich hinter dem Mikroabenteuer? Die Beantwortung dieser Frage führt tief in die Philosophie der Romantik.
Eine erfolgreiche Besteigung des je höchsten Gipfels der 7 Kontinente – unter Bergfreunden als „Seven Summits“ bekannt – ist ein alpines Großabenteuer der besonderen Art. Wem die entbehrungsreiche und riskante Herausforderung zu anspruchsvoll, zu langwierig oder schlicht zu kostspielig ist, kann sich dem deutschen Pendant widmen: den „Sixteen Summits“. Eine Reise zu den höchsten Erhebungen der 16 Bundesländer erfreut sich in den letzten Jahren zunehmender Beliebtheit. Abgesehen von der bayerischen Zugspitze sind das natürlich keine Berggipfel im eigentlichen Sinne. In Berlin handelt es sich um den höchsten Punkt einer Bauschuttdeponie, in Bremen um die leicht übersehbare Stelle einer Parkanlage, die mit lediglich 32,5 Metern über dem Meeresspiegel die höchste Erhebung des Bundeslandes darstellt.
Was bringt jemanden dazu, derart unspektakuläre Stätten aufzusuchen? Zahlreiche Online-Reiseblogs künden von einer ernsthaften Herangehensweise an das zunächst scherzhaft klingende Projekt. Handelt es sich um eine verhältnismäßig leicht zu bewältigende Bucket List, geboren aus dem Drang nach regionalem Mikroabenteuer? Um einen amüsanten Affront gegen den Berg-Hype und die weltwärts gerichtete Sehnsucht nach intensiven und bereichernden Erlebnissen in der Fremde? Oder geht es gar nicht um die Gipfel selbst, sind sie vielmehr Anlass für eine corona- und klimaverträgliche Deutschlandreise?
Die Verbindung von Heimat und Wanderschaft wurde bereits in der Literatur der Romantik gefeiert: Man denke etwa an Heinrich Heines Harzreise, die das Motiv des Unterwegsseins mit einem Bekenntnis zur heimatlichen Landschaft verbindet, zugleich jedoch mit Ironie und Witz durchbricht. Auch die sprichwörtliche deutsche Wanderlust hängt eng mit der Epoche der Romantik zusammen. Doch nicht nur der schlichte Charakter und die regionale Ausrichtung verleihen der Reise zu den 16 Kleinstgipfeln ein romantisches Ansehen. Vielmehr: Die Suche nach dem tieferen Sinn des Vorhabens führt zurück in die Philosophie der Frühromantik.
Verklärung des Gewöhnlichen
Ihr philosophisches Rüstzeug bezieht die Romantik unter anderem von Friedrich Wilhelm Joseph Schelling. Der Kerngedanke in Schellings Naturphilosophie besteht in der Annahme einer grundsätzlichen Identität von Natur und Geist, die aufgrund ihrer historischen Entzweiung in einem Spannungsverhältnis zueinanderstehen. Die Romantik ist demzufolge von dem Anspruch geprägt, in einer künstlerisch-ästhetischen Bearbeitung der Wirklichkeit die verschleierte Einheit und den ursprünglichen Sinn der Existenz wiederzufinden. „Die Welt romantisieren heißt, sie als Kontinuum wahrzunehmen, in dem alles mit allem zusammenhängt“, so fasst der Dichter und Philosoph Novalis das Projekt zusammen. „Erst durch diesen poetischen Akt der Romantisierung wird die ursprüngliche Totalität der Welt als ihr eigentlicher Sinn im Kunstwerk ahnbar und mitteilbar.“
Gerade das scheinbar Belanglose rückt so in den Fokus der Aufmerksamkeit. Bei Novalis heißt es dazu: „Indem ich dem Gemeinen einen hohen Sinn, dem Gewöhnlichen ein geheimnisvolles Ansehn, dem Bekannten die Würde des Unbekannten, dem Endlichen einen unendlichen Schein gebe, so romantisiere ich es.“ Wird nun ein an sich unbedeutender Stadthügel als Bestandteil der 16 Summits betrachtet und zum Zielpunkt einer Reise erklärt, die überdies an die höchsten globalen Gipfel der 7 Summits erinnert, erfüllt sich der romantische Grundgedanke. Das Kleine und Alltägliche spiegelt auf diese Weise das Große und Erhabene in sich. Ein vermeintlich unerheblicher Hügel in der brandenburgischen Landschaft kommt auf einmal zu Rang und Bedeutung und partizipiert an einem Sinngefüge, das ihn in direkte Verbindung mit den mythischen Orten der weltweit höchsten Gipfel setzt.
Selbst das leichte Augenzwinkern in der Bezugnahme auf die höchsten globalen Gipfel entspricht der romantischen Idee. Denn so ernst die Romantik ist, so ironisch und humorvoll ist sie zugleich. Ihre Vertreter wussten um den offenbaren Widerspruch zwischen der alltäglichen Banalität des Lebens und einer imaginierten besseren Existenz. Die große Hoffnung ruht auf dem schöpferischen Ich, das sich die Wirklichkeit auf spekulative Weise aneignet und so beginnt, sie tatsächlich zu einem vollkommeneren Ort zu machen. Es geht in der Romantik darum, eine ideale Welt zu präsentieren, voller Zauber und Bedeutung, eine Welt, deren Sinnhaftigkeit und Schönheit als Orientierungshilfe, Inspiration und Ausblick auf eine hoffnungsvolle Zukunft dient. Auf erstaunlich zutreffende Weise trägt das Projekt der 16 Summits die romantische Verklärung des Gewöhnlichen produktiv in die Gegenwart.
Programmatische Unabschließbarkeit
Ein weiteres Merkmal der Romantik besteht darin, diese Entwicklung als ein ewiges Werden zu begreifen, das nie zum Abschluss gelangt. Der mit Novalis eng befreundete Friedrich Schlegel schreibt dazu: „Die romantische Dichtart ist noch im Werden; ja das ist ihr eigentliches Wesen, daß sie ewig nur werden, nie vollendet sein kann.“ Diese Idee verdankt die Romantik vor allem ihrer zweiten philosophischen Bezugsgröße: dem in Jena lehrenden Johann Gottlieb Fichte, der die Strukturen der Wirklichkeit als beweglich und dynamisch begreift, als steten Entwicklungsprozess. In fragmentarischer Offenheit endet daher etwa Hölderlins Roman Hyperion mit dem programmatischen Ausblick: „So dacht ich. Nächstens mehr.“
Auf wundersame Weise kommt diese Vorstellung dem Projekt der 16 Summits zugute. Denn einer der 16 Gipfel, der Große Beerberg in Thüringen, darf nicht betreten werden. Er befindet sich in einem Biosphärenreservat, das zum Schutz eines seltenen Hochmoors geschaffen wurde. Es gibt zwar einen alternativen Gipfelpunkt in unmittelbarer Nähe, auf dem ein Turm steht, der den Gipfel des Großen Beerbergs um einige Meter überragt. Doch strenggenommen liegt der topographisch höchste Punkt Thüringens außerhalb des Erreichbaren, was die Besteigung der 16 Summits zu einem unabschließbaren Abenteuer macht. Die begonnene Reise findet niemals ihren Abschluss. Ihr Ende ist zugleich da und nicht da. Es ist sichtbar, aber unzugänglich. Bereits die Konzeption enthüllt somit den romantischen Kern des Projekts.
Die Suche nach dem Unendlichen, dem es sich ewig anzunähern gilt, wird oftmals mit der Romantik selbst gleichgesetzt. Das ironische Aufgreifen dieses Leitgedankens, gemeinsam mit dem generellen Doppelsinn des Vorhabens und dem romantisierenden Blick auf deutsche Kleinstgipfel offenbart: Eine Reise zu den 16 Summits ist nicht nur eine willkommene Möglichkeit, unbekannte Gegenden von Deutschland zu entdecken – sondern eine zutiefst romantische Abenteuerfahrt. •
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