Timothy Morton: „Ein Gefühl ist ein Gedanke aus der Zukunft“
Um Menschen zu einem Umdenken zu bewegen, setzen viele auf Zahlen und Tabellen. Im Interview erläutert der Philosoph Timothy Morton, warum das ein falscher Ansatz ist und wie uns stattdessen Kunst helfen kann, den Planeten zu retten.
Herr Morton, um andere Menschen davon zu überzeugen, dass wir im Angesicht des Klimawandels etwas unternehmen müssen, setzen viele stark auf Daten. Halten Sie diese Herangehensweise für sinnvoll?
Timothy Morton: Ich denke nicht, dass das funktionieren kann, denn das Problem an Daten besteht darin, dass sie unsere Einstellung nicht verändern. Genauer gesagt: Faktoide tun dies nicht. Im Moment greifen wir aber auf Faktoide zurück, um über das Massenaussterben zu sprechen – was meines Erachtens die treffende Bezeichnung für die Katastrophe ist, die wir gerade erleben. „Globale Erwärmung“ oder „Klimawandel“ klingt mir zu harmlos.
Was ist ein Faktoid?
Ein Faktoid ist ein Fakt, über den wir etwas wissen, was vielleicht sogar stimmt. Und dennoch hat es die merkwürdige Eigenschaft, uns anzuschreien: „Seht her, ich bin eine Tatsache! Soundso viele Arten sind bereits ausgestorben! Ihr könnt mich nicht ignorieren! Euer CO2-Fußabdruck als Deutsche ist soundso viel Mal größer als der von Menschen im globalen Süden! Ich bin euch vom Himmel herab auf den Kopf gefallen!“ Faktoide sollen so aussehen, wie wir uns Fakten vorstellen. Doch Leute auf eine riesige Informationsmüllkippe zu werfen und dann zu erwarten, dass sie den Planeten retten, wird nicht funktionieren.
Können Sie ein Beispiel für ein Faktoid nennen?
Nehmen wir den Satz: „Es gibt ein Gen für eine bestimmte Eigenschaft.“ Die meisten Menschen verstehen das so, dass ein Teil des DNA-Codes verantwortlich dafür ist, dass diese Eigenschaft auftreten wird. Doch Gene „für“ irgendetwas gibt es überhaupt nicht. Tatsache ist, dass sich Merkmale durch komplexe Reaktionen ausprägen, die zwischen der Expression der DNA und der Umgebung stattfinden. Nur weil man irgendeine DNA hat, die mit einem bestimmten Krebs in Beziehung steht, heißt das noch nicht, dass man diesen Krebs bekommen wird. Lassen Sie mich es so formulieren: Ein Faktoid verhält sich zu einer wirklichen Tatsache wie die Kategorie Heavy Metal in einem Plattenladen zu tatsächlicher Heavy-Metal-Musik. Auf das Erstere lässt sich leichter verweisen, und deshalb halten wir es zumeist für wahrer als das, was in Wirklichkeit wahr, aber schwerer zu fassen ist.
Aber wenn Statistiken und Zahlen unsere Einstellungen nicht ändern, weil der Rückgriff auf sie nur die ohnehin schon gewaltige „Informationsmüllkippe“ weiter anwachsen lässt – was können wir dann tun?
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