Verbesserte Realität?
Bilden wir die Welt wirklich ab, wenn wir einen Schnappschuss mit unserer Smartphone-Kamera aufnehmen? Nicht ganz, wie ein Skandal in der Techwelt vor einiger Zeit zeigte. Eine Deutung mit Roland Barthes zum heutigen Welttag der Fotografie.
Das Foto eines Mondes hat die Welt der Smartphonefotografie erschüttert. Verantwortlich dafür war ein Reddit-User mit dem Namen „ibreakphotos“. In einem geposteten Video sah man Folgendes: Auf einem Computerbildschirm öffnete der Nutzer ein sehr verschwommenes Bild vom Mond. Dieses Bild fotografierte er wiederum mit seinem nagelneuen Samsung-Smartphone, dem Galaxy S23 Ultra. Zunächst zeigte sich auf dem Smartphone lediglich eben jenes verschwommene Bild. Nach kurzer Ladezeit passierte aber Beeindruckendes. Auf einmal erschien der Mond auf dem Bild des Handys in deutlich schärferer Version. Da ließen sich nun große Krater und helle Landschaften entdecken; Details, die das abfotografierte Bild gar nicht hergab.
Hier ist die Erklärung: Samsung tauscht Texturen aus, um ein optimal scharfes Bild zu erzeugen. Diese neu eingesetzten Mini-Bildelemente stammen wiederum aus einem großen Pool an Daten anderer Bilder vom Mond. Samsung selbst spricht dabei lediglich von „AI-Enhancements“, also Verbesserungen durch Techniken künstlicher Intelligenz, die nach jedem Schnappschuss durchgeführt werden würden. Fakt ist: Bei Fotos mit Kameras neuerer Smartphones, übrigens auch der meisten anderen Marken, werden Bildern Informationen hinzugefügt, um sie schärfer, besser belichtet, schlichtweg schöner zu machen; und das wie im Falle des Mondes manchmal im eklatanten Ausmaß. Zusätzlich ist der Nutzer nicht im Stande zu verfolgen, welche Informationen hinzugefügt, welche Bildelemente also „verbessert“ wurden. Und er kann sich übrigens auch nicht gegen das „AI-Enhancement“ entscheiden.
„punctum“ vs. „studium“
Damit verliert die Fotografie genau das, was Roland Barthes zufolge eigentlich ihr Wesen ausmacht: Fotografien besitzen, so Barthes in seinem 1970 erschienenen Essay Die helle Kammer, ein unheimliches Potenzial der Evidenz; das nüchterne „Es-ist-so-gewesen“ der Fotografie ist es, was uns in ihren Bann schlägt. Der Betrachter von Fotos könne sich in einem sicher sein: Das, was von der Kamera eingefangen wurde, hat tatsächlich stattgefunden. Im Unterschied zur Malerei muss Fotografie auf etwas Reales referieren, und kann keine z. B. vom Künstler erdachte Landschaft abbilden.
Dieser Reiz ist heute genauso wie zu Barthes‘ Zeiten aktuell. Man beachte die eigenen kleinen Momente der Faszination, sobald man sich eine alte Fotografie seiner Eltern oder Großeltern anschaut. Der instinktive Gedanke des „Die waren tatsächlich mal jung“, kann sich nur auf Basis der schlichten Evidenzkraft des Bildes entfalten. Oder, um ein drastisches Beispiel zu nennen, die Kraft von Fotografien, die zum Tode Verurteilte zeigen. Hier kommt es zum erschütternden Moment, wenn sich der Betrachter vergegenwärtigt, dass der eigene Blick auf eine Person fällt, die sich ihres baldigen Todes bewusst war. Es ist so gewesen; diese bestimmte Pose, diesen bestimmten Blick hat die abgebildete Person tatsächlich eingenommen; darin liegt der Kern der Faszination von Fotografie: Die fotografierte Person hat existiert und tut es nun immer noch auf zugängliche, wenn auch „tote“ Art und Weise auf einem Stück Papier, das ich mir anschaue.
Und Roland Barthes hat nicht nur das „Es-ist-so-gewesen“ als Wesensmerkmal der Fotografie hervorgehoben. Er kam ebenso zu dem Schluss, dass manche Fotografien den Betrachter durch bestimmte Details bestechen, die Barthes „punctum“ nannte. Und tatsächlich können sich die meisten an Fotografien erinnern, die bei der Betrachtung etwas Unbestimmbares ausgelöst haben, wodurch sich das Motiv vielleicht bis heute ins Gedächtnis eingeprägt hat. Der Grund der Faszination ist dabei nicht in Worte zu fassen. Dem Foto war schlichtweg etwas inhärent, das zu einer tiefen, individuellen Berührung geführt hat: Vielleicht war es der Blick der abgelichteten Person, oder eine angewinkelte Hand… Das „punctum“ ist unauflöslich gebunden an die Authentizität des Bildes: Ein Blick könnte nie bestechen, wenn er womöglich gar nicht echt ist. Sobald also die Authentizität der Fotografie ins Wanken gerät, sobald sich der betrachtende Fotograf nicht im Klaren darüber ist, welche Änderungen im Bild vorgenommen wurden, verliert auch das Bild an Durchschlagskraft; es vermag nicht mehr zu bestechen, das „punctum“ bleibt der Fotografie fern.
Einzigartiges geht in Verallgemeinerung über
Wenn die Sicherheit der Evidenz durch die AI-Technik nicht mehr gegeben ist; wenn sich der Fotograf bei jedem Foto über die Hinzunahme von Informationen bewusst sein muss; dann ist das faszinierende Moment der Fotografie verloren. Das Foto bietet dann nur noch eine Mischung zwischen tatsächlichem Objekt und kodierter Information, die zwar auch aus existierenden und abfotografierten Objekten erzeugt wurde, aber nicht Teil des abgelichteten Moments sind. So geht Einzigartiges in Verallgemeinerung über, ohne dass dieser Prozess wirklich nachvollzogen werden kann.
Und so beschränkt sich die Smartphone-Fotografie auf das, was Barthes in einem Essay als „studium“ bezeichnet und dem „punctum“ entgegenstellt: Während das punctum der Logik des Besonderen gehorcht, folgt das „studium“ der Logik des Allgemeinen. Das „studium“ meint das Interesse für ein bestimmtes Genre von Fotos; ‚ganz allgemein‘ mag ich Fotos, die beispielsweise Unterwassertiere zeigen. Nicht jedes Foto mag mich da besonders im Sinne eines „punctums“ zu berühren, aber wenigstens lächele ich mild, wenn ich ein weiteres Foto eines Clownfischs sehe. Genauso kann ich auch ein Faible für Bilder mit enorm hoher Qualität haben, und sich dieses Faible als wahre Sucht nach gestochen scharfen Bildern entwickeln. Die Smartphone-Fotografie hat sich auf letztere Art des „studiums“ beschränkt, das der generellen Begeisterung von gut belichteten, einfach schönen Fotos anhängt. Diese Faszination folgt einer sich selbst verschlingenden kapitalistischen Logik. Die Nachfrage nach einer immer höheren Qualität von Bildern lässt sich nicht mehr mit den technischen Möglichkeiten einer Handykamera vereinbaren; nur mit Hilfe von künstlicher Intelligenz kann das Gieren nach Realitätsgewinn befriedigt werden, deren Einsatz wiederum zu einem noch größeren Authentizitätsverlust des Handyfotos führt. Solch ein selbstvernichtender Strudel ist ein häufiges Symptom des Kapitalismus.
Motive ohne Vorlage?
Bilder mit hoher Qualität sind faszinierend. Aber zu welchem Preis? Natürlich ist es halbwegs interessant und nicht zum Fürchten, dass ein Computer ein gestochen scharfes Bild generieren kann; die Faszination über diese Technik besitzt jedoch eine geringe Halbwertszeit. Sie wird schnell fad im Angesicht des faszinierenden Wesens von Fotografie. Denn Fotografie bedeutet etwas einzufrieren, was in einem bestimmten, einzigartigen Augenblick existiert. Fotografie ist „Magie“, wie Roland Barthes in scheinbar paradoxem Widerspruch zu seiner Auffassung von der Authentizität der Fotografie formuliert.
Das Gute ist: Diese Entwicklung braucht besonders der Fotoliebhaber nicht zu fürchten. Sobald die Schnappschüsse so kontingent, die Motive derart ungewöhnlich werden, sobald also das Foto kreativ geschossen daherkommt, kann die Künstliche Intelligenz das Bild nicht verändern, weil sie die Motive nicht erkennt. Vielleicht kann der Skandal bei Samsung uns letztlich sogar dem Ideal der Fotografie wieder näherbringen. Zu lange Zeit boten die immergleichen Motive Anreize für immergleiche Fotos, die wiederum den Datensatz fütterten. Aus diesem Hamsterrad gilt es auszubrechen. Von nun an sollten wir uns um den wahren Schnappschuss bemühen, der sich jeder Kodierung und Vereinheitlichung entzieht; die Kontingenz sollte gelebt werden. Kreativität ist hier gefragt; eine menschliche Eigenschaft also, die auch im Angesicht erstaunlichster Techniken nicht an Faszination verliert. •
Kommentare
Ich habe den Versuch an meinem Huawei P40 Pro am Monitor ebenfalls nachvollzogen. Einmal ohne AI und einmal mit AI eingeschaltet. Das Bild wird moderat nachbearbeitet: Kontrast und Helligkeit angepasst, aber es werden keine zusätzlichen Details angezeigt.
immerhin erkennt die App das es sich um den Mond handelt und blendt es im Bild ein.
Übrigens kann man die AI auch bei Samsungs Gerät abschalten. Besser wäre ein Wasserzeichen im von der KI veränderten Bild einzubauen, oder zumindest in den EXIF-Daten.