Barthes und die Sprache der Liebe
Von der ersten Begegnung bis zur Liebeserklärung durchläuft jede Liebesbeziehung sprachliche Figuren, mit denen die Leidenschaft erzählt und hinterfragt wird. Kaum jemand hat diese so luzide analysiert wie Roland Barthes, der am 12. November vor 107 Jahren geboren wurde.
Was für eine seltsame Erfahrung! Eben habe ich zum ersten Mal Le Discours amoureux gelesen, die 2007 veröffentlichten Notizen zu jenem Seminar, das Roland Barthes zwei Jahre lang an der École pratique des hautes études in Paris gehalten hatte, bevor er seine Fragmente einer Sprache der Liebe (1977) schrieb. Die Lektüre hinterlässt bei mir ein Gefühl von Wehmut und Verunsicherung zugleich, eine „beunruhigende Vertrautheit“, wie Barthes Freuds Begriff des Unheimlichen zu übersetzen pflegte. Ich habe dieses Seminar zwischen 1974 und 1976 besucht; ich erkenne jene „Figuren“ wieder, jene Gemeinplätze der Liebe, die ein jeder durchlebt hat. Ich höre seine Worte wieder, ich sehe seine Lieblingsbilder wiederauferstehen, etwa die rührende Szene, wo Werther von Charlotte hingerissen ist, als er sie dabei beobachtet, wie sie Brot aufschneidet und an ihre Geschwister verteilt. Doch meine Erinnerungen von vor 40 Jahren sind verschwommen und geisterhaft.
Ich sehe erneut unser Grüppchen junger Leute im Kreis um unseren Lehrer sitzen, wie wir ihm ergeben zuhörten, fasziniert von seiner nasalen, rauen Stimme, die manchmal von einem Raucherhusten unterbrochen wurde. Barthes ging auf die 60 zu, und wir alle, Jungen wie Mädchen, die wir nur knapp über 20 waren, liebten ihn und waren ineinander verliebt. Wir waren junge Liebestheoretiker. Ihn über die „Sprache der Liebe“ reden zu hören – denn obwohl er sich hinter einer rhetorischen Distanzierung versteckte, sprach er doch von der Liebe –, berührte uns zutiefst und wir verließen das Seminar jedes Mal ergriffen.
Es ist oft gesagt worden, dass das Buch, das aus diesem Seminar hervorging, einen Bruch in seinem Werk darstellte, dass die Fragmente einer Sprache der Liebe die Theorie hinter sich gelassen hatten und ein Bestseller waren (oder dass sie sich verkaufen ließen, weil sie die Theorie beiseite ließen). Wir erinnern uns an Barthes, wie er in der Literatursendung Apostrophes auf der Bühne zwischen Françoise Sagan und Anne Golon, der Autorin der Angélique-Romane (eine Serie von Historienromanen, Anm. d. Red.), saß, was dogmatischere Geister schockierte. Er konnte immer wieder sagen, dass sein Buch von der „Sprache der Liebe“ handelte, nicht von der Liebe selbst, diese subtile Unterscheidung ging an den Fernsehzuschauern vorbei (wie auch wir unter dem Glasdach in der École pratique es ignoriert hatten).
Die Obszönität der Gefühle
Philosophie Magazin +

Testen Sie Philosophie Magazin +
mit einem Digitalabo 4 Wochen kostenlos
oder geben Sie Ihre Abonummer ein
- Zugriff auf alle PhiloMagazin+ Inhalte
- Jederzeit kündbar
- Einfache Registrierung per E-Mail
- Im Printabo inklusive
Hier registrieren
Sie sind bereits Abonnent/in?
Hier anmelden
Sie sind registriert und wollen uns testen?
Probeabo
Kommentare
Die intensive Liebe wird geschätzt und die dauerhafte Liebe wird geschätzt, so lese ich.
Wenn es einen guten Zweck gibt, welchem hauptsächlich gedient wird, kann dauerhafte Liebe nebenbei und intensive Liebe zwischendurch bestehen, so stelle ich mir das vor.
Die Liebenden werden zwischendurch relatives Elend sehen, so ist die Welt, wenn sie hauptsächlich guten Zwecken dienen, werden sie vielleicht ein gutes Gewissen spüren und beide Arten der Liebe als dienlich erhalten.