Ohne Konflikt keine Demokratie
Die Blockaden der „Letzten Generation“ rufen Unverständnis und Ärger, mitunter gar Widerstand hervor. Aber ist Protest nicht Bestandteil einer funktionierenden Demokratie? Eine Betrachtung auf Basis der „Radikalen Demokratietheorie“.
Straßenblockaden im Stadtgebiet und auf Autobahnen, Sprüh- und Klebeaktionen und ein Kartoffelbreiwurf auf ein Monet-Gemälde: So versuchen die Aktivistinnen der 2021 gegründeten „Letzten Generation“ dem Klimawandel vermehrt öffentliche Aufmerksamkeit zu verschaffen und Druck auf die Regierung auszuüben, das 1,5 Grad Ziel des Pariser Klimaabkommens einzuhalten. Die konkreten Forderungen bestehen in einem Tempolimit von 100 km/h auf Autobahnen, einem dauerhaften 9-Euro-Ticket und der Einführung eines Gesellschaftsrates zur Erarbeitung von Maßnahmen für die Reduzierung von fossilen Rohstoffen. Diese Forderungen werden auch von politischer Seite als mögliche Maßnahmen zur Eindämmung des Klimawandels diskutiert ‒ zur Einhaltung des Pariser Klimaabkommens hat sich Deutschland eigens verpflichtet.
Dennoch werden die Aktionen der „Letzten Generation“ scharf kritisiert: Laut Christian Lindner sind sie „brandgefährlich“, Alexander Dobrindt stellte die Aktivistinnen in eine Reihe mit der RAF. Bundesjustizminister Marcus Buschmann bezeichnete die Proteste der vergangenen Wochen in Berlin als „straßenschlachtartige Zustände“, vergleichbar mit den Szenen aus Berlin in den 1920ern und 1930ern und evozierte damit das Bild von den gewalttätigen Straßenkämpfen des „Blutmai“ im Jahr 1929. Verfassungsschutzpräsident Thomas Haldenwang ließ verlauten, der Verfassungsschutz beobachte die „Letzte Generation“ gründlich, wenngleich sie nicht als extremistisch einzustufen sei. Brandenburgs Innenminister Michael Stübgen wollte gar den Verdacht einer kriminellen Vereinigung überprüfen lassen ‒ auch dies ließ sich nicht bestätigen. Die Protestaktionen der „Letzten Generation“ werden auf diese Weise als radikal gekennzeichnet und auf einem antidemokratischen Spektrum verortet.
Radikal in anderer Hinsicht
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Kommentare
Systeme, die selbstorganisierend, also lebend, sind und bleiben wollen, können nicht gesteuert, sondern nur gestört werden. Eine "gesunde" Demokratie muss also von sich heraus nicht nur Störungen zulassen, sondern sollte aktiv an ihrer Eigen-Zer-Störung mitarbeiten können, um (never-)letztendlich über-leben zu können ...
Besten Dank für Euren Artikel !