Direkt zum Inhalt
Menu Top
    loginAnmelden shopping_basketHefte kaufen assignment_addAbonnieren
Navigation principale
  • Startseite
  • Impulse
  • Essays
  • Dossiers
  • Gespräche
  • Hefte
  • Sonderausgaben
  • Philosophen
  • Begriffslexikon
  • Bücher
rechercher
 Philosophie Magazin - Impulse für ein freieres Leben
Menu du compte de l'utilisateur
    loginAnmelden shopping_basketHefte kaufen assignment_addAbonnieren
Navigation principale
  • Startseite
  • Impulse
  • Essays
  • Dossiers
  • Gespräche
  • Hefte
  • Sonderausgaben
  • Philosophen
  • Begriffslexikon
  • Bücher
Tag - Body
Tag - Body

Bild: Pop and Zebra (Unsplash)

Interview

Axel Honneth: „Harte Arbeit wird gar nicht mehr wahrgenommen“

Axel Honneth, im Interview mit Nils Markwardt veröffentlicht am 15 Juni 2021 15 min

In der Demokratie sollen sich Bürgerinnen und Bürger politisch engagieren. Doch was, wenn die tägliche Arbeit das kaum noch zulässt? Der Philosoph Axel Honneth spricht im Interview über einen blinden Fleck der Demokratietheorie, die Notwendigkeit neuer Arbeitsstrukturen und den falschen Gegensatz von Sozial- und Identitätspolitik. 

 

Herr Honneth, Ihre Benjamin Lectures, die vom 16. bis zum 18. Juni in Berlin stattfanden, trugen die Überschrift Der arbeitende Souverän. Sie beschäftigen sich darin mit einem demokratietheoretischen Problem, das einem praktisch überaus relevant erscheint: Einerseits erwartet die liberale Demokratie, dass Bürgerinnen und Bürger sich am politischen Prozess beteiligen und auch dementsprechend gut informiert sind. Andererseits müssen sehr viele Menschen jedoch ein Großteil ihrer Zeit aufbringen, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen oder Reproduktionsarbeit verrichten, sodass für die Teilnahme am politischen Prozess bisweilen wenig Ressourcen bleiben. In der Demokratietheorie wird diese Spannung jedoch kaum thematisiert. Warum?

Das mag zunächst ganz einfache Gründe haben, etwa den, dass Philosophen mit der klassischen Arbeitswelt womöglich gar nicht so oft in Berührung kommen. Zudem sind bestimmte Arbeitssektoren, insbesondere jene, in denen harte körperliche Arbeit verrichtet wird, im öffentlichen Bewusstsein wenig präsent. Es gibt aber auch zwei demokratietheoretisch interne Gründe. Der eine besteht darin, dass der Arbeitsmarkt oft als eine Art Gesetzmäßigkeit verstanden wird, in den einzugreifen eine politische Unmöglichkeit zu sein scheint. Dafür sei er zu komplex und unterliege zu sehr seinen eigenen Gesetzen. Dies spielt auch in den Theorien von Jürgen Habermas und John Rawls eine gewisse Rolle. Aus deren Sicht ist der Arbeitsmarkt ein notwendiges Übel. Ein Übel, weil er einerseits zu enormen Benachteiligungen und sinnloser, repetitiver Arbeit führt. Notwendig, weil man ohne das Spiel von Angebot und Nachfrage viele Arbeiten gar nicht erledigt bekäme. Um beispielsweise die Charité mit gutem Personal auszustatten, muss man mit finanziellen Anreizen operieren. Dadurch erscheint der Arbeitsmarkt wie eine Grauzone, die philosophisch nicht weiter durchdringbar ist. Der zweite Grund: Wir haben uns angewöhnt, Gerechtigkeitsfragen vor allem in Bezug auf den sozialen Gleichheitsgrundsatz zu debattieren. Die Frage lautet also immer: Wie sorgen wir dafür, dass unsere sozialen Verhältnisse diesem Gleichheitsprinzip möglichst nahe kommen? Schaut man nun jedoch auf die Arbeitswelt, scheint es absurd, hier nach Gleichheitsbedingungen zu suchen. Man muss sich selbstverständlich gegen Diskriminierungen aussprechen, das haben auch Rawls und Habermas immer getan, aber wenn es darum geht, wie sich besonders sinnlose oder harte Arbeit besser gestalten lässt, hilft der Gleichheitsgrundsatz nicht mehr weiter. Die Frage lautet dann nämlich nicht: Wie kann ich Arbeitsverhältnisse angleichen? Sondern: Wie kann man die Arbeit, je nach Sektor und Branche, möglichst gut einrichten, so eben, dass sie etwa einer besseren Ermöglichung von demokratischer Teilnahme dient.    

Sie machen die Bedeutung der Arbeitswelt für die demokratische Praxis nun anhand von vier wesentlichen Aspekten stark. Der erste besteht darin, dass im Beruf maßgeblich die Erfahrung von Inklusion und Mitbestimmung eingeübt werden muss. Oder andersherum formuliert: Spüren Menschen im Job keinerlei Geltungskraft ihrer Anliegen und Überzeugungen, ist das auch ein Problem für die Teilnahme am demokratischen Diskurs. 

Blickt man auf die letzten fünfzig Jahre zurück, wurden im Bereich der Sozialisationsbedingungen die Prinzipien der Autonomie und des Mitspracherechts zunächst enorm gestärkt. In der Erziehung wurden Kinder ermächtigt, ihre Meinungen und Überzeugungen kundzutun. Ähnliches sieht man in den Schulen, die längst nicht mehr so autoritär organisiert sind, wie zu meinen Zeiten. Mit dem Eintritt in die Arbeitswelt findet jedoch ein massiver Bruch statt. Es gibt zwar noch Restbereiche in der Industrie, in denen die Mitsprachemöglichkeiten stärker ausgeprägt sind, im Sektor des Dienstleistungsproletariats gibt es diese jedoch praktisch überhaupt nicht. Hier ist die Meinung des Einzelnen nicht gefragt, man hat schlicht zu tun, was einem gesagt wird. Lautet das politische Versprechen, dass man sich als freie Bürgerin und freier Bürger an der Demokratie beteiligen kann und eben auch sollte, bildet der Arbeitsmarkt dazu eine Gegenwelt. Und kaum jemand fragt sich, wie diese beiden Welten eigentlich noch zusammenpassen.

Der zweite Grund, den Sie im Spannungsverhältnis von Arbeit und Demokratie anführen, ist der eingangs bereits angedeutete Aspekt der Zeit. Letztere braucht man, um sich politisch zu informieren und engagieren. Wer viel arbeiten muss, dem fehlt diese Zeit jedoch.

Die normative Erwartung an die politische Berichterstattung besteht darin, die Bürgerinnen und Bürger so zu informieren, dass sie sich eine Meinung bilden können. Die Frage, ob er oder sie dazu in der Lage sind, wird jedoch selten gestellt. Und bei der enormen Verdichtung der Zeitökonomie in bestimmten Arbeitssektoren halte ich es auch fast für ausgeschlossen, dass das möglich ist. Wobei unser nach wie vor ungerechtes Bildungssystem hier natürlich eine ebenso starke Rolle spielt. Auch hier gibt es eine enorme Kluft zwischen der normativen Erwartung, man bilde den demokratischen Souverän aus, und dem, wozu die Menschen dann tatsächlich ermächtigt werden. 

Hat die Informiertheit – im historischen Vergleich – aber wirklich abgenommen? Oder ist es nicht eher so, dass die Themen vielfältiger und die Informationslagen unübersichtlicher geworden sind? Zugespitzt gesagt: In den 1970ern gab es drei Bundestagsparteien und die medialen Debatten bewegten sich meist in nationalstaatlichen Grenzen. Heute ist das politische Spektrum weitaus vielschichtiger, der Diskurs globalisiert. Eine Kontroverse im US-amerikanischen Universitätsmilieu schwappt mittlerweile binnen Tagen in deutsche Feuilletons.  

Es stimmt zweifellos, dass die Unübersichtlichkeit der politischen Fragen zugenommen hat. Heute müsste man eigentlich so viele Themen überblicken, dass dazu kein einzelner Bürger mehr in der Lage ist. Was man aber auch nicht vergessen darf: Solange es eine um die Arbeitswelt gelagerte Kultur und Öffentlichkeit gab – Alexander Kluge und Oskar Negt sprachen in diesem Zusammenhang etwa von der „proletarischen Gegenkultur“ – war die Informiertheit mit Sicherheit höher. Man fühlte sich durch eine bestimmte Bewegung repräsentiert und diese Bewegung sorgte wiederum für eine interne Öffentlichkeit, auch durch eigene Zeitungen, Radiosender und Filme. Diese Form der Kultur ist vollkommen verschwunden, nicht zuletzt, weil die Gewerkschaften, die heute meist nur noch auf Tarifkonflikte konzentriert sind, sie aus eigener Kraft gar nicht mehr herstellen können. Dieser Zusammenhang zwischen dem Wegfall von Gegenöffentlichkeiten und einem entsprechenden Zuwachs an Desinformiertheit und Desinteresse scheint mir schon deutlich. 

Den dritten großen Aspekt, den sie im Zusammenhang von Arbeitswelt und Demokratie stark machen, lautet: Wenn Menschen sich politisch engagieren sollen, braucht es als Voraussetzung dafür Formen der Selbstwirksamkeit und Anerkennung im Beruf. Worauf genau zielen sie dabei ab? 

Zum einen geht es hier um die Wertschätzung bestimmter Tätigkeiten. So erhalten die professionellen Berufe, etwa Ärzte und Anwälte, meist die höchste Wertschätzung, was nicht nur heißt, dass diese Arbeiten als besonders wertvoll gelten, sondern auch, dass die, die sie ausüben, als viel befähigter in Hinblick auf intellektuelle Tätigkeiten, ja selbst aufs moralische Urteilsvermögen angesehen werden. Und je weniger professionalisiert die Berufe sind, je weniger sie in Berufsverbänden organisiert sind, desto mehr nimmt auch die Wertschätzung ab. Zudem gibt es, wie bereits angedeutet, oft auch keine Öffentlichkeit innerhalb der Arbeitswelt mehr, die eine kompensatorische Anerkennung liefern könnte, wie sie sich im klassischen Arbeiterstolz zeigte. Da ich selbst aus dem Ruhrgebiet komme, erinnere ich mich noch sehr gut an die Zeiten, in denen der Bergbau einen Stolz auf die eigene Tätigkeit schuf – und zwar mit guten Gründen. Heute wird harte Arbeit jedoch gar nicht mehr wirklich wahrgenommen. Aufgrund der Pandemie gelang zwar endlich einmal ins öffentliche Bewusstsein, welche harte Arbeit – und zwar unter miserablen Bedingungen – im Pflegebereich geleistet wird, nur ist diese Aufmerksamkeit dann auch wieder schnell verflogen. Denkt man ans Dienstleistungsproletariat oder auch an die Landwirtschaft, so gibt es dort weder Aufmerksamkeit noch Wertschätzung, ja nicht einmal Kenntnis. Uns ist nicht einmal klar, wie dort ein Arbeitstag aussieht. Und je nach sozialer Wertschätzung der eigenen Tätigkeit ändert sich dann eben auch das Gefühl der eigenen Wirkmächtigkeit innerhalb der politischen Öffentlichkeit.   

Der Soziologe Andreas Reckwitz betont in seinen Analysen der Arbeitswelt, dass heute vor allem das „Singuläre“ prämiert wird, also das, was „einen Unterschied macht“. Da es sich bei der Abwertung körperlich-repetitiver Arbeit zugunsten der Aufwertung kreativer Berufe um einen kulturellen Paradigmenwechsel handele, so konstatierte er im Interview mit dem Philosophie Magazin, sei es zwar geboten, hier politisch und symbolisch entgegenzusteuern – gleichwohl sei dieser Wandel aber auch nicht wirklich aufzuhalten. Wie sehen Sie es? 

Ich halte es nicht für unumkehrbar. Gäbe es politische Akteure, die die Öffentlichkeit anstachelten, eine breite gesellschaftliche Debatte über die Maßstäbe der Bewertung von Arbeit zu führen, könnte das zumindest der Beginn eines Umdenkens sein, sodass man sich gesellschaftlich wieder auf jene Arbeiten besinnt, denen wir unsere tägliche Existenz verdanken. Zumal ich mir auch nicht sicher bin, ob die etwas undurchsichtige Wertschätzung des Singulären auf Dauer bestehen wird, da sie oft auch nur in kleinen Bereichen gilt. Wir beide, Menschen aus dem akademischen Bereich oder dem Journalismus, mögen vielleicht besonders originelle, singuläre und kreative Arbeitsformen schätzen, für den Großteil der Bevölkerung gilt das aber nicht unbedingt. In vielen Milieus scheint es mir vielmehr noch eine Art „trotzige“ Hochachtung für die Maloche zu geben. 

Sie sprachen das Ruhrgebiet an, wo im Zuge der ökonomischen Transformation viele klassische Industriejobs verloren gingen. Gleichzeitig sind in anderen Branchen aber auch viele neue entstanden, nicht selten sogar „bessere“, im Sinne von: weniger körperlich zerstörerisch und ähnlich gut bezahlt. Was jedoch nicht neu entstanden ist: Formen der kollektiven Berufsidentität, wie es sie bei den Bergarbeitern gab. Entstehen kollektive Arbeitsidentitäten also womöglich oft nur im Rahmen harter, physischer Ko-Präsenz, bei der man im eminenten Sinne auf den anderen angewiesen ist? 

Interessante Frage, über die ich so noch nicht nachgedacht habe. Zweifellos ist die schleichende Entmaterialisierung, die Umstellung von der Hand aufs Auge, einer der großen Trends innerhalb der Arbeitswelt. Gleichzeitig scheint ein zweiter Trend darin zu bestehen, dass Tätigkeiten immer stärker individualisiert werden. Je mehr die Arbeit durch den Computer vermittelt wird, desto mehr ist man mit dem Gerät zunächst einmal allein und arbeitet separiert von anderen. Und diese beiden Prozesse greifen womöglich ineinander, sodass die Kooperationszusammenhänge immer weniger erfahrbar werden. Wobei ich mir aber gar nicht sicher bin, ob das wirklich so sein müsste. Um ein Beispiel zu geben: Die nächtliche Flugkontrolle ist eine enorm schwierige und für unsere Sicherheit wichtige, jedoch wenig beachtete Arbeit. Die Kolleginnen und Kollegen, die nächtelang an ihrem eigenen Gerät Flugbewegungen kontrollieren, scheinen untereinander dennoch ein großes Gemeinschaftsgefühl zu besitzen. Nur ist uns das wenig bewusst, weil es sich öffentlich wenig artikuliert. Generell artikulieren sich existierende Kooperationsbeziehungen heute ja meist nur noch in den wenigen öffentlichkeitswirksamen Streiks, wie sie vor allem im Bahn- und Luftfahrtsektor stattfinden, da in diesen gesellschaftlich empfindlichen Bereichen die Gewerkschaften noch relativ stark sind. Wobei auch hier die Entwicklung letztlich nicht wirklich klar ist. Die IG-Metall berichtete jüngst auf einer Veranstaltung, dass sehr viele Angestellte mittlerweile das Homeoffice bevorzugen, was wiederum nahelegen könnte, dass die Individualisierung der Arbeit nicht nur durch den objektiven Druck zunimmt, etwa durch die immer individueller werdenden Leistungskontrollen, sondern sich die Tätigen auch selbst einen höheren Grad an Individualisierung wünschen. Das wäre in gewisser Hinsicht deprimierend.

Aber muss man den zunehmenden Wunsch nach Homeoffice nur negativ bewerten? Zum einen kostet der tägliche Weg zur Arbeit viele Menschen ja nicht nur Zeit, sondern in überfüllten Bahnen und Straßen auch Nerven. Zum anderen könnte die Motivation für ein Teil-Homeoffice auch darin bestehen, dass die Präsenzzeiten in puncto Kooperation dafür umso qualitativer werden. Sprich: Man kommt zwar nur noch zweimal die Woche ins Büro, aber in dieser Präsenzzeit nutzt man den Austausch mit Kolleginnen und Kollegen dann eben auch viel bewusster.

Ja, die Argumente verstehe ich. Zumal auch noch weitere Gründe eine Rolle spielen könnten. Man vermag sich die Zeit im Homeoffice leichter selbst einzuteilen, auch weil Reproduktions- und Erwerbsarbeit bisweilen besser zu kombinieren sind. Ein anderer Grund könnte darin liegen, dass die Anfahrt zur Arbeit durch die infrastrukturelle Krise in diesem Land erschwert wird. Und schließlich mögen Arbeitsplätze in Großraumbüros auch so anstrengend, so enervierend sein, weil es kaum mehr Rückzugsräume zum kollegialen Gespräch gibt und die Leistungskontrolle zugenommen hat. Insofern mag es Gründe im Entwicklungsprozess der Arbeit sowie in den infrastrukturellen Bedingungen geben, die für die wachsende Sehnsucht nach dem Homeoffice verantwortlich sind. Dann hinge letztere weniger mit einem Wunsch nach Individualisierung und Separierung zusammen, sondern eher damit, dass die Voraussetzungen für kooperative Erfahrungen vor Ort oft kaum gegeben sind. Sie mögen hier in ihrer Redaktion einen ideellen Arbeitsort haben, aber denken Sie an Großraumbüros, in denen man auf engsten Raum sitzt – da ist man dann froh zu entkommen.

Mit dem Verweis auf die Notwendigkeit kooperativer Erfahrungen haben sie schließlich auch schon den vierten Punkt angesprochen, den sie im Verhältnis von Arbeitswelt und Demokratie stark machen. Demnach ist eine funktionierende Demokratie darauf angewiesen, dass Menschen in ihrem Beruf nicht nur ausschließlich Hierarchie und Konkurrenz erleben.

Man kann sich das deutlich machen, wenn man daran erinnert, dass es in bestimmten Sektoren lange selbstverständlich war, ethische Gemeinsamkeiten des Berufszweigs einzuüben. Die Kumpels hatten ihren eigenen Ehrencodex und es wurde schon deshalb nicht egoistisch gedacht, weil man in diese Kultur hineinwuchs. Das ist völlig ausgefranst. Und auch hier war der untere Dienstleistungssektor, wo überhaupt nichts mehr für die Bildung eines Geists der Kooperation getan wird, der Treiber der Entwicklung. Auch ist die Überzeugung, dass man für das Gemeinwohl tätig ist, wie man sie bei Ärzten oder selbst bei Bankern fand, massiv geschwunden. 

Wobei diese Gemeinwohlorientierung dafür dann auf der PR-Ebene zugenommen hat. Kaum ein Unternehmen, dass sich nicht der vermeintlichen Weltverbesserung rühmt oder den vermeintlichen Teamgeist unter den Mitarbeitern beschwört.

Ja, selbst Amazon schreibt sich so etwas auf die Fahnen – und gleichzeitig wissen wir, wie die Arbeitsbedingungen bei Amazon aussehen. Die Symbolpolitik hat extrem zugenommen, da der Verkauf moralisch garniert und geadelt werden muss. So wie man früher in die Produktwerbung investierte, investiert man heute in die Moralwerbung. Das ist oft schlicht schamlos. 

Wenn Sie sich nun ein Unternehmen vorstellten, dass die von Ihnen aufgebrachten Anforderungen einlöste, also etwa Mitbestimmung, Anerkennung und Inklusion, schauen sie dann eher in die Vergangenheit oder in die Zukunft? Anders gesagt: Ist seit der Hochphase des Korporatismus etwas verloren gegangen oder hat es das, was sie im Sinn haben, so eigentlich auch noch nie gegeben?

Es ist auf jeden Fall etwas verloren gegangen, aber wenn wir in die Zukunft blicken, können wir uns nicht daran orientieren, da die Umbrüche in der Arbeitswelt zu stark sind. Vielmehr muss man nach neuen Modellen Ausschau halten. Ich selbst lege mir jedoch immer ein Bilderverbot auf, habe also keinerlei Vorstellung eines Endziels, auf das wir hinsteuern sollten. Ich bin eher für das, was John Dewey „the end in view“ genannt hat: Es gilt das nächstmögliche Ziel in den Blick zu nehmen. Und da gibt es viel zu tun, auch wenn das noch weit vom Ideal entfernt sein mag. Wir müssen zunächst die schlimmsten Formen der Prekarisierung abschaffen, den Niedriglohnsektor austrocknen, zurückkehren zu viel stärkeren Arbeiterinnen- und Arbeiterrechten, um dann den nächsten Schritt zu planen.       

Welche Rolle könnten in diesem Prozess denn die Gewerkschaften spielen? Man hat heute bisweilen ja schon fast vergessen, was für wichtige politische Akteure diese einmal waren. Sollten diese wieder öffentlich sichtbarer werden?

Die Gewerkschaften müssten in der Tat zunächst intern eine ganz neue Debatte anstoßen, um sich neu zu erfinden und auch eine neue Theorie ihrer selbst zu entwickeln. Denn es ist schon erstaunlich, um noch einmal auf den Anfang des Gesprächs zurückzukommen, dass auch die Gewerkschaften in der Demokratietheorie heute kaum vorkommen. Dabei bilden sie eigentlich ein wesentliches Verbindungsglied zwischen dem Einzelnen und der politischen Sphäre. Dass die Gewerkschaften so wenig öffentlich präsent sind, liegt auch daran, dass sie zu Tariforganisationen verkümmert sind. Eine Debatte darüber, worin eigentlich heute der Auftrag von Gewerkschaften besteht, ist schon lange nicht mehr geführt worden. Da gibt es also sehr viel Denkbedarf.

Wir sprachen über den Konnex von Arbeitswelt und Demokratie. In der öffentlichen Debatte wurde in den letzten Jahren indes oft die Verbindung von Arbeitslosigkeit und Demokratie thematisiert – und zwar nicht selten in sozialchauvinistischer Hinsicht. Sachsens AfD-Chef Jörg Urban dachte 2020 bei einem Vortrag etwa laut darüber nach, Transferempfängern das Wahlrecht zu entziehen. Und auch darüber hinaus gab es in den Debatten oft eine denunziatorische Schlagseite, wonach Langzeitarbeitslose als Menschen firmieren, die von politischen Prozessen völlig entkoppelt sind. 

Das Thema hat zwei Seiten. Die erste ist sehr grundsätzlich. Verstehen wir die Begriffe der Befähigung und Kompetenz zu demokratischen Willensbildungsprozessen ausschließlich empirisch, dann kommen solche Argumente auf. Das geht ja schon in der Schule los: Jemand, der nur einen Grundschulabschluss hat, von dem wird oft angenommen, er sei weniger zur Demokratie befähigt, als der, der das Abitur gemacht hat. Dem widerspricht natürlich jede aus der liberalen Tradition kommende Demokratietheorie ganz grundsätzlich und mit Recht. Denn es ist eine normative Selbstverständlichkeit, dass wir uns als Staatsbürgerinnen und Staatsbürger wechselseitig Autonomie und die Fähigkeit zur Willensbildung zutrauen. Das ist der oberste Grundsatz jeder demokratischen Ordnung – und es wäre ein Grundübel, diesen anzutasten und einzelnen Gruppen die Befähigung zur Teilnahme an der kollektiven Willensbildung abzusprechen. Gleichzeitig dürfen wir uns den empirischen Blick auf die Bedingungen des Erwerbs solcher Fähigkeiten aber auch nicht vollkommen verbieten. Denn wir müssen uns doch als Beobachter fragen, unter welchen Bedingungen bestimmte Kompetenzen und Befähigungen überhaupt eingeübt werden. Dauerarbeitslosigkeit ist eine Zumutung und ein Unrechtszustand, dem man nur durch die Umverteilung von Arbeit beseitigen kann. Die Unterstellung, dass sie von Menschen gewollt sei, ist in fast allen Fällen eine Unverschämtheit. Insofern stehen wir in der Tat vor der Aufgabe, Dauerarbeitslosigkeit abzuschaffen, etwa durch Arbeitszeitverkürzung, das Finden neuer Arbeitsformen oder auch die finanzielle Anerkennung von ehrenamtlichen Tätigkeiten, die bis dato zu wenig Beachtung finden.

Hat Arbeit als solches einen Eigenwert?

Es gibt viele Autoren, die das behaupten würden, aber ich neige dazu, nein zu sagen. Natürlich gibt es viele Arbeiten, die einen bilden oder bei den man etwas herstellt, in dem man sich wiedererkennt. Aber das lässt sich nicht verallgemeinern. Denn der Eigenwert der Arbeit wird oft entweder aus ihrer disziplinierenden Wirkung abgeleitet – das wollen wir zu Recht nicht mehr – oder aus ihrem schöpferischen Charakter, was wiederum nur für bestimmte Bereiche gilt. Ein Großteil der Arbeit, die auch noch in Zukunft zu machen sein wird, wird einen solchen Eigenwert kaum besitzen können. 

Das alte Punk-Theorem, wonach Arbeit grundsätzlich „scheiße“ ist, gilt dann aber auch nicht?

Nein, denn mein Ansatz lautet ja: Arbeit hat einen Wert für etwas anderes. Wenn sie gut organisiert ist, schafft sie sozialen Zusammenhalt und bildet eine zentrale Voraussetzung für unser politisches Gemeinwesen, indem sie die Fähigkeiten zur demokratischen Willensbildung fördert.  
 
Oft wird in der öffentlichen Debatte ja eine Polarität aufgemacht, wonach sich ökonomische und identitätspolitische Themen in einem Widerspruch, mindestens in Konkurrenz befinden. Dabei schiene gerade der von ihnen entwickelte Begriff der Anerkennung nahezulegen, dass dem gar nicht so ist.

Ich habe schon vor einiger Zeit in einer Debatte mit Nancy Fraser versucht klarzumachen, dass dieser Gegensatz viel zu künstlich ist. Dass dieser Gegensatz dennoch erzeugt wird, hat mit Fehlern auf beiden Seiten zu tun. Einerseits wird Identität heute oft in einem sehr engen kulturellen und auch monolithischen Sinne verstanden. So, als ob man jeweils nur eine soziale Identität besäße. Tatsächlich haben wir aber immer viele solche Identitäten, sind Freunde, Berufskollegen, Familienmitglieder, Frauen, Männer oder etwas Drittes mit einer sehr unterschiedlichen, uns mal stärker, mal weniger berührenden Herkunft. Andererseits wird auf der sozialpolitischen Seite die Bedeutung derartiger Identitäten oft eigentümlich heruntergespielt – so, als sei es etwa der alten Arbeiterbewegung nicht immer auch um die Wertschätzung der Arbeitsidentität ihrer Mitglieder gegangen. Nähme man diese Vereinseitigungen und Versteifungen auf beiden Seiten zurück, würde klar, dass zwischen Sozial- und Identitätspolitik kein prinzipieller Gegensatz besteht. Es geht immer um die Anerkennung spezifischer, für die einzelne Person wichtiger Identitäten in einem politischen Gemeinwesen. Ob diese Identität nun aus der Arbeitswelt, der kulturellen Herkunft oder dem Geschlecht geschöpft wird, ist dann letztlich sekundär. •    


Axel Honneth gehört zu den einflussreichsten Philosophen der Gegenwart. Er lehrt derzeit an der Columbia University in New York und leitete von 2001 bis 2018 das Institut für Sozialforschung an der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt am Main. Die vom Social Change Center der Humboldt Universität zu Berlin organisierten Benjamin Lectures, bei denen Axel Honneth zum Thema der „Der arbeitende Souverän“ spricht, finden am 16., 17. und 18. Juni jeweils von 18 – 20 Uhr im Freiluftkino Hasenheide statt.

  • Email
  • Facebook
  • Linkedin
  • Twitter
  • Whatsapp
Anzeige
Tag - Body

Weitere Artikel

Anzeige
Tag - Body
Hier für unseren Newsletter anmelden!

In einer Woche kann eine ganze Menge passieren. Behalten Sie den Überblick und abonnieren Sie unseren Newsletter „Denkanstöße“. Dreimal in der Woche bekommen Sie die wichtigsten Impulse direkt in Ihre Inbox.


(Datenschutzhinweise)

Jetzt anmelden!

Fils d'ariane

  1. Zur Startseite
  2. Artikel
  3. Axel Honneth: „Harte Arbeit wird gar nicht mehr wahrgenommen“
Philosophie Magazin Nr.Nr. 69 - März 2023
Philosophie magazine : les grands philosophes, la préparation au bac philo, la pensée contemporaine
April/Mai 2023 Nr. 69
Vorschau
Philosophie magazine : les grands philosophes, la préparation au bac philo, la pensée contemporaine
Rechtliches
  • Werbung
  • Datenschutzerklärung
  • Impressum
Soziale Netzwerke
  • Facebook
  • Instagram
  • Twitter
  • RSS
Philosophie Magazin
  • Über uns
  • Unsere App
  • PhiloMag+ Hilfe
  • Abonnieren

Mit unseren Denkanstößen philosophische Ideen regelmäßig in Ihrem Postfach

Jetzt anmelden!