ABC des wachen Denkens
In drei Alphabeten geben Markus Gabriel und René Scheu Impulse an die Hand, mit denen sich die Gegenwart besser verstehen lässt. Eines widmet sich dem Denken der Philosophie, das zweite dem Zeitgeist, das dritte dem Alltag. Je ein Auszug.
F
wie Freiheit
Freiheit mit großem F ist das Vermögen, zwischen mehreren alternativen Alternativen zu wählen. Die Doppelung ist entscheidend. Wäre Freiheit identisch mit der einfachen Wahlfreiheit, zum Beispiel zwischen Reichsein (A) oder Gefoltertwerden (B), wäre sie keine Freiheit. Alle => vernünftigen Menschen wählen A. Kommen jedoch alternative Alternativen ins Spiel, zum Beispiel Reichsein (A) oder Gefoltertwerden als Beweis für die Existenz der Freiheit (B), könnten einige B wählen, trotz Folter, wodurch schon manche zu Helden der Freiheit wurden, die es zu bewundern gilt. Freiheit ist ohne ihren Abgrund nicht zu => denken. Ihr Abgrund besteht genau darin, dass die Wahl für eine Alternative und gegen alle anderen Alternativen weder durch die gegebenen alternativen Alternativen noch durch die Freiheit selbst begründet werden kann. Freiheit ist nicht der Grund, sondern der Abgrund, in den wir blicken, wenn wir nicht wissen (=> Wissen), was wir tun (=> Handlung) oder denken (=> Denken) sollen.
J
wie Jakobinismus
Jakobinismus ist die seit der Französischen Revolution benennbare Pathologie des sich als konsequent verstehenden Tugendhandelns (=> Handlung). Dieses Tugendhandeln zeigt sich entweder im Moralismus, der auf den sozialen Tod der Tugendlosen abzielt, oder im Terrorismus, der die Untugendhaften physisch auszulöschen trachtet. Der Tugendterror entsteht dann, wenn der Mensch glaubt, dass alle normativen Konflikte der modernen Gesellschaft durch ethische Reflexion lösbar und insofern bloß Scheinkonflikte sind. Der oberste kategorische Imperativ des Jakobinismus besteht darin, einfach nur das moralisch => Richtige zu tun. Wer immer und überall das moralisch Richtige tut, ist ein heiliger Mensch. Wer sich selbst als guten Menschen begreift, der versucht, heilig zu werden, => glaubt das Richtige zu tun, was immer er auch tut. Doch gibt es Situationen, in denen das Richtige oder moralisch Gebotene durch andere Normen überschrieben wird. Das Gebot, keinen Menschen zu töten, wird außer Kraft gesetzt, sobald man von einem Mitmenschen an Leib und Leben bedroht wird. Ein Jakobiner hat keine Möglichkeit, diesen Konflikt zu lösen oder auch nur zu erkennen. Er glaubt stattdessen, dass ein solcher Konflikt nur in einer verdorbenen, korrupten Welt entstehen kann, die nicht die seine ist. Er revidiert nicht sein Gebot, sondern therapiert die Mitmenschen. Er will die Welt insgesamt so verändern, dass immer das moralisch Gute möglich ist, übersieht aber, dass diese Vorstellung das Tun des moralisch Falschen, d. h. den Jakobinismus erst ermöglicht.
Y
wie Yoga
Was wir heute Yoga nennen, ist eine neue Form des Eurohinduismus. Es ist der Versuch übermäßig verkopfter Menschen in modernen Industrienationen, sich im Allgemeinen des Vorhandenseins des Körpers unterhalb des besonderen Körperteils, des => Hirns, zu versichern. Den => Geist bekommen sie so trotz aller Verrenkungen nicht zu fassen. •
„Sätze über Sätze: ABC des wachen Denkens“ von Markus Gabriel und René Scheu erschien am 18.08.2023 im Verlag Kein & Aber.
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