Karl Lauterbach: „Mir ist es lieber, dass ein Kind eine Zeit lang unter der Situation leidet, als dass die Mutter auf der Intensivstation stirbt“
Am 11. März 2020 erklärte die WHO Covid-19 zur Pandemie. Die ergriffenen Maßnahmen teilten die Gesellschaft in Befürworter und Kritiker, Geimpfte und Nicht-Geimpfte. Im Dienste der Aufarbeitung jener Jahre, die für nachhaltige Spaltungen sorgten, veröffentlichen wir ein aufschlussreiches Streitgespräch zwischen Karl Lauterbach und Markus Gabriel aus dem November 2021 über die Frage, wie viel Eigenverantwortung den Bürgern zuzutrauen sei.
Philosophie Magazin: Herr Lauterbach, Herr Gabriel, brauchen wir eine Haltung der Vorsicht, um durch diese Pandemie hindurchzukommen? Oder gilt es vielmehr, eine Art von Grundvertrauen in Institutionen und Menschen zu reaktivieren?
Markus Gabriel: Ich glaube, dass wir eine Haltung benötigen, die lösungsorientiert ist. Im Zentrum steht dabei die Frage: Wie tragen wir – als Individuum, Kollektiv, Institution – bei zur Bewältigung der Krise? Das ist die Haltung, die wir bräuchten. Stattdessen beobachte ich eine Top-down-Erwartung und auch ein Top-down-Verhalten. Das, was man den Staat nennt, hat aus meiner Sicht zu sehr die Führung übernommen. Und so setzen Bürgerinnen und Bürger zu sehr darauf, dass die Pandemie auf einer staatlichen Verwaltungsebene gelöst wird. Die Haltung, die wir benötigen, besitzt die Grundstruktur der Aufklärung. Und dazu gehört der Werterahmen Freiheit, Gleichheit, Solidarität.
Karl Lauterbach: Ich bedauere, dass ich Ihnen gleich widersprechen muss. Die These, dass man komplett auf den Top-down-Ansatz hätte verzichten können, halte ich für falsch. Ein solcher Umgang mit der Pandemie, der vorsieht, dass der Bürger für sich selbst entscheidet, wäre schlicht nicht zu managen. Ich bin bestürzt zu sehen, dass selbst jetzt, anderthalb Jahre in der Pandemie, sehr viele Menschen sich niemals selbst schützen könnten. Die haben nach wie vor vollkommen falsche Ideen. Die denken zum Beispiel, dass die Impfungen gefährlicher sind als die Erkrankung. Oder dass man sich als Geimpfter nicht anstecken kann. Wir leben leider in einer Zeit, in der viele Menschen in wissenschaftliche Themen nicht gut eingearbeitet sind und darüber hinaus im Netz systematisch falsch informiert werden. Ohne Top-down-Management im Sinne von klaren Regeln zum Schutz der Bevölkerung hätten wir vielleicht 200 000 Todesfälle zu beklagen. Und nicht 100 000.
Gabriel: Die zentrale philosophische Frage lautet doch: Können wir einen Top-down-Approach durch Regierungsmaßnahmen ethisch rechtfertigen? Meines Erachtens reicht es da nicht aus zu sagen: „Wir haben eine begründbar messbare Anzahl von Menschenleben gerettet, nämlich um die 100 000.“ Wir haben hier in Deutschland die Diskussion um die Kollateralschäden der Pandemiebekämpfung noch gar nicht rational geführt.
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Und woran zweifelst du?
Wahrscheinlich geht es Ihnen derzeit ähnlich. Fast täglich muss ich mir aufs Neue eingestehen, wie viel Falsches ich die letzten Jahre für wahr und absolut unumstößlich gehalten habe. Und wie zweifelhaft mir deshalb nun alle Annahmen geworden sind, die auf diesem Fundament aufbauten. Niemand, dessen Urteilskraft ich traute, hat den Brexit ernsthaft für möglich gehalten. Niemand die Wahl Donald Trumps. Und hätte mir ein kundiger Freund vor nur zwei Jahren prophezeit, dass im Frühjahr 2017 der Fortbestand der USA als liberaler Rechtsstaat ebenso ernsthaft infrage steht wie die Zukunft der EU, ich hätte ihn als unheilbaren Apokalyptiker belächelt. Auf die Frage, woran ich derzeit am meisten zweifle, vermag ich deshalb nur eine ehrliche Antwort zu geben: Ich zweifle an mir selbst. Nicht zuletzt frage ich mich, ob die wundersam stabile Weltordnung, in der ich als Westeuropäer meine gesamte bisherige Lebenszeit verbringen durfte, sich nicht nur als kurze Traumepisode erweisen könnte, aus der wir nun alle gemeinsam schmerzhaft erwachen müssen. Es sind Zweifel, die mich tief verunsichern. Nur allzu gern wüsste ich sie durch eindeutige Fakten, klärende Methoden oder auch nur glaubhafte Verheißungen zu befrieden.
Kommentare
Eine Frage an die Redaktion. Können Sie mir bitte schreiben wie das Interview entstanden ist, unter welchen Bedingungen? Denn Herr Lauterbach drückt sich in diesem Gespräch so gut aus wie lange nicht in seinen unendlichen Talk-Auftritten. Hier sind seine Antworten klar und deutlich formuliert, die Qualität des Gespräches hier verhält sich nach meiner Beobachtung diametral zu seinen TV-Auftritten. Werden da im Nachhinein Korrekturen & Verbesserungen in deren Aussagen vorgenommen? Feingeschliffen?