Das Ende der Illusionen
Spätestens die gewaltigen Waldbrände und verheerenden Fluten des vergangenen Jahres haben auch in den wohlhabenden Teilen der Welt ein Bewusstsein für die zerstörerische Kraft des Klimawandels geschaffen. Eindringlich appelliert Naomi Klein: Hören wir auf, so zu tun, als ob irgendjemand der ökologischen Katastrophe entkommen könnte.
Hier glauben viele Leute, sie seien vor dem Klimawandel sicher, erklärte mir der Journalist einer deutschen Tageszeitung. Sie halten ihn nicht für eine unmittelbare Bedrohung wie Covid-19. Sie betrachten die Grünen als Miesmacher, die ihnen die billigen Urlaube wegnehmen wollen. „Was würden Sie denen sagen?“ Die Frage erreichte mich Ende Juni per Videoanruf, als ich in meinem nichtklimatisierten Zuhause saß und mich im Griff einer Hitzewelle befand. Diese forderte in der kanadischen Provinz British Columbia binnen Wochenfrist rund 500 Menschenleben und brachte auf glühend heißen Küstenstreifen etwa eine Milliarde Meerestiere zum Kochen.[1] Im Laufe der Jahre bin ich mit vielen dieser „Warum sollte es mich kümmern?“-Fragen konfrontiert worden, und ich bemühe mich normalerweise um ein moralisches Argument, dass wir eine Verantwortung gegenüber unseren Mitmenschen haben, selbst wenn wir nicht unmittelbar betroffen sind. Aber dafür war ich viel zu erhitzt und wütend, also sagte ich stattdessen: „Warten Sie ein wenig.“ Was ich meinte, war Folgendes: Bei allen politischen Kalkulationen darüber, welche Klimapolitik Menschen akzeptieren werden oder nicht, ist es niemals klug, die Erde als Hauptakteur auszuklammern. Unser Planet drängt sich in diese Kalkulationen und verändert dabei rapide die Ansichten all jener, die sich in Sicherheit wähnten.
Genau das passierte in Deutschland vor der Bundestagswahl im September. Noch im Juni fielen die Grünen in den Umfragen zurück, nachdem sie für einen CO2-Preis, der den geliebten Mallorca-Urlaub gefährden könnte, massiv als Spielverderber angegriffen worden waren.[2] Wenige Wochen später sah die politische Landschaft ganz anders aus. Nach der Flutkatastrophe im Juli, die mindestens 184 Menschen in Deutschland das Leben kostete, viele weitere Menschen verletzte, zentrale Infrastruktur weggespülte.[3] Nun stand der Klimawandel im Mittelpunkt des deutschen Wahlkampfes und die Grünen wurden von linken Klimaschützern teils sogar als zu soft kritisiert.
In Die Entscheidung, meinem Buch von 2014, zitiere ich Sivan Kartha, einen leitenden Wissenschaftler am Stockholm Environment Institute: „Was heute politisch realistisch ist, hat vielleicht nur wenig mit dem zu tun, was nach ein paar weiteren Hurrikanen wie Katrina, ein paar weiteren Superstürmen wie Sandy und ein paar weiteren Taifunen wie Bophas politisch realistisch ist.“[4]
Wir haben inzwischen tatsächlich ein paar weitere dieser Stürme erlebt und dann noch einige mehr. Die Überflutungen im chinesischen Henan im Juli dieses Jahres gelten als die schwersten in tausend Jahren, etwa 200 000 Menschen mussten evakuiert werden.[5] Es werden ziemlich sicher keine weiteren tausend Jahre vergehen, bevor sich eine solche Katastrophe wiederholt. Und dann sind da noch Feuer und Rauch, Sommer um stickige Sommer:[6] Kalifornien, Oregon, British Columbia, Sibirien, Südeuropa. Es kann also nicht verwundern, dass laut einer YouGov-Umfrage für den Economist erstmals seit Beginn der Befragungen im Jahr 2009 die US-Amerikaner den Klimawandel als zweitwichtigstes politisches Problem benennen – übertroffen nur von der Gesundheitsversorgung.[7] Das Klima rangiert dabei noch vor „der Wirtschaft“, während Kriminalität, Waffenkontrolle, Abtreibung und Bildung sämtlich weit zurückgefallen sind.
Solche Ranglisten sind natürlich absurd. Allein dass Menschen glauben, die Stabilität des Erdsystems, das alles Leben trägt, ließe sich von „der Wirtschaft“ oder „Gesundheit“ – oder überhaupt von irgendetwas – trennen, ist ein Symptom der mechanistischen Hybris, die uns diesen Schlamassel beschert hat. Wenn unser Klima kollabiert, bricht auch alles andere zusammen, und das sollte der Ausgangspunkt aller Diskussionen zum Thema sein. Dennoch zeigt die Umfrage, dass sich in der öffentlichen Wahrnehmung ein dramatischer Wandel vollzieht: In den wohlhabenderen Teilen der Welt schwindet die Sicherheitsfantasie, und der Glaube, dass Geld und Technologie im letzten Augenblick Lösungen bieten werden, bekommt erste Risse.
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