„Am Abgrund des Nichtwissens“
Worin gründet sich Kafkas unendlich scheinende Tiefe? Ein Gespräch mit Sonja Dierks und Marcus Steinweg über das Spiel mit dem Realen und Schreiben als Suche.
Frau Dierks, Herr Steinweg, Kafka hat immer wieder Philosophinnen auf den Plan gerufen. Worin sehen Sie das Philosophische in seinem Werk?
Marcus Steinweg: Zum Schönsten seines Werks gehören die Zürauer Aphorismen. Sie sind an Schlichtheit und Tiefe nicht zu übertreffen. Manchmal lassen sie an Ludwig Wittgenstein denken, der mit Kafka die Kierkegaard-Lektüre teilt. Allen dreien geht es um die Standortbestimmung des menschlichen Subjekts. Wie bewegt es sich in der Realität, wie gesichert ist es in ihr? Einer von Kafkas Aphorismen lautet: „Der wahre Weg geht über ein Seil, das nicht in der Höhe gespannt ist, sondern knapp über dem Boden. Es scheint mehr bestimmt stolpern zu machen, als begangen zu werden.“ Womöglich ist das Stolpern die eigentliche Bewegungsform des Menschen. Kafka lehrt uns, dies klaglos anzuerkennen. Das Scheitern ist der Normalfall. Und weil es so ist, ist es schon fast kein Scheitern mehr. Viel von dem, was Kafka schreibt, bewegt sich in der Dimension dieses „fast“. Das bedeutet, dass da immer ein Rest von Hoffnung bleibt, wenn auch nicht für uns, wie er einmal gesagt haben soll. Das Philosophische seines Werks liegt darin, den Menschen an einer Grenze zu situieren, die er nicht überschreiten kann, obwohl es ihn zu dieser Überschreitung reizt. Ähnliches haben Kant und Wittgenstein in erkenntnistheoretischer Absicht getan.
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